24.02.2016

Nach dem EU-Gipfel: Merkels Rechnung, die anderen europäischen Staaten für ihre Protektorats-Politik zu instrumentalisieren, geht nicht auf.

Deutsche Ideen, europäische Realitäten 

Seit dem November 2015 stand ein Versprechen im Raum, auf das sich viele Menschen in Deutschland, die die Politik der Grenzöffnung nicht billigten und doch der Bundeskanzlerin die Treue halten wollten, vertraut haben. Frau Merkel hatte zu diesem Zeitpunkt den Eindruck erweckt, sie sei für eine Begrenzung der Migrationszahlen durch das Mittel der Kontingentierung. Allerdings, so Merkel, müssten es auf jeden Fall „europäische Kontingente“ sein. Das hatten viele Menschen akzeptiert, weil auch ein Datum im Raum stand: Die Entscheidung sollte auf einem EU-Gipfel Anfang 2016 gefasst werden. Damit schien endlich ein greifbares Ziel gegeben. Man würde wissen, woran man ist. Merkel sagte auch zu, eine Bilanz ihrer Grenzöffnungspolitik zu ziehen und mancher wollte darin das Vorzeichen einer Korrektur erkennen. Merkel sei eben doch eine pragmatische und lernfähige Politikerin, deren Langsamkeit letztlich ein Zeichen von Führungsstärke sei – und dem Zusammenwachsen Europas besonders dienlich. Unsere weltweise, vorausschauende Kanzlerin!

Doch nun ist alles ganz anders. Der EU-Gipfel vom 18./19. Februar, der vielerorts zur „Stunde der Wahrheit“ erklärt worden war, behandelte das Migrationsthema nur am Rande. Die Frage einer europäischen zahlenmäßigen Begrenzung verschwand gleich ganz von der Tagesordnung. Um diese Frage soll es auch auf dem nächsten Gipfel Anfang März nicht gehen. Sie ist praktisch zum Tabu-Thema geworden. Dabei waren die Vorgaben für die Festlegung einer Zuwanderungszahl (im Voraus für einen bestimmten Zeitraum) da. Zahlreiche europäische Länder hatten eine solche Zahl für das eigene Hoheitsgebiet schon festgelegt, zuletzt Österreich und Frankreich. Frankreich hatte auch schon klargemacht, dass „Kontingent“ nicht heißen kann, dass man die Hunderttausende von Migranten, die die deutsche Politik angelockt hatte, nun europaweit umverteilt. Souveränität existiert nur als Vorgabe und nicht als nachsorgende Problemverwaltung. Eine Verteilungsquote würde keine Grenzen setzen – sie wäre alles andere als eine Deckelung der Zuwanderung.

Um die aber geht es den Menschen in Europa und auch in Deutschland. Die einzige Vorgabe, die für einen europaweiten Begrenzungsbeschluss fehlt, ist der deutsche Beitrag. Doch nun hat sich gezeigt, dass das Versprechen einer europäischen Begrenzung eine Irreführung der Öffentlichkeit war. Merkel hat die Vorgaben der anderen europäischen Länder nicht aufgegriffen, sondern als „Alleingänge“ kritisiert. Gleichzeitig hat sie bekräftigt, dass sie von ihren Entscheidungen zur Öffnung der deutschen Bundesgrenze, mit der Deutschland in Europa tatsächlich allein dasteht, nicht korrigieren will. So deutlich standen sich deutsche Ideen und europäische Realitäten selten gegenüber.

Auf dem EU-Gipfel wurde, mit hilfreicher Assistenz von Junckers Kommission, der politische Einsatz, um den es eigentlich geht, – unter eifriger Beschwörung des „Gemeinsam handeln“ – verwässert. Es gehe um „eine Verbesserung der Kontrolle an den Außengrenzen der EU“ laute nun die Formel. Das ist natürlich etwas ganz Anderes als ein messbares Begrenzungsresultat. Als „Verbesserung“ kann man alles Mögliche verbuchen. Selbst wenn die Zahl der Grenzübertritte noch steigt, weil die Grenzmaßnahmen mit dem Druck nicht Schritt halten, kann man trotzdem sagen, man habe „Fortschritte“ bei der Kontrolle gemacht. Und überhaupt seien die Dinge damit „auf einen guten Weg gebracht“. Das gilt offenbar von nun an als die EU-Formel im Umgang mit der Migrationswelle. Es ist eine sehr „deutsche“ Formel.

In einem Interview, das der Kanzleramtsminister und Flüchtlingskoordinator Altmaier der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gegeben hat (FAZ 24.2.16), gibt es eine bemerkenswerte Passage. Er spricht von einer „Grundsatzdebatte“, die in der EU geführt werde, und sich um Frage drehe: „Sollen wir das Problem gemeinsam lösen, oder soll jeder Staat es für sich versuchen, notfalls auf Kosten der jeweiligen Nachbarn?“ Altmaier fährt dann fort: „Auf dem EU-Gipfel haben wir mit Blick auf den nächsten Gipfel einstimmig beschlossen, den europäischen Weg zu gehen“. Das ist eine grobe Irreführung. Keineswegs hat der EU-Gipfel beschlossen, dass ausschließlich Initiativen legitim seien, die von allen EU-Ländern getragen werden. Das Treffen, das Österreich mit weiteren südosteuropäischen Ländern zum Grenzschutz auf der Balkanroute durchführte, hat gezeigt, dass gezielte Maßnahmen sehr wohl im Kreise der direkt betroffenen Staaten verabredet werden können. Die Alternative „entweder Gesamt-EU oder eine Nation alleine“ ist eine bewusste Verfälschung der tatsächlichen Alternativen. Sind die einzelnen Initiativen von kleineren Ländergruppen etwa uneuropäische Umtriebe?

Auf jeden Fall ist nun klar, dass Frau Merkel der Verweis auf europäische Lösungen nicht dazu diente, den Rahmen für eine Korrektur der deutschen Politik zu bauen. Europa wird von Deutschland nur als nachgeordnete Größe behandelt, die dazu da ist, die immensen Folgelasten der deutschen Politik zu tragen. Die Bundesregierung hätte vielfach Gelegenheit gehabt, den Partnern zu signalisieren, dass sie zu einer Verständigung über eine gemeinsame Obergrenze bereit ist. Sie hat es nicht getan. Im Gegenteil tut die Bundesregierung so, als sei ihr Kurs der eigentliche europäische Kurs. Wie dummdreist ist die Behauptung Merkels, die Forderung nach Kontingenten sei lächerlich, weil die beschlossene Verteilung von 160000 Migranten nicht geklappt habe! Hätte Deutschland nicht eine Million illegaler Migranten in die Mitte Europas geholt und würde es diesen Kurs nicht stur fortsetzen, würden seine Nachbarn – wie bei anderer Gelegenheit durchaus erwiesen – natürlich ihre beschlossene Zahl erfüllen. Wie arrogant müssen solche Sätze in den Ohren anderer Europäer klingen.

Es ist nun deutlich geworden, wie sehr die deutsche Politik durch das Kanzleramt tatsächlich für die Zukunft festgelegt hat. Der Grenzöffnungsbeschluss vom September war kein Schnellschuss, keine spontane humanitäre Geste. Er war Teil einer Strategie. Die Vorstellung, wir hätten eine Kanzlerin, die angesichts der inzwischen sichtbaren Folgen ihrer Entscheidung umzusteuern versucht, ist Wunschdenken. Eine kritische Bilanz? Ein Begrenzungsbeschluss? Alles abgesagt. Das hat zu einer tiefen Entfremdung zwischen Deutschland und den europäischen Partnerländern geführt. Man misstraut Merkel, weil man sieht, dass sie angesichts der Migrationswelle die Realitäten in Europa nicht mehr zur Kenntnis nimmt, und fühlt sich hintergangen.

Und die Deutschen? Vielen Menschen wird erst in diesen Tagen und Wochen allmählich klar, in welche unendliche Zwangsgeschichte sie da versetzt sind. Bisher glaubten doch sehr viele, dass es sich um eine einmalige Entscheidung handelte. Alles könne wieder in die gewohnten Bahnen zurückfinden. Das erweist sich jetzt als Täuschung. Es gibt kein Licht am Ende des Tunnels. Aber viele Irrlichter und Scheinlösungen. Von einem redlichen Verhältnis dieser Kanzlerin zu den Deutschen kann nicht mehr die Rede sein.

 

 

(Erschienen auf der Internet-Plattform „Die Achse des Guten“ am 27.2.2016)