Mit der Griechenland-Affäre ist deutlich geworden, wie sehr sich die Fundamente des Zusammenlebens in Europa verändert haben. Eine europäische Superstruktur zieht alle Aufgaben an sich, ohne sie lösen zu können. Da ist es kein Wunder, dass sich viele Hoffnungen wieder auf die klassischen Verantwortungsträger der Moderne richten: die territorial begrenzten Republiken.  

Die vergebliche Suche nach Super-Europa und die Wiederkehr der Nationen

In einem sind sich die Kontrahenten im Griechenland-Poker einig: Es geht um große Politik, um das Schicksal eines ganzen Kontinents, mindestens. Herr Tsipras befasst sich nicht mit griechischen Entwicklungsfragen, sondern mit einer neuen „europäische Solidarität“. Die wiederholt ihr Junktim „Wenn der Euro scheitert, scheitert Europa“ und erhöht noch den Einsatz: „Die Welt schaut auf uns“. Es raunt im Blätterwald, dass „die Russen kommen“ und man deshalb „die Süd-Ost-Flanke“ nicht aufgeben dürfe. Das große geopolitische Rad wird gedreht. Die Krisenmanager aller Seiten erwecken den Eindruck, sie säßen an großen Schachzügen, starken Maßnahmen und weltbewegenden Entscheidungen. Jedes Brüsseler Treffen wird als Drama von historischer Bedeutung inszeniert. Und auch die Verschwörungstheoretiker, für die sowieso alles von irgendwelchen Servern in den USA ausgeht, stricken im Grunde an dieser großen Erzählung mit.

Dabei sind die Anliegen eigentlich recht banal, um nicht zu sagen schäbig. Hier regiert ein Europa des Durchwurstelns und der kleinen Vorteilsnahme. Allen voran Herr Tsipras, der mit den Mitteln des gesamteuropäischen Steuerzahlers und der Gelddruckmaschine der EZB die Austeilung von Sonderrenten und Sonderposten ankurbeln will. Es geht um Versorgungsinteressen. Die beteiligten Verwaltungsinstanzen der EU haben ihrerseits ein Interesse an viel Umsatz in Geld und Worten, weil das ihre Wichtigkeit erhöht und sie zur unumgehbaren Passierstation macht. Brüssel hat sofort und unbesehen in Verhandlungen eingewilligt, obwohl es gültige Vereinbarungen gab. Aber indem man die politische Ordnung fester Verträge auflöst, steigert man das Eigengewicht einer Gemeinschafts-Bürokratie, die sich als eigentlicher Vertreter einer europäischen Gesamtsicht oberhalb der kurzsichtig-egoistischen Mitgliedsstaaten installiert. Währenddessen haben sich die Regierungsvertreter der Mitgliedsstaaten, die pro forma noch die höchste Instanz der EU bilden, auf eine Vermeidungspolitik zurückgezogen – Vermeidung jeglicher exponierten Position, die einseitig und konfrontativ wirken könnte. Darauf reduziert sich auch der Horizont der viel gelobten „Weitsicht“ der deutschen Bundeskanzlerin. Eine strategische Festlegung? Fehlanzeige, denn es zählt die taktische Geschicklichkeit. Europäische Verträge? Ersetzt durch den Kitt des Miteinander-Redens. Entscheidungen? Ersetzt durch Kompromisse in alle Richtungen. Weltpolitik? Eine europäische Prioritätensetzung im globalen Maßstab ist nicht erkennbar.

In der sich abzeichnenden „Lösung“ der neuen Griechenland-Krise kommt die ganze Banalität der angeblich großen Politik zum Ausdruck: Mitfinanzierung konsumtiver Mehrausgaben Griechenlands; Akzeptierung von reinen Versprechen als Gegenpart; keine vertragsförmige Regelung (Leistungen, Fristen, Sanktionen, Konkursbedingungen); Betonung des „Gesprächsklimas“ und „guten Willens“; keine Richtungsentscheidung Produktiv-Reformen versus Nachfrageförderung. Zwei- bis dreistellige Milliardenbeträge, die gerade jetzt am anderen Mittelmeerufer (Ägypten, Tunesien) zur Flankierung von Investitionen viel helfen könnten, werden intern für das völlig überzogene Ausgabenniveau eines EU-Clubmitglieds verbrannt.

Ein Wechsel in der Legitimationsform europäischer Politik

Dennoch ist auch etwas an der neuen Beschwörung des „Großen“ dran: Es gibt einen grundlegenden Wechsel in der Konstruktionsweise europäischer Politik. Bisher gab es hier generell – auch bei der Rettungspolitik in der Schuldenkrise – das Grundprinzip eines Tausches von Leistung und Gegenleistung. „Rettung gegen Reform“ war die Kurzformel. Hilfsgelder und Garantien seitens der Gemeinschaftsinstitutionen sollten von den Defizitländern mit einer Korrektur von Fehlaufstellungen und unverhältnismäßigen Ausgaben beantwortet werden. Damit war die Rettungspolitik zumindest dem Anspruch nach vertragsförmig und damit legitimierte sie sich. Genau an diesem Punkt ist jetzt eine Änderung eingetreten. Rettung wird nun ohne Aussicht auf Reform gewährt, auf Leistung folgt nicht mehr Gegenleistung. Man ist bereit, Versprechungen und freundliche Gesten in Zahlung zu nehmen, obwohl man weiß, dass Griechenland das bisherige Sanierungsprogramm abgewählt hat und auch die staatliche Organisation nicht mehr existiert, die weitere Reformmaßnahmen durchführen könnte. Nicht einmal die Steuern können mehr ordentlich erhoben werden. Die bisherige Vertragspolitik hat ihren Vertragspartner verloren. Es gibt keine Gegenseitigkeit mehr, die Fiktion eines gerechten Ausgleichs ist nicht mehr aufrecht zu erhalten. Das ist der Kontinuitätsbruch, den die Griechenland-Affäre des Jahres 2015 markiert.

Eine neue Form der Konstruktion und Legitimierung europäischer Politik hat begonnen: Die Legitimierung durch eine höhere Notwendigkeit. Wo bisher ein Interessenausgleich präsentiert wurde, wird nun durch ein übergeordnetes Gesamtinteresse angeführt. Es ist interessant zu beobachten, wie in den vergangenen Wochen und Monaten in Politik und Medien eine ganze Reihe solcher „höheren Zwänge“ auftauchten:

  • Die Griechenland-Affäre wurde in einen übergeordneten geopolitischen Zusammenhang gestellt. Man fand, dass Griechenlands Position an der Südost-Flanke der EU zu wichtig sei, um eine Krise zu vertragen. Sogleich wurde hier die neue Feindschaft der EU gegenüber Russland als Argument eingebaut – mit der These, Griechenland könne von Russland vereinnahmt werden. Eine neue Balkan-Verschwörung erschien auf einmal möglich. Manche wiesen auch auf die Ordnungsrolle Griechenlands bei den Migrationsströmen aus Nahost hin.

  • Ebenso wurde das schon bekannte Argument, dass ein Staatsbankrott Griechenlands für Europa finanziell nicht tragbar sei, mit neuer Absolutheit vorgetragen. Dies Argument war zwischenzeitig als überholt erklärt worden, solange man vorrangig ein Argument für das Funktionieren der neuen Rettungsmechanismen brauchte. .

  • Mit dem Merkel-Satz „Die Welt schaut auf uns“ wird ein Reputationszwang konstruiert: Wenn die EU ein „so kleines Land wie Griechenland“ nicht über Wasser halten könne, wäre das ein Armutszeugnis vor der Weltöffentlichkeit. Es würde den Einfluss (die „soft power“) des europäischen Modells im Konzert der großen Mächte beschädigen.

  • Europaintern wurde ein „politikdynamischer“ Zwang konstruiert: Das Ausscheiden Griechenlands wäre ein gefährlicher Präzedenzfall, weil der Nimbus des unaufhörlichen Immer-Enger-Vereint angetastet würde. Damit wäre die innere Bindungskraft der EU erschüttert, die von diesem Nimbus lebt – wie ein Fahrradfahrer, der ohne ein „immer vorwärts“ umfällt.

  • Und noch ein letzter höherer Zwang wurde in Spiel gebracht: Selbst wenn alle höheren politischen Inhalte in dieser Angelegenheit nicht überzeugen würden, so gäbe es doch einen parteipolitischen Zwang. Die Stabilität des Parteiensystems in den europäischen Ländern hinge von den sog. „Europaparteien“ ab, die ihre Anhänger über die Vision Europa binden. Würden sie diesen Bindungshebel verlieren, käme das ganze Parteiensystem (die ganze parlamentarische Demokratie) ins Rutschen. Das würde insbesondere für die christdemokratischen Parteien gelten. Man müsse also um jeden Preis diese „Mitte“ (in Deutschland die CDU/CSU) im Spiel halten.

Vor diesem Hintergrund wird die neue Beschwörung des großen Ganzen in ihrer Systematik verständlich. Sie ist nicht nur Rhetorik. Das europäische Projekt ändert sich tatsächlich. Es gibt einen Versuch, Europa als übergeordnete politische Einheit einzusetzen. Insofern kann man von einem Super-Europa sprechen, mit dem versucht wird, den bisherigen Europa-Prozess gleichsam zu überholen.

Zu dieser neuen Konstellation gehört auch eine Veränderung an der europäischen Basis, bei den „Grundeinheiten“. Dafür ist die Rolle, die Griechenland in der Krise spielt und zu spielen eingeladen wird, exemplarisch. Der Charakter und das Emporkommen von Parteien wie Syriza (in Spanien „Podemos“) ist ein Indikator. Man kann diese Parteien als Anti-Verantwortungsparteien bezeichnen – das, was sie rhetorisch als „Souveränität“ bezeichnen, ist nur der Eigensinn von Bedürftigen. Mit den Wende-Wahlen Anfang 2015 ist das griechische Volk de facto aus seiner Rolle als Souverän zurückgetreten und hat sich einer höheren Hand anvertraut. Eine deutliche politische Mehrheit ist einerseits nicht mehr bereit, die schlechte Entwicklung des eigenen Landes zu korrigieren, und beharrt andererseits doch darauf, in der Eurozone und in der EU zu bleiben. Sie spricht von der „Unerträglichkeit der Sparmaßnahmen“ und verlangt zugleich, dass die „europäische Solidarität“ den Fall löst. Sie verhält sich wie eine Region, die von einer Hochwasserkatastrophe getroffen ist und nun die Solidarhaftung des Staates, dem sie angehört, in Anspruch nimmt. In diesem Sinn kann man von einer Provinzialisierung Griechenlands durch die Syriza-Mehrheit sprechen.

Der neue Kurs zeigt seine Tücken

Wer nun allerdings gedacht hatte, dass auf dieser neuen Basis die Affäre leichter zu lösen wäre, sah sich getäuscht. Und zwar sowohl von Athen als auch von Brüssel. Die neue griechische Regierung nahm die neue Betonung des europäischen Ganzen als Zeichen, dass Europa erpressbar war. Statt zu fürchten, dass die EU ihre neue übergreifende Rolle als Pflicht zu entschiedenem Durchgreifen interpretieren würde, kalkuliert man in Athen, dass sie um des lieben Friedens willen mehr durchgehen lassen würde. Kurzum: Dass das neue Super-Europa auf Feigheit gebaut war. So fanden die Vertreter der neuen griechischen Regierung mit erstaunlicher Geschwindigkeit gleich vier Hebelpunkte für Erpressungen:

  • Die Erpressung mit den europäischen Verlusten bei einer Staatspleite

  • Die Erpressung mit „Migrantenströmen“, die man in die anderen Mitgliedsländer weiterleiten würde.

  • Die Erpressung, alle zustimmungspflichtigen EU-Beschlüsse durch eine Vetopolitik zu blockieren

  • Die Erpressung Deutschlands mit Reparationsforderungen aus dem 2. Weltkrieg

Aus alledem sprach nicht eine Katastrophenregion, die um Hilfe bittet, sondern ein abtrünniger Staatsteil, der sich in offener Rebellion gegen die Zentralregierung befindet. Es war bizarr: Ausgerechnet in dem Moment, in dem in Europa die höheren Interessen beschworen werden, kommt es zu Drohungen und einem Freund-Feind-Denken, wie man es seit dem Beginn der europäischen Zusammenarbeit nach dem 2. Weltkrieg nicht mehr gesehen hat. Während die EU sich gerade anschickte, im Namen des Guten noch enger zusammenzurücken, trat ein Ernstfall des Bösen ein. Er stellte Super-Europa auf eine ganz andere Probe, als es erwartet hatte.

Es zeigte sich noch eine zweite Verwundbarkeit. Die neue griechische Regierung spielte geschickt auf dem Register der Kommunikation. Es war ja sattsam bekannt, dass im europäischen Politikbetrieb vieles durch Formelkompromisse und die Dehnbarkeit der Sprache gelöst wurde. Bekannt war auch, dass viele vertragliche Vereinbarungen der bisherigen Rettungspolitik gar nicht in der rechtlichen Sprache von Verträgen (mit eindeutigen Kriterien der Vertragserfüllung, mit Fristen, Sanktionen und Auflösungsklauseln) verfasst waren. Man hatte eher auf die Bindungswirkung des Miteinander-Redens und gemeinsam formulierter Statements vertraut. So beschloss die neue griechische Regierung, die Dehnung der Worte noch weiter zu treiben und ein Deppenspiel um „Listen“ zu führen – ein Hütchenspiel, bei dem am Ende keiner mehr wusste, welches Versprechen wo stand. Ihre europäischen Gesprächspartner, allen voran die Vertreter der EU-Kommission mit Herrn Juncker an der Spitze, haben sich darauf offenbar sehr weitgehend eingelassen. Es wurden Einigungen verkündet, die sich später als völlig vage „Papiere“ herausstellten. Es wurde viel Zeit vertan, ohne belastbare Vereinbarungen zustande zu bringen.

Die Verwundbarkeit, um die es hier geht, ist die Unverbindlichkeit von Kommunikation. Solange Super-Europa auf die Überzeugungswirkung von „großen Erzählungen“ und die verbinde Erfahrung von Gipfeltreffen baut, ist es realpolitisch noch nicht existent. Dazu bedarf es der Präzision rechtsfähiger Begriffe und der Bewährung in echten Konfrontationen draußen vor der Tür. Dass hier eine offene Flanke bestand, zeigte sich schon in der häufigen Beschwörung von (guten) „Stimmungen“. Man ging davon aus, dass für das europäisch-griechische Verhältnis viel gewonnen wäre, wenn man eine gute zwischenmenschliche Stimmung erzielte. Die Syriza-Leute sahen, dass man geneigt war, sie als „junge Wilde“ anzusehen und ihnen vieles durchgehen zu lassen. Also spielten sie das Psychodrama „heute bin ich böse, aber morgen vielleicht wieder gut“. Bis es schließlich nach wochenlangen Verhandlungen schon als Erfolg vermeldet wurde, dass „das Eis gebrochen“ sei – weil irgendwo ein Lächeln zu sehen war.

Die Verwundbarkeit durch Unverbindlichkeit ist ebenso wie die Verwundbarkeit durch Erpressung ein Merkmal jeder größeren staatlichen Einheit. Sie ist naturgemäß besonders hoch, wenn das große Ganze besonders ausgedehnt ist und es viele Transaktionskosten gibt, wenn sich ein übergeordneter Wille durch alle untergeordneten Stufen durchsetzen soll. Hier liegt ein wichtiges Argument für den rechtsförmigen Zusammenhang eines Staatsgebildes. Aber letzten Endes liegt hier, selbst wenn das Kriterium der Gesetzesschärfe erfüllt ist, auch ein Argument für begrenzte territorialstaatliche Einheiten. Wenn Erpressung und Unverbindlichkeit zunehmen, kann das ein Indiz dafür sein, dass ein „großes Ganzes“ überdehnt ist – in diesem Fall: dass die Installierung einer gesamteuropäischen staatlichen Autorität eine Überdehnung darstellt.

Und nicht nur ein Auseinanderbrechen muss man fürchten, sondern auch eine schlechte Einigung. Eine Einigung, die auf Kosten der Realitäten im Lande – also hier der verschiedenen Länder Europas – geschlossen wird. Eine Einigung, die gar nicht die verschiedenen Möglichkeiten der Länder berücksichtigt, und die gar nicht das Spektrum der verschiedenen Verhältnisse, nach denen gelebt, gearbeitet und normiert werden muss, kennt und beachtet. Diese Gefahr ist in Europa ganz konkret in Gestalt der Politik der Europäischen Zentralbank (EZB) gegeben. Ihre geldpolitische Makropolitik, mit Einsatz immenser Summen aus der Geld-Druckmaschine, übergeht ja die konkreten Verhältnisse. Sie behandelt Ungleiches gleich. Ähnliches gilt für den gesamteuropäischen „Investitionsfonds“, der Projekte unterschiedlichster Dimension und Bedeutung zentral (durch die EU-Kommission) beurteilen und finanzieren soll – also de facto eine europäische Investitionsplanung versucht. Man könnte hier auch jüngere Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) anführen, die europaweite Sozialverpflichtungen (Verbraucherschutz, Sozialleistungen, u.a.m.) festlegen, die tief in die Leistungsfähigkeit von Einzelstaaten, Unternehmen und Familien eingreifen. Hier deutet sich eine Plattform an, auf der sich die Machtansprüche von EU-Behörden mit den Ansprüchen rebellierender Staatsteile (wie sie Syriza repräsentiert) verständigen können. Es fällt ja die Bereitwilligkeit auf, mit der die EU-Kommission (Juncker) trotz bestehender Vereinbarungen in neue Verhandlungen eingewilligt hat. Und es fällt auf, dass die Neo-Regierenden in Athen (Tsipras und Varoufakis) die Nähe von Brüssel suchen. Ihr Widerstand gegen die „Austeritätspolitik“ ist kein griechischer, sondern ein globaler Diskurs, der sich auf der gleichen Ebene bewegt wie die Förderphilosophie der Juncker-EU-Kommission, der Draghi-EZB und des EuGH-Kurses. Auch in ihrem Habitus gehören die „griechischen“ Neo-Politiker eher zum juste milieu der europäischen und weltweiten Netzwerke.

So zeigte die Griechenland-Affäre schon zu Beginn des neuen Kurses auf Super-Europa, dass diese Lösung ihre Tücken hat.

Aber es gibt auch eine weiterführende Dialektik

Man kann deshalb den neuen Europa-Kurs mit guten Gründen ablehnen. Aber man kann den Vorgang auch mit einem gewissen Wohlgefallen betrachten, denn hier kann eine untergründige und durchaus weiterführende Dialektik am Werk sehen: Das große Politikrad, das da gedreht wird, kann ihren Protagonisten zum Verhängnis werden. Je mehr das „große Ganze“ zur Legitimation herangezogen wird, desto mehr muss sich Europa als Zentralprojekt exponieren. Es muss sich die Blöße geben und steht damit deutlicher als Ganzes vor den Menschen. Erst jetzt können sie wirklich die Frage stellen: Wozu das Ganze? Damit entsteht eine Bringeschuld von oben. Bisher waren es die Mitgliedsstaaten und die verschiedenen Völker, die in den europäischen Einigungsprozess etwas einbringen mussten.  Nun muss die oberste Einheit „Europa“ zeigen, was sie kann. Sie muss beweisen, dass sie tatsächlich etwas bewegt. Wer im Namen des großen Ganzen Opfer verlangt, wird einen Gegenanspruch auslösen: Super-Europa wird beweisen müssen, dass es tatsächlich mehr erreicht als der Pluralismus der Nationen. Da reichen Glühbirnen-Normen und blaue Fähnchen für saubere Strände nicht mehr aus. Auch nicht vollmundige Erklärungen und Modellprojekte. Dadurch, dass die Legitimation des europäischen Projekts vom „kleinen Ausgleich“ zwischen Geben und Nehmen auf „übergeordnete Zwänge“ umgestellt worden ist, ist es verwundbarer geworden. Der König steht nackt da. Es könnte sich herausstellen, dass er gar nicht das Format für große Entscheidungen hat, sondern nur das Kleinarbeiten von Problemen kann. Vorher gab es diesen Prüfstein gar nicht. Jetzt rückt die Stunde der Wahrheit näher.

Diese Dialektik eines erhöhten Anspruchs, der zur Falle wird, ist in etlichen Entwicklungen der jüngeren europäischen Politik aufzufinden:

  • Die geldpolitische „Ankurbelung“ der Wirtschaft hat die fundamentalen Defizite der Realwirtschaft bisher nicht beheben können. Zugleich ist nicht geklärt, ob und wie man aus den Kurbelprogrammen wieder herauskommt.

  • Da gibt es die neue EU-Kommission, deren Präsident Juncker behauptet, sie sei „politischer“ als alle vorherigen. Ihrer erste politische Handlung war eine Umgehung des europäischen Stabilitätspaktes: Der französischen Regierung wurde eine Verlängerung ihrer Defizitüberschreitung gewährt.

  • Da gibt es die Tatsache, dass die erhöhten Migrationsströme dazu geführt haben, dass die Dublin-Abkommen de facto außer Kraft sind und Migranten ungeprüft von einem Staat zum anderen weitergeleitet werden.

  • Da ist die kaum noch zu verbergende Erfahrung, dass der EU-Versuch, die Ukraine einseitig zu assoziieren, gescheitert ist und die EU zur Partei in einem verheerenden und aussichtslosen Bürgerkrieg geworden ist – an der Seite eines mehr als dubiosen Partners.

Man könnte nun argumentieren, dass Europa noch mutiger vorwärtsgehen müsse und die große Politik noch entschiedener umgesetzt werden müsse. Es kann durchaus sein, dass es so geschieht. Doch der Dialektik des erhöhten Anspruchs, der zur Falle wird, entkommt man damit nicht. Man steigert sie nur. Super-Europa wird sich immer tiefer in eine strategische Falle manövrieren. Es ist ein Szenario denkbar, wo das „mutigere“ Europa ein innerlich immer weiter entleertes Europa wird. Ein Europa, das in dieser Form draußen in der Welt immer weniger gebraucht wird. In den oben aufgezählten Kontraproduktivitäten schlummern zwei harte Widrigkeiten:

  • Erstens im Innern: Es gibt auf der gesamteuropäischen Ebene gar nicht so viele Projekte. Es gibt gar nicht so viel zu tun. In der politischen Geographie des 21. Jahrhunderts werden sinnvolle gesamteuropäische „grand projets“ und Normenvereinheitlichungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eher selten sein (s. der europäische Infrastrukturtopf). Auch in sozialen Fragen (s. Migrationspolitik) ist eine gerechte Lösung eher eine Aushandlungsfrage zwischen Nationen. Sie lässt sich nicht mathematisch-proportional festlegen. Denn die verschiedenen Sozialsysteme, die spezifischen Vorstellungen von Bindung und die jeweils besonderen historischen Integrationserfahrungen können nicht übergangen werden.

  • Zweitens im Äußeren: Die weltpolitische Konstellation hat sich geändert. Das Auftreten der sogenannten „Schwellenländer“ hat einen starken neuen Mittelbau erzeugt, der nicht mehr in der gleichen Weise geführt werden kann und muss, wie es bei den früheren „Entwicklungsländern“ der Fall war. Dabei spielt auch eine Rolle, dass die sogenannten „hochentwickelten“ Länder (insbesondere der alte „Westen“) gar nicht mehr so viele politische, wirtschaftliche und kulturelle Zugewinne verzeichnen. Sein Vorsprung ist geschrumpft. Bei mancher neueren Errungenschaft ist auch fragwürdig, ob sie überhaupt so fortschrittlich ist – oder eher ein Zeichen von postmoderner Ermüdung (siehe Deindustrialisierung oder Leistungsschwächen des Bildungswesens). Der Verlauf der Konflikte an den Brennpunkten der Welt deutet darauf hin, dass die internationale Politik eher auf Kompromisse und das Akzeptieren fremder Einflusssphären zuläuft.

Angesichts dieser beiden Gegenströmungen ist das Vorhaben „Super Europa“ alles andere als ein Selbstläufer. Es hat etwas von einer Geisterfahrt.

Vor einer Renaissance der Nationen?

Die Dialektik, die der Flucht nach vorne ein Bein stellt, geht allerdings nicht so weit, dass sie schon die Lösung liefern könnte. Sie kann Super-Europa auf den Boden der Tatsachen zurückverweisen, aber weiter sollte man die Dialektik nicht treiben. Eher hilft hier ein gewisses Zurückgehen: Man sollte den Scheidepunkt (wieder)finden, von dem aus man diesen Weg einschlagen kann. Einen solchen Scheidepunkt gibt es: Es ist der Punkt, an dem in Europa die Perspektive einer Vertragsgemeinschaft souveräner Nationalstaaten verlorenging. Der Scheidepunkt ist eher eine Scheidungsperiode: Die Schwächung und Verdrängung des Vertragsprinzips verteilte sich über einen längeren Zeitraum. In mancher Hinsicht fehlten schon in den frühen europäischen Verträgen Grundbestandteile, die einen Vertrag im strengen Sinn auszeichnen müssen. Es wäre also eine Renaissance der europäischen Vertragskultur notwendig.

Sie ist nur möglich, wenn die vertragsschließenden Akteure eindeutig definiert und in ihrer Souveränität anerkannt sind. Das sind die Mitgliedsstaaten. Das festzustellen, ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Denn in der staatsrechtlichen Bewertung beharrte die Europäische Union bisher darauf, ein Gebilde besonderer Art zu sein. Sie will weder eine Vertragsgemeinschaft  unabhängiger Staaten noch ein eigener Staat sein – sie beansprucht eine Mittelstellung, eine staatliche Form „sui generis“, einen „dritten Weg“. Es zeigt sich jetzt, dass dieser Zwischenstatus unhaltbar ist. Europa muss sich zwischen den beiden Möglichkeiten – Vertragsgemeinschaft oder Einheitsstaat – eindeutig entscheiden. Vielleicht liegt darin der paradoxe Gewinn des gegenwärtigen Aufbruchs nach Super-Europa: Erst muss die große Kiste gegen die Wand gefahren werden, bevor der Weg für einen Pluralismus der kleineren Kisten frei wird.

Das schreibt sich freilich leichter, als es ist. Wenn man sich für eine Vertragsgemeinschaft entscheidet, bedeutet das eine Wiederkehr der Nationen – sie wären die Herren der Verträge. Und das nicht nur im rechtstechnischen Sinn, sondern auch im Sinne der Verfassung von Staat und Gesellschaft. Es muss sich, unter neuen Bedingungen, wieder eine nationale Souveränität entwickeln. Das bedeutet eine Veränderung von geschichtlichen Ausmaßen. Es ist keineswegs sicher, ob und wie die Nationen die vielfältigen inneren und äußeren Wirkungszusammenhänge meistern können. Die heutige Welt ist komplexer als die Welt in der Periode von 1806 bis 1918, als die verbliebenen alten Reiche sich auflösten und erstmals ein europaweiter Pluralismus der Nationen in Sichtweite geriet. Heute kann es nicht um ein schlichtes Remake der damaligen, bisweilen sehr einfach strukturierten Nationalstaaten mit relativ schwachen äußeren Verflechtungen gehen. Es geht um einen Nationalstaat neuen Typs. Ob das gelingt, ist nicht von vornherein klar. Deshalb wird sich zunächst eine längere Phase der Unsicherheit ergeben. Ohne ein heftiges Hin und Her wird es nicht gehen. Deshalb ist der Begriff „Renaissance der Nationen“ nicht im Sinne jener Werbeslogans zu verstehen, mit denen die zeitgenössische Europapolitik operiert. Man sollte eher an die Vielschichtigkeit und die heftigen Kämpfe in jener Renaissance denken, die wir aus der europäischen Geschichte kennen.

Vielleicht ist es auch besser, einfach von einer „Wiederkehr“ der Nationen zu sprechen und dabei an einen längeren kontroversen Prozess denken, der auch nicht überall in der gleichen Geschwindigkeit verläuft. Man muss damit rechnen, dass die Wiederkehr dieser Akteure von Übertreibungen und Extremismen begleitet sein wird. Man muss auch bedenken, dass der bisherige Prozess des Immer-Enger-Vereint die Mitgliedsstaaten und ihre Gesellschaften daran gewöhnt hat, heikle Fragen nach Brüssel auszulagern und der Verantwortung von Härten aus dem Weg zu gehen. Auch wenn es nicht so weit geht wie im Fall Griechenlands, so ist in vielen Ländern Europas eine mehr oder weniger starke Provinzialisierung festzustellen. Das ist eine Hypothek für die Wiederkehr der Nationen: Sie könnten als Projekt des Rückzugs verstanden werden. Es ist weitgehend verdrängt, dass sie die Akteure einer größeren Freiheit waren und den Weg in die größere Welt der Moderne gebahnt haben. Die Wiederkehr dieses Akteurs macht nur Sinn, wenn die Nationen sich mindestens auf dem Niveau der ersten Epoche der Nationalstaaten engagieren. Das ist nicht selbstverständlich. Nicht jeder, der mit der gegenwärtigen Entwicklung der europäischen Dinge unzufrieden ist, möchte in einem Pluralismus aktiver Nationen mitwirken.

Dennoch ist es hilfreich, dass es bei den Nationen nicht um eine völlige Neuerfindung geht. Eine pluralistische Nationenwelt hat es in Europa bereits mit beträchtlicher Stabilität gegeben. Hier wurden schon leistungsfähige, sichere und friedliche Formen der Regierung und des gesellschaftlichen Lebens entwickelt – und zwar in ethnisch und geographisch durchaus heterogenen Ländern. Eine jeweils besondere Kultur der Innenpolitik und der Außenpolitik mit ihren spezifischen Rechtsformen wurde entwickelt. Man sollte sich auch vergegenwärtigen, dass im größeren Teil der heutigen Welt dieser Pluralismus herrscht. Und dass wir stillschweigend darauf vertrauen, dass diese Form funktioniert. Die heute von manchem Europapolitiker vorgetragene Behauptung, ein Scheitern des Euro würde die Kriegsgefahr in Europa erhöhen, muss in diesen Teilen der Welt, die ohne Währungsunion auskommen, ziemlich merkwürdig klingen.

Mindestens ebenso wichtig wie die politische Wiederkehr der Nationen ist ihre zivilgesellschaftliche Wiederkehr. Allzu häufig wird die Nation mit dem Begriff der Gemeinschaft assoziiert und dadurch gegenüber dem sehr viel offeneren Begriff der Gesellschaft eingeengt. Diese verengte Vorstellung von Nation führt zu Misstrauen und Überheblichkeit gegenüber dem Nationalen. Dabei zeigt die Entwicklung großer Nationen in Europa, z.B. Frankreichs und Englands, dass hier heterogene und selbstbewusste Zivilgesellschaften entstanden, die unser Bild dieser Nationen durchaus prägen. Wäre die nationale Geschichte dieser Länder nur von Staat und Wirtschaft bestimmt worden, wäre sie ziemlich öde und kraftlos. Mit „Zivilgesellschaft“ ist dabei nicht einfach eine schrankenlose und universelle „Öffentlichkeit“ gemeint – zum dem Begriff gehört ein Element von Bindung und Begrenzung. Deshalb gibt es Zivilgesellschaften auch nur im Plural, sie entwickeln sich in Bezug auf bestimmte Länder, Staaten und Märkte, auch wenn ihre Grenzen nicht völlig deckungsgleich mit den Grenzen von Staaten und Märkten sind. Sie enthalten bestimmte kulturelle Elemente, die nur „dieser“ Zivilgesellschaft gehören. Die Bildung solcher Gesellschaften kann überall auf der Welt stattfinden, aber das ergibt dennoch nicht eine einzige kosmopolitische Welt-Veranstaltung. Zivilgesellschaften haben ihre Individualität, sonst würden sie den Vorzug einer besonderen Zugehörigkeit und Bindung nicht bieten können.

Es ist also wichtig zu verstehen und zu akzeptieren, dass die Nationen Formen der Zivilgesellschaft sind. Dass es nicht nur um Staatsnationen geht, sondern auch um Zivilnationen. Dabei ist ein Unterschied wichtig: Die kulturellen Besonderheiten, die die Individualität einer Nation ausmachen, sind „kleine“ und „leichte“ Besonderheiten. Es geht nicht um Überlegenheiten, nicht um ein Stärker und Schwächer oder ein Besser und Schlechter. Auch nicht um Monopole auf bestimmte hohe Kulturleistungen, sei es nun in Musik, in Naturwissenschaft oder im Sport. Eine Zivilgesellschaft kann ihre Geschichte mit einem „Bei uns ist es so geschehen“ erzählen. Sie kann ihre Geographie wie eine Bildbeschreibung präsentieren: „Bei uns liegt das dort“. Und trotzdem ist nicht alles gleichgültig. Es ist wie mit den Häusern einer Straße, die alle ziemlich gleichwertig sind, und wo wir doch nur zu einer Tür „meine Tür“ sagen. Nur so gelingt der Pluralismus der Nationen. Das ist auch deshalb wichtig, weil gegenwärtig – unter dem Einheitszwang von Super-Europa –  wieder kulturelle Großzuschreibungen in Europa um sich greifen („faul“, „fleißig“, „flexibel“, „erstarrt“). Die Idee einer übergreifenden „europäischen Kulturgemeinschaft“ kann solche neuen Kulturkämpfe nicht bannen, weil sie keine gesellschaftlichen Individualitäten bietet. Ein kulturelles Super-Europa ist entweder zu leer oder zu diktatorisch. Aber der Sinn für das zivilgesellschaftliche Eigene einer jeden Nation muss sich erst wieder schärfen. Unsere Fähigkeit, das kleine und leichte „Dies“ einer Nation zu sehen und zum Ausdruck zu bringen, muss – im Ozean der verfügbaren Informationen, diesseits der globalen Werturteile und der summarischen Weltbetrachtung – neu entwickelt werden.

So gibt es eine Reihe von Rekonstruktionsproblemen, deren Lösung nicht „gemacht“ werden kann, sondern geschichtlich entstehen muss. Sie muss sozusagen „geboren“ werden und insofern geht es tatsächlich um eine „Renaissance“.

Womit beginnen? Lob der ungehorsamen Nationen

Die Griechenland-Affäre ist eine Wegmarke. Sie markiert eine Krise des europäischen Immer-Enger-Vereint. Dies ist nicht etwa als Votum für das Syriza-Griechenland zu verstehen. Es ist ja gerade eine immer heillosere Verstrickung der verschiedenen Seiten (einschließlich des Syriza-Griechenland), die stattfindet. Es gibt ein schlechtes Zusammenspiel zwischen immer zwanghafteren „höheren Interessen“ und immer provinzielleren Abhängigkeiten der Völker.

Die Griechenland-Affäre enthält aber auch eine Dialektik, die über dies Zusammenspiel hinausweist. Die Flucht nach vorne („Super-Europa“) und der Wechsel der Legitimationsform wird den Nimbus des europäischen Immer-Enger-Vereint zerstören.

So entsteht eine Konstellation der Wiederkehr des Verdrängten – eine historische Öffnung, in der eine „Renaissance der Nationen“ stattfinden kann. Der Pluralismus der Nationen und eine Vertragsgemeinschaft souveräner Staaten sind eine tragfähige Alternative, eine moderne Alternative, eine liberale Alternative. Aber diese Alternative ist kein Selbstläufer, sondern enthält beträchtliche Mindestanforderungen und Konfliktpotentiale. Sie erfordert auch kulturelle Umorientierungen und zivilgesellschaftliche Neuformierungen. Das ergibt einen längeren Entwicklungsprozess mit offenem Ausgang. Man sollte nicht auf eine einfache und schnelle Wende setzen. Das Forcierte im Denken und Handeln sollte man getrost den Super-Europäern überlassen. Die Bringeschuld ist auf ihrer Seite.

Trotzdem sollte man eine Vorstellung haben, wie eine Wiederkehr der Nationen aussehen könnte. Wie wird sie ihren historischen Weg finden? Wie wird sich die „Renaissance“ anfühlen? Wie wird es beginnen? Eines ist gewiss: Es wird nicht mit einer großen Gründungsversammlung – einem Verfassung-Kongress vielleicht – beginnen, auf dem alle europäischen Nationen sich eine Stelldichein geben und in einem gemeinsamen Akt eines neues Europa beschließen werden. Der Pluralismus der Nationen kann nur pluralistisch entstehen. Es geht ja um ein durchaus hartes Vorhaben, Souveränität ist kein Gut, das gewährt wird oder als Dienstleistung verabreicht wird. Die Übernahme von Pflichten, von Haftung und von Verantwortung setzt eine wirkliche Aktion der „Übernahme“ voraus. Das erfordert ein Handeln auf eigene Faust, also eine einseitige Handlung. Ein Pluralismus der Nationen entsteht – zumindest am Anfang – nur, wenn einzelne Nationen einseitige Schritte wagen und nicht auf die Zustimmung der Anderen warten.

So kann am Beginn einer neuen Vertragsgemeinschaft in Europa nur eine Periode einseitiger Schritte stehen, eine Periode von Suspendierungen der Mitarbeit, der Einstellung von/des Verzichts auf Zahlungen/Leistungen in bestimmten Programmen. Eine Periode von Kündigungen einzelner Verträge und von Austritten aus bestimmten „trügerischen“ Gemeinschaften (Schengen?). Eine Periode des Ignorierens oder des Boykotts von Verordnungen der EU-Kommission (auch: von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs). Eine Periode des Verzögerns, Verschlampens, Hinhaltens, Täuschens – alles Möglichkeiten, um Sand ins Getriebe von Super-Europa zu bringen. Und dazu gehört natürlich auch der diskursive Sand im Getriebe des Europa-Pathos: der Spaß an der Karikatur und dem respektlosen Reden – ein erprobtes Mittel und kostbares Erbe der europäischen Aufklärung.

So wird die Renaissance der Nationen mit hoher Wahrscheinlichkeit durch eine Periode der Trennungen eröffnet werden. Eine Periode, in der eine Kultur des Ungehorsams um sich greift. Vorne werden hier nicht jene Nationen stehen, die immer über ihre Lage klagen, auf die Brüsseler Fleischtöpfe schielen und Neid gegen andere Nationen schüren. Auch nicht jene Nationen, die ängstlich und um jeden Preis sich mit jedermann gutstehen wollen. Die Öffner können nur ungehorsamen Nationen sein – politisch und zivilgesellschaftlich. Nationen, die bereit sind, auch einmal allein zu stehen. Nur wer auch einmal durch die Wüste gehen und Durststrecken überstehen kann, kann sich Souveränität verdienen. Nur auf diesem Weg kann man dann auch zu neuen, pionierhaften Vertragsgemeinschaften kommen, zunächst durchaus mit wenigen Teilnehmern.

Wen könnte man sich in dieser Rolle vorstellen? Griechenland? Natürlich nicht. Deutschland? Zu stark als Mittelmacht eingeklemmt. Frankreich? In der Ehe mit Deutschland zu brav geworden. Die Schweiz? Als Vorbild des Ungehorsams gut, doch als Hebel zu klein. Aber Großbritannien, das wäre nicht nur realpolitisch unbeugsam und als Zivilnation stolz, sondern auch stark und zu eigenen Allianzen fähig. Es könnte zu einem ersten Pol eines neuen pluralistischen Europa werden. Ob es schon so weit ist? Wir schauen mit Interesse und Hoffnung auf die Wahlen und die Volksabstimmung.

(unveröffentlichtes Manuskript)