Angesichts der drohenden Fachkräfte-Lücke müssten sich also eigentlich alle Augen auf die Schulen richten. Doch das Bildungssystem stellt sich dumm.

Der Kompetenzschwindel

Auf den ersten Blick ist die Berufswelt in Deutschland so heil wie lange nicht mehr. Es sind mehr Menschen in Arbeit und Brot als je zuvor. Doch die Zukunft dieser heilen Welt ist auch so unsicher wie lange nicht mehr. Eine wachsende Zahl privater und öffentlicher Arbeitgeber findet kein passendes Personal mehr, das Wort von der Fachkräfte-Lücke macht die Runde. Die günstigen Arbeitsmarktzahlen können also ein Übergangsphänomen sein: Eine Nachfrage nach Arbeitskraft stößt zwar „gerade noch“ auf ein Angebot an Arbeitskräften, aber schon jetzt hält dies Angebot nicht mehr, was es verspricht. Viele Arbeitsverhältnisse werden nach kurzer Zeit wieder aufgegeben. Die Berufstätigkeit bekommt immer mehr Versuchscharakter, man probiert es mal. Ein zunehmender  Teil der Schulabgänger bringt nicht mehr die Voraussetzungen mit, um eine Lehre zu machen. 256000 junge Leute mussten 2014 ein „Bildungsprogramm im Übergangsbereich“ absolvieren. Auch bei vielen Schulabgängern, denen ein passables Zeugnis ausgestellt wird, stellt sich in den Betrieben heraus, dass sie nicht fähig oder nicht bereit sind, sich den Vorgaben eines Produktionsablaufs anzupassen. Ausbildungsleiter mit langjähriger Erfahrung berichten, dass es von Jahr zu Jahr schlimmer wird. Dabei geht es nicht nur um ein Unterschichtproblem, wie die hohe Zahl von Studienabbrechern an den Hochschulen zeigt. Auch die wachsende Zahl derer, die sich selbständig machen, sollte nicht zu optimistisch stimmen. Vielfach ist hier nur ein Zauber des Neugründens am Werk, der schnell verfliegt. So deutet sich in der Fachkräfte-Lücke eine tiefere Krise an: Gelingt es nicht mehr, jene Berufskultur, die bisher die Qualität des „Made in Germany“ verbürgte, von Generation zu Generation zu vermitteln?

Gewiss hat jeder Generationswechsel seine Reibungen und Brüche, aber dagegen bildet normalerweise das Bildungswesen ein Gegengewicht. Die Schule kann die Bestände an Wissen und Motivationen, von denen ein Land zehrt, im Übergang von Generation zu Generation sichern. Wofür sonst ist sie eine Hoheitsaufgabe des Staates? Angesichts der drohenden Fachkräfte-Lücke müssten sich also eigentlich alle Augen auf das Bildungswesen richten. Auch die zahlreichen Schulreformen, die hier veranlasst wurden, müssten noch einmal auf den Prüfstand. Doch nichts dergleichen geschieht. Stattdessen werden drei Gruppen als Lückenfüller ins Gespräch gebracht: Frauen, Migranten und ältere Arbeitnehmer sollen die Krise lösen – so als wäre die normale Nachfolgegeneration durch eine geheimnisvolle Krankheit dahingerafft und müsste nun von außen ersetzt werden. Den Bruch am Übergang zwischen Schule und Beruf nimmt die Politik hin, als wäre er ein höheres Schicksal.

Er ist kein Schicksal. Die Schüler, Lehrer und Eltern sind heute nicht schlechter als früher. Geändert haben sich die Schulen, wo massive Eingriffe in bewährte Standards stattgefunden haben. Hier ist eine Bildungswende erfolgt, die nicht so schlagartig erfolgte wie andere Wenden, und die doch ebenso einschneidend war. Die Eingriffe haben inzwischen den Kern des Bildungsauftrags erreicht, die Definition der Bildungsgüter. An die Stelle von angeblich „totem“ Wissen sollte die Vermittlung von sogenannten „Kompetenzen“ treten. Die Schüler sollten keine festen Fachkenntnisse mehr lernen, sondern Verfahren und Umgangsweisen, mit denen angeblich jede Aufgabe gelöst werden könnte – und das ein Leben lang, denn mit ihnen sollte man auch alles zukünftig Neue erfassen können. Eine Art Super-Können wurde in Aussicht gestellt, das überdies durch „schülerzentrierte Sozialformen“ erworben werden könne, ganz ohne Frontalunterricht. Der Schüler sollte der Souverän sein. Mit dem Wörtchen „Kompetenz“ (sein ursprünglicher Wortsinn meint nur die beamtenmäßige „Zuständigkeit“) wurde die Utopie einer höheren Ebene, auf der substantielle Bildungsbestände nicht mehr ausschlaggebend sind, ins Schulwesen eingeführt. Damit begann ein Abrissprogramm, das sich gegen alles richtete, was nun als unnötige Härte erschien: gegen die Zwänge eines bestimmten Stoffes oder Fachgebiets; gegen das mühsame Erarbeiten des Wortschatzes einer Sprache, der Gesetze und Gliederungen der Natur, der geographischen Besonderheiten eines Landes, der Eigenart einer Geschichtsepoche oder eines literarischen Werks; gegen das Üben in Sport, Musik oder Kunst; gegen das Auswendiglernen von Texten, sogar gegen die Beachtung von Grundregeln beim Schreiben und Rechnen; gegen schriftliche Prüfungsarbeiten, Noten , Sitzenbleiben, Jahrgangsklassen, Schulstufen. Die Liste dessen, was inzwischen zur Disposition steht, ist lang. Sie ist ein Enteignungs-Programm: Alles wird entwertet, was auf feste Bestände und Kapazitäten zielt und was damit für die Entwicklung eines inneren Anlagevermögens der jungen Leute eigentlich wichtig wäre.

Es ist klar, dass die Absolventen eines solchen Lernsystems massive Probleme beim Übergang ins Berufsleben bekommen müssen. Denn dort muss man mit festen, fachspezifischen Wissensbeständen arbeiten. Vor allem muss man diese Bestände unmittelbar verfügbar haben. Ohne ein solches inneres Eigentum funktioniert kein Beruf. Ob man nun Maschineneinrichter, Busfahrerin oder niedergelassener Arzt ist – man kann das, was an einem Arbeitsplatz anfällt und in begrenzter Zeit bearbeitet werden muss, nicht mit pauschalen Prozessformeln bewältigen. Ohne ein spezifisches Humankapital gebildet zu haben, kann man auch in keinem Orchester und in keiner Fußballmannschaft mitspielen. Gewiss hat das Lernen an der Schule nicht den Sinn, ein fertiges Berufswissen zu vermitteln. Aber es muss mit dem Aufbau des inneren Eigentums beginnen. Es muss diesen Aufbau üben, auch wenn viele der ersten Schätze später wieder verloren gehen. Wenn die Schule in diesem Sinn nicht mehr baut, sondern nur noch das „Umgehen“ mit allem und jedem vermittelt, enteignet sie die Schüler. Nach dem Schulabschluss wissen sie gar nicht, was sie nun suchen sollen. Die Kompetenzen sagen es ihnen nicht.

Es ist daher falsch, die drohende Fachkräfte-Lücke als Problem der Wirtschaft anzusehen. An dem, was die Berufsanfänger (nicht) mitbringen, kann sie wenig ändern. Die schlechten Erfahrungen, die große Industrieunternehmen ebenso machen wie Handwerkbetriebe und öffentliche Arbeitgeber, verweisen zurück an die Schulen. Es ist ja inzwischen mit Händen zu greifen, dass die fachliche Entkernung des Bildungswesens auf die Berufswelt durchschlägt. Kammern und Wirtschaftsverbände sind normalerweise zurückhaltend bei der Einmischung in andere Verantwortungsbereiche. Aber es führt kein Weg daran vorbei, dass sie sich mit dem beschäftigen müssen, was die Kultusbürokratien in Deutschland austüfteln. Denn die dort betriebene Bildungswende trifft die Wirtschaft nicht weniger als teure Sozialgesetze, erhöhte Energiekosten oder neue Bürokratielasten.

Und die Wende wird gnadenlos weiterverfolgt. In Berlin und Brandenburg will man jetzt – quer durch alle Schultypen – in der fünften und sechsten Jahrgangsstufe aus den Fächern Geschichte, Geographie und Politische Bildung ein Mischfach „Gesellschaftswissenschaften“ machen. Derweil soll in Niedersachsen im Rahmen eines geplanten „modernen Abiturs“ die Möglichkeit eingeführt werden, die schriftliche Abiturprüfung durch eine sogenannte „Präsentationsprüfung“ zu ersetzen. Auf die Nachfrage, was das denn sei, plauderte die Kultusministerin ganz locker, sie denke dabei an die Präsentation eines Themas mit dem Computerprogramm „Powerpoint“…

 

(Erschienen als Essay in der Tageszeitung „Die Welt“ am 26.3.15 unter der Überschrift „Alles so easy hier“; gleichfalls auf der Internetplattform „Die Achse des Guten“ unter der Überschrift „Fachkräftelücke? Das Bildungssystem stellt sich dumm“ und auf der Internetplattform „Tichys Einblick“ unter der Überschrift „Fachkräftelücke? Das rätselhafte Verschwinden der Fachkräfte“)