Mit dem Brüsseler „Kompromiss“ zur Rettungspolitik gegenüber Griechenland hat sich die Zusammenarbeit der europäischen Staaten von jeglicher Vertragsgrundlage entfernt. Die Staaten sind nun auf Gedeih und Verderb dem „Immer-Enger-Vereint“ ausgeliefert.

Gefängnis Europa

Vor einer Woche schien es noch so, als gäbe es in der unendlichen Griechenland-Affäre nun doch so etwas wie einen Punkt der Entscheidung, ein Hopp oder Top. Doch nun ist das Gegenteil geschehen. Zwischen Griechenland und den EU-Institutionen wurde eine Übereinkunft getroffen, die weiter als je zuvor von einem greifbaren Ziel und überprüfbaren Schritten entfernt ist. Nicht eine große Krise hat stattgefunden, sondern etwas Schlimmeres: eine unendliche Krise ist nun ganz offiziell für alternativlos erklärt worden. Wir sind gefangen in einem heillosen Weiter-So. Aus dieser Affäre scheint es kein Entrinnen zu geben. Das gilt nicht nur für die Griechen. Die Völker Europas sind nun insgesamt Gefangene eines Zusammenhangs, der jenseits jeder politischen Gestaltungsmacht liegt. Niemand kann die Notbremse ziehen. Das berührt den Charakter des europäischen Projekts. Die nun gefundene „Lösung“ der Griechenland-Krise, die so verwaltungsmäßig routiniert daherkommt, beschädigt das institutionelle Gefüge Europas.

Bisher herrschte in europäischen Dingen die Vorstellung, dass sie auf Verträge gegründet seien. Der Citoyen ging davon aus, dass Zusammenarbeit und gegenseitige Bindung mit Willen und Bewusstsein eingegangen würden und dass so etwas wie ein Tausch stattfand: ein gegenseitiges Geben und Nehmen, messbar in Leistungen und Lieferungen. Auch bei der europäischen Rettungspolitik in der Schuldenkrise ist der Eindruck erweckt worden, es bestünde eine solche Vertragsgrundlage. Von einem Tausch „Hilfszahlungen gegen Reformen“ war die Rede. Den Zahlungen von internationalen Hilfskrediten sollte die Durchsetzung von Reformen in dem jeweiligen Krisenland gegenüberstehen. Wohlgemerkt, nicht nur die „Zusage“ von Reformen, sondern ihre Durchsetzung. An diesem Ausgleich von Leistung und Gegenleistung hing die Legitimität der europäischen Rettungspolitik. Nur wenn beides gegeben war, konnte von einer Erfüllung der Verträge die Rede sein. Und nur, wenn eindeutige Kriterien der Erfüllung vorhanden waren (und Sanktionen bei Nicht-Erfüllung), konnte von wirklichen Verträgen die Rede sein. Die Institutionen der EU haben lange Zeit den Eindruck erweckt, dass dies der Fall ist. Auch die Regierungen der Mitgliedsländer haben in ihren nationalen Parlamenten diesen Eindruck erweckt und so deren Zustimmung eingeholt.

Man kann darüber streiten, ob das zu Beginn der Rettungspolitik wirklich so war. Dieser rückwirkende Streit ist jetzt nicht so wichtig. Auf jeden Fall ist es jetzt unzweifelhaft anders. Von einer Vertragsgrundlage kann nicht mehr die Rede sein. Diese Grundlage wurde durch zwei Vorgänge zerstört. Der erste Vorgang war die einseitige Aufkündigung der Reformvereinbarungen durch die neugewählte griechische Regierung. Es war ein offener Bruch der Vereinbarungen, eine fristlose Kündigung. Es war auch ein tiefer Bruch. Denn es ging nicht um diese oder jene Detailänderung, sondern um den Ausstieg aus einer ganzen Politikrichtung – um die Beendigung der sogenannten „Austeritätspolitik“. Das ist das erklärte Ziel der neuen griechischen Regierung, auf dieser Plattform wurde sie gewählt. Die Regierung proklamierte damit, in Geist und in Buchstaben ihrer Erklärungen, den Ausstieg aus dem ganzen System von Leistung und Gegenleistung, aus jeglicher Vertragspolitik. Sie verlangte weitere Zahlungen auf Basis ihrer bloßen Zugehörigkeit zur EU und zur Euro-Gruppe – als Mitgliedschafts-Renten sozusagen.

Der zweite Vorgang, der den Bruch der Vertragsgrundlage erst besiegelte, war die Einwilligung der europäischen Institutionen in eine Neuverhandlung mit Griechenland. Damit wurde das griechische Vorgehen de facto akzeptiert. Eigentlich wäre es angemessen gewesen, schlicht festzustellen, dass die europäische Staatengemeinschaft ihre Hilfszahlungen fast vollständig geleistet hat und die griechische Seite, wenn sie ihre Reformzusagen nicht erfüllen will und sogar Reformen wieder zurücknehmen will, umgehend die erhaltenen Hilfskredite zurückzahlen muss.

Mit einer solchen Feststellung wäre ein neues Gegenüber der Positionen Griechenlands und der europäischen Institutionen fixiert worden und es hätten dann echte Verhandlungen stattfinden können: Zum Beispiel hätte die EU eine Stundung der Rückzahlung anbieten können, eventuell auch eine kurzfristige Nothilfe – wenn Griechenland im Gegenzug seinen Austritt aus der Eurozone erklärt und damit seine Ansprüche auf Mitgliedschafts-Renten aufgibt. Damit hätte sich ein Fenster geöffnet: Der griechische Souverän hätte sehen können, was er aus eigener Kraft schaffen kann. Er hätte vielleicht einsehen müssen, dass seine Entwicklung von Staat und Wirtschaft eher mit den anderen Balkanstaaten vergleichbar ist als mit Italien oder Spanien/Portugal. Die Europäische Union hätte ihrerseits vielleicht einsehen müssen, dass sie eine besondere Politik für jene Ländergruppe braucht, denen es nicht nur an „Konkurrenzfähigkeit“ mangelt, sondern überhaupt an Grundlagen von Staat und Wirtschaft. Kurzum: Alle Seiten, auch die Griechen, hätten anfangen müssen, den griechischen Verhältnissen wirklich ins Auge zu schauen.

Doch etwas ganz anderes ist geschehen. Europa (Herr Junckers EU-Kommission vorneweg) willigte in Verhandlungen auf einer völlig anderen Basis ein: eine Fortsetzung der Rettungspolitik sollte ermöglicht werden. Sie tat so, als wäre das Prinzip von Leistung und Gegenleistung von der griechischen Regierung gar nicht in Frage gestellt. Als ginge es nur um ein paar kleinere Umbauten der Programme. Man solle der neuen Regierung „eine Chance geben“, hieß es. Damit versuchte Brüssel, die europäische Öffentlichkeit und die Mitgliedsstaaten der EU über den Bruch, der hier geschehen war, zu täuschen. Mitnichten war hier eine irgendwie „offene“ Situation gegeben, die einen „Neuanfang“ ermöglichen würde. Es ging um nichts anderes als das alte Geld, das weiterfließen sollte – nun aber ohne jede konkrete Gegenleistung der griechischen Regierung. Die Tinte auf dem Brüsseler „Kompromisspapier“ war noch nicht trocken, da stellte der griechische Finanzminister schon neue massive Geldforderungen.

Die europäischen Finanzminister aber hatten schon ihr Ja-Wort gegeben und damit jenen scheinbar unwiderstehlichen Prozess in Gang gesetzt, dem sich keine nationale Regierung und kein Parlament entgegenzustellen wagt. So nämlich sind inzwischen die Realitäten: Wenn in Brüssel an einem großen Tisch eine Übereinstimmung erzielt wird, so hat diese Vereinbarung einen höheren Rang als jede Erwägung, die die Europäer in ihren einzelnen Ländern vornehmen – obwohl diese Länder letztlich die Haftung übernehmen müssen. Der europäische runde Tisch ist inzwischen so weit, dass er mit irgendeinem vagen „Papier“ Tatsachen schaffen kann, die keiner mehr zurückholen kann. Dieser Vorgang ist ein Präzedenzfall, er wird auf andere Fälle ausstrahlen. Das Europa der Verträge ist Vergangenheit. Willkommen im Gefängnis des Immer-Enger-Vereint.

 

(erschienen auf der Internet-Plattform „Die Achse des Guten“ am 1.3.2015)