Der Ernst der Lage

Vergesst die großen Weltrettungen, denn sie haben sich längst in unendlich wuchernde Baustellen verwandelt, in denen mehr abgerissen als aufgebaut wird. Die wirklichen Herausforderungen Deutschlands liegen woanders. 

Der Ernst der Lage

10. November 2021

Auf der Konferenz der „G20“ in Rom und dann, wenige Tage später, auf der „Klimakonferenz“ in Glasgow wurde immer wieder ein Begriff beschworen: die „neue Weltordnung“ – als wäre dieser Begriff nicht durch zwei Weltkriege und durch zwei Totalitarismen schwer belastet. Als Abkehr von einer pluralistischen Welt moderner Nationen führte er in eine Periode weltgeschichtlicher Tragödien und Verbrechen. Und nun sind wir offenbar, nach einer zeitweiligen Rehabilitation der wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Moderne, wieder zurückgeworfen auf die Suche nach der einen Weltordnung für alle. Aber diesmal trägt dies Programm eher die Züge einer Farce. Einer sehr zerstörerischen Farce, aber doch letztlich einer völlig selbstbezogenen, eitlen Schauveranstaltung. Schon jetzt ist absehbar, dass es nirgendwo eine weltdurchgreifende Kraft gibt, die mit der Ordnung Ernst machen wollte und könnte. Die Darsteller auf der Bühne sind mit großem Aufwand bemüht, diese Wahrheit zu verbergen (auch vor sich selber), doch die große Erzählung von der Weltrettung ist nun schon so oft wiederholt worden, dass sie allmählich abgedroschen klingt. Ein beträchtlicher Teil des Publikums hört gar nicht mehr richtig hin.

Was reden sie da eigentlich?

Auch in Rom und Glasgow wurde wieder die Weltuntergangsglocke geläutet: „Es ist eine Minute vor Zwölf“, hieß es, und mit „Zwölf“ war ein Punkt gemeint, an dem das Weltklima in eine terminale Krise eintreten würde. Aber dann ließ sich nicht verheimlichen, dass von den Ländern, die heute steigende CO2-Emissionen haben, keinerlei Rechtspflicht für begrenzende Maßnahme anerkannt wird – allen voran von China als dem größten Emittenten der Gegenwart. Diese Länder bekennen sich zwar verbal zum 2 Prozent-Ziel oder sogar zum 1,5 Prozent-Ziel, aber das kostet sie nichts, denn sie haben diese Ziele von vornherein unter Vorbehalt gestellt: Sie beharren darauf, dass sie ein Recht auf Entwicklung haben, und so steht es auch in den Pariser Protokollen. China hat schon offen erklärt, dass sich seine CO2-Emissionen in den nächsten Jahren weiter erhöhen werden. Was ist das eigentlich für ein „völkerrechtlicher Vertrag“, der für die einen rechtsverbindliche Ziele vorschreibt und den anderen nur ein Bemüht-Sein aufgibt, das ihnen alle Handlungsmöglichkeiten offenlässt? Es ist ein Knebelvertrag, in dessen Namen in vielen westlichen Ländern nun ganze Industrien demontiert werden und die Tragfähigkeit des gesamten Verkehrs- und Siedlungssystems radikal gesenkt wird. Die globalen Klimaabkommen erinnern in mancher Hinsicht an extreme Reparationsverträge nach großen Kriegen (siehe „Versailles“), mit denen die besiegten Länder ruiniert wurden. Hier nun besiegt und ruiniert sich der Westen selbst. Dabei ist in der Summe schon jetzt klar, dass mit den Abkommen eine weitere Erhöhung der CO2-Emissionen im Weltmaßstab festgeschrieben wurde. Europa und die USA hätten eben eine „Vorbildfunktion“, verkündet Frau von der Leyen, und erklärt die Weltrettung damit zu einem pädagogischen Vorgang – der gar nicht als Veränderung der materiellen Wirklichkeit gemeint ist. Die Weltrettung ist also ein Versteckspiel, eine Maskerade, eine Farce. „Es wird ein langer, schwieriger Prozess“, hört man von der Bundesregierung. Und das alles „eine Minute vor Zwölf“…?!

Ernst und Leichtsinn im 21.Jahrhundert

Wer glaubt eigentlich im Ernst, dass wir – selbst bei Erreichen einer „Neutralität“ bei den CO2-Emissionen – ein anderes Klima mit weniger „Ereignissen“ bekommen? Viel plausibler ist die Annahme, dass wir im gesamten 21. Jahrhundert mit einer Zunahme der CO2 Emissionen (vielleicht etwas gebremst) rechnen müssen. Dahinter steht vor allem eine ganz grundlegende Tatsache: die Zunahme der Weltbevölkerung. Diese Weltbevölkerung ohne ein Massensterben durch dies Jahrhundert zu bringen (und zugleich ihr Wachstum einzuhegen) – das ist die Aufgabe, ohne deren Lösung redlicherweise kein Großexperiment mit der Welt veranstaltet werden kann und darf. Insofern steht hinter der Weigerung von Entwicklungs- und Schwellenländern, einen verbindlichen Beitrag zur CO2-Emissions-Senkung zu leisten, eine sehr reale Notwendigkeit. Aber die Einhegung des Bevölkerungswachstums ist auch eine Bringschuld dieser Länder, die niemand ihnen abnehmen kann. Schon gar nicht durch Öffnung der eigenen Grenzen für einen Massenexodus aus den überbevölkerten Ländern. Aber das Bevölkerungsthema ist das große Tabuthema der Klimaretter. Man kann sie mit Fug und Recht Bevölkerungsleugner nennen.
So zeigt die „Klimakrise“, mit deren Ausrufung die Politik für sich einen ganz neuen globalen Ernst beansprucht, das genaue Gegenteil: Sie zeigt einen fundamentalen Leichtsinn. Es regiert eine wachsende Unfähigkeit und Unwilligkeit, sich praktisch mit den Schwierigkeiten und Widerständen der wirklichen Welt auseinandersetzen. So ist das Politische zu einer Sphäre geworden, in der Anspruch und Wirklichkeit so weit auseinanderklaffen wie nie zuvor in der neuzeitlichen Geschichte. Und es sind nicht allein „Politiker“ im engeren Sinn, die diese sach- und weltferne Blase gebildet haben. Auch das Wirtschaftsleben, die Wissenschaft, das Bildungswesen und das kulturelle Leben wurden in diesem Sinn „politisiert“. Das Doppelspiel zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist zu einem gesellschaftlichen Phänomen geworden. Und Deutschland ist unseligerweise ganz vorne dabei.

Was das deutsche Tabu der Kernenergie verrät

In Deutschland (aus Anlass des Fukushima-Unglücks in Japan) die Stilllegung aller Kernkraftwerke beschlossen. Damit wurde eine Technologie mit einem großen Anlagekapital brachgelegt, die fast ohne CO2-Emissionen eine wind- und sonnenunabhängige Stromgewinnung ermöglicht – und damit eine stabile Grundlast-Versorgung. Wenn also die Dringlichkeit der CO2-Neutralität so groß ist, dann wäre die Kernenergie ebenso dringlich, um die Wechselhaftigkeit der „naturnahen“ Stromgewinnung auszugleichen. Die Entwicklung des deutschen CO2-Ausstoßes zeigt, wie dringend die Kernenergie gebraucht wird, damit nicht in der Grundlast-Versorgung nicht auf fossile Brennstoffe ausgewichen werden muss. Dass trotzdem der Stilllegungsbeschluss nicht revidiert wird, zeigt, dass die Akteure die eigene Erzählung vom Kippen des Weltklimas gar nicht ernst nehmen.
Es gibt nicht einmal einen politischen Streit darüber. Hören wir an dieser Stelle Friedrich Merz (CDU). Er spricht ganz richtig von einer „falschen Reihenfolge“ in der Energiewende, weil man nicht zuerst die emissionsstarken Kohle-Kraftwerke stillgelegt habe, sondern die Kernkraftwerke. Aber tritt er nun für eine Verlängerung der AKW-Laufzeiten ein? Nein, er sagt, es sei in Deutschland nun mal „gesellschaftlicher Konsens“, aus der Kernkraft auszusteigen, und daran wolle er nicht rütteln. Und die Politik insgesamt solle das nicht tun.
Kann man die Krise der Politik in diesem Land deutlicher zum Ausdruck bringen? Da gibt es eine Einsicht in das, was sachlich eigentlich geboten ist. Doch die Politik opfert diese Sache zu Gunsten eines „gesellschaftlichen Konsensus“. Aber ist es nicht die Aufgabe der Politik, im Namen einer Einsicht, die sie aus der Weitsicht für das Land hat, einen als falsch erkannten Konsens aufzubrechen? Ist das nicht ein Grundgebot politischer Redlichkeit? Wozu brauchen wir überhaupt noch Politiker, wenn sie bloß das sagen, was eh schon alle sagen? Und wie tief muss die Politik in Deutschland gesunken sein, wenn selbst jemand, der als Vertreter liberal-konservativer Bürgerlichkeit gilt, auf diese Weise der Gesellschaft den Vorzug vor der Sache gibt?

Keine Rechenschaft über die Lage der Nation

Eine parlamentarische Demokratie ist ohne Vorrang für die Sachprobleme gar nicht denkbar. Nur mit einem Primat der Sache haben die Debatte und die Beschlussfassung in einem Parlament einen grundlegenden Wert für das gesamte Staatswesen. Die offene Erörterung der Sachprobleme und der Alternativen bei der Lösung sind das Schlüsselelement bei der Entscheidungsfindung. Und allein über die Sache können die Bürger sehen, dass bei den Wahlen zum Parlament wirklich etwas auf dem Spiel steht. Dass es nicht nur um eine „Bürgerbeteiligung“ geht – bei etwas, das sowieso schon feststeht. Doch bei den Wahlen des Jahres 2021, die angeblich besonders „schicksalhaft“ sein sollten, ist genau dieser Eindruck erweckt worden. Der Eindruck, dass die wesentlichen Sachfragen schon beantwortet sind – durch die Regierenden (die Exexekutive) und ihre Experten (als Vertreter der wissenschaftlich erwiesenen Wahrheit) und durch die Medien (die schon ein fertiges Meinungsspektrum mit Gut und Böse lieferten, bevor das wählende Volk überhaupt gesprochen hatte). So kamen echte politische Entscheidungsfragen für Deutschland im Wahlkampf gar nicht mehr vor. Insbesondere nicht so, dass die Bürger sie mit ihren Erfahrungen verbinden konnten. Mit den steigenden Kosten der Lebenshaltung; den Unsicherheiten in der Energieversorgung; den Nachwuchssorgen in der Arbeits- und Unternehmenswelt; den Lücken im Bildungs-, Gesundheits- und Pflegesystem; dem zunehmend schwieriger Lebensalltag in Großstädten und in ländlichen Räumen. Auch die Unhaltbarkeit einiger außenpolitischer und außenwirtschaftlicher Positionen Deutschlands kam nicht vor. Das alles wurde im Namen angeblich höherer „Menschheitsfragen“, die eigentlich gar keine Fragen waren, sondern moralische Postulate, weggewischt. So ging es nicht mehr um Entscheidungen, sondern um Appellworte wie „Aufbruch“, „Zukunft“ oder „Haltung“ – ohne Rücksicht auf die Errungenschaften der Vergangenheit, und ohne Rücksicht auf die unmittelbare Gegenwart. Mit einem Wort: Ohne Rücksicht auf die Lage der Nation.

Entscheidungen, deren Folgen erst allmählich spürbar werden

Das Jahr 2021 hätte Anlass geben können, über die Entscheidungen der Vergangenheit Rechenschaft abzulegen – zum einen, weil in Deutschland eine langjährige Kanzlerschaft zu Ende geht, zum anderen aber auch, weil sich in vielen Ländern ganz unabhängig von den regierenden Parteien und Personen zeigt, dass große Entscheidungen der ersten beiden Jahrzehnte dieses Jahrhunderts leichtsinnig waren und die Probleme nur verschoben, statt sie zu lösen. So wurde die Schuldenkrise nie durch neue realwirtschaftliche Produktivität oder durch neue Sparsamkeit gelöst, sondern durch künstliche Geldvermehrung. Die Migrationskrise wurde nicht dadurch gelöst, dass in Deutschland und EU-Europa das Hoheitsrecht auf Zurückweisung an der Grenze wiederherstellt wurde, sondern man vereinbarte „Deals“ mit fremden Mächten oder überließ harte Maßnahme einzelnen Randländern der EU. In der Klimakrise erweist sich das leichtsinnige „Abschalten ohne Ersatz“ durch die deutsche „Energiewende“ nun als schwere Belastung. In der Außenpolitik erweisen sich die weltweiten Missionen, militärisch und humanitär, als unhaltbar (zuletzt Afghanistan), in der Außenwirtschaft erweist sich der „Ausweg China“ als Sackgasse. In der Auseinandersetzung mit der Covid19-Pandemie kann der Ausnahmezustand kein Ende finden, weil man leichtfertig einen „Sieg über das Virus“ in Aussicht stellte, statt einen Normalzustand mit fortbestehendem Restrisiko zu akzeptieren.

Die täuschende Leichtigkeit der Lösungsmittel

Es ist überall das gleiche Schema: Weil man zu sehr an leichte Lösungen glaubte, visierte man zu perfekte, zu konflikt- und schmerzfreie Lösungen an. Und man visierte auch gleich Gesamtlösungen für den ganzen Planeten an. Man kann es noch konkreter sagen: Die leichten Lösungen erschienen deshalb greifbar, weil scheinbar leichte Lösungsmittel zur Verfügung standen. Das ist ganz offensichtlich im Fall der Politik des billigen Geldes durch künstliche Geldvermehrung. Dies Mittel erweckt den Eindruck, man könne sich die Mühen einer Kapitalbildung durch realwirtschaftliche Wertschöpfung ersparen. Chronische Defizite und immense Schulden könnten folgenlos toleriert werden. Und noch ein zweites leichtes Lösungsmittel muss hier genannt werden: Die Digitalisierung und das „World Wide Web“ versprachen eine neue Reichweite der Kommunikation, und zugleich eine neue Autorität und Verbindlichkeit ihrer „Wahrheiten“. Der Glaube an diese beiden leichten Lösungsmittel hat die ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts geprägt. Sie bilden den Grundstoff, aus dem die globalen Projekte, die industriellen „Revolutionen“, das „Nation building“ durch Intervention von außen, der „große Neustart“ der ganzen Weltgeschichte gezimmert wurde. So ist der unglaubliche Leichtsinn und die geradezu irrsinnige Rücksichtslosigkeit gegenüber allen Errungenschaften der Moderne zu begreifen, die diese Jahrzehnte geprägt haben.

Die ersten zwei Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts (I)

Es greift daher viel zu kurz, wenn man nur sagt. In Deutschland geht die Ära Merkel zu Ende, und damit sind nun alle Möglichkeiten für eine Änderung gegeben. In Wirklichkeit ist der Leichtsinn der Anfangsjahrzehnte des 21.Jahrhunderts eine viel allgemeinere Erscheinung, zumindest in westlichen Ländern. Eine Krise des bürgerlichen Sach- und Weltbezugs gibt es in verschieden Varianten – in Frankreich, in Italien, in Spanien und natürlich auch in den USA. Von der langjährigen Kanzlerschaft Merkels lässt sich sagen, dass sie es sehr geschickt verstanden hat, auf der Tastatur des Leichtsinns dieser Jahrzehnte zu spielen und dabei noch den Eindruck von Nüchternheit zu erwecken.

Die ersten zwei Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts (II)

Wenn man sich so die Zeit, in der wir leben, klarmacht, kann man auch von ihr Abstand gewinnen. Ja, es sind Jahrzehnte, aber man muss sich nicht einreden lassen, dass damit schon die Ära der Moderne und der bürgerlichen Welt erledigt ist. Dann würde man ja der wohlfeilen Erzählung von einer „ganz neuen Welt“ folgen und ihr auf den Leim gehen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass diese Jahrzehnte das ganze 21. Jahrhundert bestimmen werden. Es kann durchaus sein, dass dieser Spuk noch ein weiteres Jahrzehnt in Anspruch nehmen wird, aber die leichten Lösungsmittel zeigen schon so schwere Folgekosten. Das gilt für die Politik des billigen Geldes, deren Fortsetzung immer fragwürdiger wird. Und auch bei der Digitalisierung und Weltvernetzung ist eine Ernüchterung feststellbar. In beiden Fällen wird deutlich, dass sie kein Realitätsersatz sein können. Die Zahl der Probleme, die sich weder durch „billiges Geld“ noch durch immer klügere „Logarithmen und Apps“ lösen lassen, wächst. Diese Mittel befriedigen auch immer weniger unseren Hunger nach realem Leben, nach wirklich errungenem Leben. Sie machen nicht satt.

Der Ernst der Lage

Deshalb ist das dünne Süppchen, das jetzt zur Regierungsbildung angerührt wird, einfach uninteressant: das Spielchen zwischen Grünen und FDP; die „Neuaufstellung“ der CDU/CSU, die sich wieder nur um Personalfragen dreht; das Zögern des Herrn Scholz, das so gar nicht zu seinen Kanzler-Plakaten passen will – nirgends ist ein Wille erkennbar, sich mit der Lage und den begrenzten Mitteln unserer Nation zu befassen. Nicht mit dem wirklichen Ernst der Lage, den doch so viele im Lande schon spüren.

(erschienen in meiner Kolumne bei „Tichys Einblick online“ am 14.11.2021)

Gedanken, Anmerkungen, Beobachtungen – Editorial

Mein Monat – Juli/August 2021

4. September 2021

Die Globalisierung hat einen Krieg verloren. Denn der Krieg in Afghanistan war ein Globalisierungskrieg, der das Schicksal des Landes militärisch, politisch, wirtschaftlich und sozial extrem an globale Entscheidungen gebunden hat. Das war kein begrenzter Militärschlag als Antwort auf die Anschläge des 11. September 2001, sondern eine viel umfassendere Mission. Eine Nation sollte von außen aufgebaut werden („nation building“). Hier sieht man die ganze Vermessenheit, die dem Projekt der Globalisierung zugrunde liegt: Es geht nicht einfach darum, dass es weltweite Beziehungen zwischen den Ländern gibt – das gehört zur Normalität von Außenpolitik und Außenwirtschaft. Nein, findet eine fundamentale Verschiebung der tragenden Kräfte und Strukturen statt. Die Entwicklung Afghanistans sollte nicht mehr vom Willen und Bewusstsein des Landes getragen werden, sondern von einem höheren, globalen Willen und Bewusstsein. Doch hat diese Mission, die über 20 Jahre hin mit einem immensen Einsatz von Menschen, Geld und Material durchgeführt wurde, es nicht geschafft, die Entwicklung Afghanistans auf neue, nachhaltige Grundlagen zu stellen. Insbesondere hat sie es nicht geschafft, nachhaltige Verantwortungs-Strukturen im Land zu schaffen und die inneren Kräfte für eine materiell und geistig selbstverantwortliche Nation zu wecken.
Man darf auch bezweifeln, dass die globalisierenden Akteure überhaupt irgendeine Vorstellung von diesem „Innen“ hatten. Dass dies „Innen“ ihnen wirklich wichtig war. Gehen sie nicht insgeheim davon aus, dass die Unterscheidung zwischen Innen und Außen in der heutigen Welt sowieso wertlos geworden ist? Ist „Nation Building“ da nicht nur ein Werbeslogan von Leuten, die Nationen eigentlich für etwas „von gestern“ halten? Die Ahnungslosigkeit über die Entwicklung der Stimmung im Land, die in dem plötzlichen, katastrophalen Ende der Afghanistan-Mission und dem fluchtartigen Rückzug zum Ausdruck kommt, deutet darauf hin. Die Akteure haben die Zeichen „aus dem Inneren“, die sie ja schon längere Zeit vor Augen hatten, nicht ernst genommen. Ihnen waren diese Zeichen für ihr Handeln im Grunde gleichgültig, und sie vertrauten da lieber auf das äußerliche Funktionieren ihrer Interventions-Routine. Doch dann kam der Realitäts-Schock.

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Gedanken, Anmerkungen, Beobachtungen – Editorial

Mein Monat – Mai/Juni 2021

30. Juni 2021

Das Jahr 2021 wird vielleicht einmal als das Jahr erinnert werden, in dem sichtbar wurde, wie sehr Deutschland sich festgefahren hat. Denn wir haben es nicht einfach mit Krisen zu tun, sondern mit einer hoffnungslosen Verstrickung in Krisen. Das große „Retten“ führt sichtlich nicht dazu, dass etwas bereinigt wird, sondern dazu, dass das Land immer tiefer in die Krisen hineingezogen wird. Seine über Jahrzehnte und Jahrhunderte aufgebauten materiellen und geistigen Bestände werden mit rasanter Geschwindigkeit aufgezehrt. Und doch wird diese Politik nach dem Ende der „Ära Merkel“ weitergeführt geführt werden. Es handelt sich eben gar nicht um eine Personalie Merkel. Deutschland (und andere Länder) hat ein Problem mit einer ganzen „politischen Klasse“, und diese umfasst nicht nur Parteipolitiker im engeren Sinne, sondern ganze Branchen und soziale Milieus, die sich als Verwalter in Staat und Wirtschaft, als Wissenschaftler, Künstler und Medienleute zur politischen „Menschenführung“ berufen fühlen.

Diese „politische Klasse“ sieht sich als Hüter der Gesellschaft. Sie fühlt sich berechtigt, allein zu bestimmen, was gut ist für das Land. Sie glaubt sich in der Position zu sein, die Menschen in Wissende und Unwissende, in Gute und Böse zu unterteilen. Damit setzt sie sich im Grunde an die Stelle, die in einem modernen, freiheitlich-republikanischen Land die Verfassung einnimmt. Ja, diese politische Klasse ist Tag für Tag dabei, die eigenen Urteile an die Stelle der Verfassung zu setzen. Sie benutzt das Grundgesetz nur noch als Steinbruch, aus dem sie sich einzelne Bruchstücke holt und für eine Regierungsform benutzt, die sie als „Steuern auf Sicht“ bezeichnet. Das Grundgesetz wird „dekonstruiert“, um es mit einem Modewort dieser Zeit zu sagen. Damit aber wird die Verfassung, die nur durch ihre Gesamtkonstruktion „verfassen“ kann, entmachtet. Auch das gehört zur Erfahrung dieses Jahres 2021, das nicht nur ein Wahljahr ist, sondern auch ein Jahr, in dem die Rettungspolitik zum alternativlosen neuen Grundgesetz dieser Republik erhoben werden soll.  

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Gedanken, Anmerkungen, Beobachtungen – Editorial

Mein Monat – April 2021

2.Mai 2021

Der Unterschied im Umgang mit der Corona-Epidemie zwischen Deutschland auf der einen Seite und verschiedenen europäischen Nachbarländern auf der anderen Seite ist nun unübersehbar. In diesen Ländern sehen wir in diesen Tagen Lockerungen des Lockdowns. In Deutschland wurde hingegen seine Verfestigung beschlossen. Es wurde eine automatische Lockdown-Pflicht eingerichtet, die allein von einer bestimmten Inzidenz-Zahl bestimmt wird. Es wurde also per Gesetz eine Art „Lockdown-Automat“ installiert. Solange dies Gesetz gilt, gibt es in unserem Land gar keine politische Entscheidungsfreiheit mehr, bei der die Schäden durch das Virus mit den Lockdown-Schäden in Wirtschaft, Staat und Kultur abgewogen werden. Die Politik dankt ab, wir geben unsere Souveränität im Umgang mit dem Virus ab. Und die Folgen sind ganz konkret: Andere Länder kehren jetzt schrittweise zu einem normalen Leben zurück, obwohl sie durchaus beträchtliche Infektionszahlen haben. Sie ignorieren nicht die Gefahr durch das Virus, aber sie sagen „trotzdem“ – es gibt jetzt noch Wichtigeres. Deutschland bleibt zurück und muss auch, falls die Zahlen einmal eine Öffnung hergegeben haben, immer damit rechnen, dass der Lockdown-Automat wieder auf „Schließen“ umschaltet. Denn der Automat kennt nicht den Wert fester Grundrechte, die ein langfristig-verlässliches Handeln der Bürger erlauben. Für den Automaten ist so etwas wie eine Verfassung völlig unbegreiflich. Bei den heute in Deutschland Regierenden ist das offenbar auch so.

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