27.05.2016

Wer sagt eigentlich, dass die Europäer mit der Türkei zum Schutz ihrer Grenzen zusammenarbeiten müssen? Die eigenen Möglichkeiten zu einer wehrhaften Grenze wurden ja von vornherein verworfen.

(Der Migrationsmythos, Folge 12) 

In der Dialog-Falle

„Merkels Politik“ lautet die Überschrift eines Leitartikels in der FAZ vom 23.Mai, in dem Jasper von Altenbockum versucht, dem Publikum die neue Wucherung der Migrationskrise zu erklären. „Wie anders als mit der Türkei hätte denn die Flüchtlingskrise bewältigt werden können? Und kann sich Deutschland den Erdogan aussuchen, den es gerne hätte? Die deutsche und europäische Politik hätte es nicht so weit kommen lassen müssen; doch selbst dann und erst recht dann hätte die EU ihre Außengrenzen nicht ohne Zutun der Türkei auf Dauer kontrollieren können.“

Da ist sie wieder, die Theorie der unmöglichen Grenze. Nicht nur Deutschland kann seine Grenze nicht kontrollieren, auch Europa kann es nicht. Wir sind auf das „Zutun“ der Türkei angewiesen, also auf die Einwilligung und Mitarbeit der anderen Seite. Wenn es danach geht, kann ein Staatsvolk überhaupt nicht mehr von „seiner“ Grenze sprechen, über deren Öffnung oder Schließung es von sich aus entscheiden könnte. Grenzen wären demnach eine Art Handelsgut. Eine Grenzmaßnahme funktioniert nur, wenn beide Seiten der Grenze in diese Maßnahme einwilligen. Was ich an der Grenze meines Landes tue, ist zustimmungspflichtig – es braucht die Zustimmung des Nachbarn. Damit wird dem Nachbarn praktisch ein Vetorecht eingeräumt. Und deshalb ist das, was jetzt im Verhältnis EU-Türkei geschieht, die Konsequenz. Wir müssen uns die Türkei mit Gegenleistungen gewogen halten. Wenn wir die Grenzüberschreitung durch Migranten von türkischem Staatsgebiet verhindern wollen, müssen wir das mit einer Gegenleistung an die Türkei erkaufen: mit der Eröffnung der visafreien Einreisemöglichkeit nach Europa für 80 Millionen Türken.

Die gegenseitige Anerkennung und Achtung der Grenzen zwischen benachbarten Staaten ist damit als völkerrechtliche Ausgangssituation abgeschafft. Die neue Ausgangssituation ist ein allgemeines Grenzüberschreitungsrecht. Einschränkungen in bestimmten Fällen müssen durch Öffnungen in anderen Fällen erkauft werden. Das ist in der Tat „Merkels Politik“. Es ist die Politikdoktrin, die im deutschen Kanzleramt und offenbar auch in Brüssel herrscht.

Die jüngsten Merkel-Äußerungen besagen nichts anderes. Sie erklären die Grenzen Deutschlands zum Handelsgut. Sie tun das im Easy-Jargon des globalen Governance-Sprech, der die Bürger daran gewöhnen soll, dass es nichts Wichtiges auf dieser Welt gibt, das nicht auf „Konferenzen“ und in „Gesprächen“ geregelt wird – also irgendwie gruppendynamisch im Club der Global Player ausgemacht wird. Und dass es nur hier geregelt werden kann. Hören wir uns mal so einen Merkel-Satz an: „Es gibt natürlich wechselseitige Abhängigkeiten, Sie können es auch einfach die Notwendigkeit zum Interessenausgleich nennen“ (Interview mit Merkel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, 22.5.2016). Merkels Trick besteht hier darin, dass sie die „Abhängigkeiten“ nicht näher qualifiziert. Geht es um Essentials der beteiligten Länder oder um Dinge minderer Bedeutung? Gehen also die Abhängigkeiten so weit, dass die amtierende Kanzlerin Essentials unseres Landes zur Disposition stellt? Und wenn sie das ablehnt, muss sie dann nicht auf die Fähigkeit unseres Landes, seine Grenzen selbst zu bestimmen, zurückkommen? Aber hat sie nicht gerade diese Fähigkeit für Deutschland bestritten? Faktisch erstrecken sich die Merkel-Abhängigkeiten längst auf Essentials der Bundesrepublik, wie die immer tieferen Verwicklungen bei der Schuldenkrise und der Migrationskrise zeigen. Doch das lässt sich im Easy-Jargon alles kommunikativ wegzuwischen. Noch ein Merkel-Satz aus dem gleichen Interview: „Meine Rolle und die Rolle der Politik insgesamt ist es, Unterschiede festzustellen und Gemeinsamkeiten auszuloten“.

Im Hintergrund dieses seichten Club-Gelabers aber steht, nie deutlich ausgesprochen aber doch wirksam gegen jedes eigenständige Handeln, die Behauptung „Deutschland kann nicht“ oder „Europa kann nicht“. Wie wird diese Unfähigkeit eigentlich begründet? Was wird an technischen, polizeilichen, militärischen Argumenten vorgelegt? Nichts. Der Leitartikler der FAZ glaubt, die Behauptung, es ginge nicht ohne die Türkei, einfach in den Raum stellen zu können. Die Aussage ist dabei bewusst vage und von leichter Hand formuliert: nicht „ohne Zutun“ der Türkei. Ist sich Jasper von Altenbockum überhaupt klar, was er da schreibt? Kann man sich eine internationale Ordnung als vernünftige Normalität vorstellen, in der eine fremde Macht einfach Migranten über die Grenze zum Nachbarland schicken kann, und in der dies Nachbarland dies nicht postwendend als Aggression beantworten darf? Sondern stattdessen die fremde Macht mit einem Deal umstimmen muss? Wenn das normal und vernünftig sein soll, dann wäre die internationale Ordnung mit einem Schlag auf gewaltsame Übergriffe gebaut – und auf das Recht des Stärkeren.

In diesen Tagen ist in der Presse immer wieder die Formulierung zu finden, dass Erdogan sich „seiner Trümpfe bewusst“ ist. Diese Trümpfe sind letztlich nichts anderes als massive, völkerrechtswidrige Drohungen mit einer Massenschleusung von Migranten auf europäisches Territorium. Was ist das für ein Spiel, in dem Europa das als „Trümpfe“ akzeptieren soll?

Hier liegt tatsächlich eine Wahrheit. Die Abhängigkeit Europas von Erdogan liegt nicht an praktisch-sachlichen Problemen von Grenzschließungen gegen wilde Migration (die Schließung der mazedonischen Grenze beweist das), sondern an einer grundlegenden Umstellung dessen, was man unter Politik versteht. Politik in der Merkelschen Version ist eine soziale Veranstaltung von Politikern. Sie ist Zusammentreffen, Kommunikation, Aushandlung, Vereinbarung. Aber im Raum steht nur Subjektives. Im Club der Global Players verwandeln sich Staaten in Interessen, die von Teilnehmern geäußert werden, die an nichts gebunden sind. Sie kennen keine Essentials, sondern nur das Ziel, dass das Spiel immer irgendwie weitergeht. Deshalb sind territoriale Grenzen für sie ebenso uninteressant wie Grenzen der Staatsverschuldung. Solche Grenzen sind nicht der Sache nach unmöglich, sondern sie kommen in der Scheinwelt der „Politics“ gar nicht vor.

In der Migrationskrise wird immer deutlicher, wohin diese Politik führt. Zunächst wurde der Eindruck erweckt, man wolle die Migrationskrise „europäisch“ bewältigen. Das sollte eine besonders kraftvolle Kontrolle der europäischen Außengrenze bedeuten. Dann hat es geheißen, der Deal mit der Türkei sei die günstigere, kooperativere Variante dieser Grenzkontrolle. Jetzt aber zeigt sich, dass dieser Deal nur Europas Tore weiter öffnet – für eine fremde Macht öffnet, die von hegemonialen Ansprüchen und Bürgerkriegstendenzen bestimmt ist. Und jetzt heißt es auf einmal: Europa kann gar nicht anders. Es ist in der Migrationsfrage auf Gedeih und Verderb der Türkei ausgeliefert. Will die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die doch einmal so stark mit der Staatsräson der Bundesrepublik verbunden war, wirklich auch diesen neuen Schritt auf der schiefen Bahn wohlwollend begleiten?

 

(erschienen auf der Internet-Plattform „Die Achse des Guten“ am 27.5.16)