Aus dem Archiv: Ein Beitrag über den kolonialen Schuldkomplex in Europa in der FAZ vom 3.4.2001 

Die gute Kolonie

Seit dem Herbst letzten Jahres hat es in Frankreich eine Serie antisemitischer Anschläge gegeben. In der Nacht zum 12. Oktober wurden in einer Synagoge in La-Seyne-sur-Mer bei Toulon und in einem Gemeindezentrum in Colombes im Westen von Paris Brände gelegt, die gerade noch rechtzeitig gelöscht werden konnten. Zuvor war ein jüdisches Gemeindehaus in Trappes vollständig zerstört worden. Es gab noch ein halbes Dutzend weiterer Aktionen und Ausschreitungen, vor allem in der Pariser Region, aber auch in Straßburg und Lyon. Slogans wie „Vengeance Palestine, mort aux juifs“ (Rache für Palästina, Tod den Juden) oder „A Paris comme à Gaza, Intifada“ (In Paris wie in Gaza, Intifada) waren an den Wänden zu lesen. Nach einer Kundgebung in Paris im Oktober, in der unverhohlen zum Mord an Juden und zur Zerstörung ihrer Einrichtungen aufgerufen worden war, hatten sich der jüdische Großrabbiner, der Rektor der Moschee von Paris, der Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz und der Präsident der Föderation der französischen Protestanten in einer gemeinsamen Erklärung gegen die Welle der Intoleranz und Barbarei gewandt. Die französische Regierung sah sich zu einer scharfen Verurteilung der Anschläge veranlasst und kündigte ein hartes Durchgreifen an.

Auch in Deutschland gab es Anschläge auf jüdische Einrichtungen. Ein Ziel war, Anfang Oktober, die Synagoge in Düsseldorf und kurz darauf, aus einer Demonstration, heraus, die Synagoge in Essen. Vor dem Hintergrund der französischen Ereignisse wird deutlich, dass es sich hier nicht um isolierte Einzelfälle handelt, sondern um Teile einer Serie. Die Anschläge sind Ausdruck eines ideologischen Gedankenkomplexes, der exemplarisch am Staat Israel ausgetragen wird, der sich gegen Juden insgesamt wendet und der nicht nur eine arabisch-palästinensische, sondern auch eine europäische Seite hat. Dabei handelt es sich nicht etwa um ein weiteres Glied in der Kette der „Gewalt von rechts“, wie zunächst vorschnell und mit erstaunlich sicherer Einseitigkeit vermutet worden war, sondern um eine originär linke Ideologie und Politiktradition. In ihrem Kern enthält sie den Vorwurf des Kolonialismus und ein tiefsitzendes Vorurteil gegen Staaten, die kolonial geboren sind und dazu auch stehen.

Die Politik des Ursprungs führt in die Gewalt

Bei der antiisraelischen Anschlagsserie waren arabische Täter und europäische Sympathisanten am Werk. Eine der Spuren führt in die Dritte-Welt-Solidaritäts-gruppen, und es hilft nichts, wenn aus diesen Gruppen auch Einspruch gegen die Angriffe auf Synagogen erhoben wird – wie in Essen geschehen. Die Serie ist da, und sie ist durch nachträgliche Bedenken gegen Auswüchse nicht aus der Welt zu schaffen. Es geht um die Wurzel des antikolonialen Radikalismus, und diese reicht in die sechziger Jahre zurück. Es geht aber auch darum, dass die europäische Außenpolitik in diesem exemplarischen israelisch-arabischen Konflikt eine prinzipiengeleitete und nicht nur eine interessengeleitete Position definiert.

Es ist durchaus angemessen, die Anschlagsserie „antisemitisch“ zu nennen. Die Aktionen zielen auf die Existenzformen des jüdischen Volkes. Sie zielen auf den Staat und auf die zivilen Einrichtungen, die ihnen eine realitätstüchtige, öffentliche Form geben. Die Anschläge sollen elementare Versammlungsräume der Menschen jüdischen Glaubens zerstören. Und wie der Staat Israel, so sind auch Synagogen und Gemeindehäuser Gründungsorte. Gebrochen werden sollen die Kraft und Motivation zum „Neuanfang“ im Sinne der Philosophin Hannah Arendt, die „Handeln“ und „etwas Neues anfangen“ gleichsetzte und damit ein politisches Denken des Neugründens schuf. Sie trat einem Politikverständnis entgegen, das die Identität eines Volkes und die Legitimität eines Staates in den unvordenklichen Tiefen einer mythischen Vorgeschichte, eines Bodens oder einer ethnischen Kontinuität sucht.

Im Grunde rechtfertigte Arendt mit diesem Ansatz, insbesondere in ihrem Buch „Vita activa“, die Koloniebildung. Diese ist zu messen an der „Vortrefflichkeit“ ihrer Taten, und diese Taten müssen „weltbezogen“ sein. Sie müssen sich an den Herausforderungen der irdischen Gegebenheiten messen. Dies schließt Wettstreit um das bessere tun ein, nicht jedoch ein Streben nach absoluter Dominanz. Eine politische Philosophie des ständigen Neuanfangs braucht als wesentliches Fundament die Pluralität der Gründungsräume. Die „gute Kolonie“ gibt es daher immer nur in der Mehrzahl. Das bedeutet auch, dass es keine Erbhöfe im Sinne einer ursprünglichen Verbindung von Volk und Boden gibt, die ein für alle Mal vorgegeben ist und die aus diesem Ursprung schon die Legitimität eines Vaterlandes liefert. Man kann es auch normativ wenden: Israel ist an seinen Taten als gute Kolonie zu messen und nicht an einem Mythos jahrtausendealter Ursprünge. Ja, das plurale Nebeneinander zweier kolonialer Projekte gäbe jedem von ihnen eine zusätzliche Würde und einen noch größeren Reiz.

Doch scheinen die Palästinenser in ihrer Auseinandersetzung mit Israel wie auch diejenigen, die in Europa für die Interessen der Palästinenser eintreten, sich von dieser Perspektive immer weiter abzuwenden. In den letzten Monaten haben sich rückwärtsgewandte Fragen in den Vordergrund geschoben. Ansprüche werden als Erbansprüche erhoben. Nicht die Frage, ob die Gestalt und Ausstattung eines zukünftigen palästinensischen Staates die Mindestvoraussetzungen erfüllen, um an die Arbeit gehen zu können, steht im Vordergrund, sondern die Frage der Rückkehr der Flüchtlinge von 1948. Wer aber auf den Rückkehr- und Bodenansprüchen der heute etwa vier Millionen Flüchtlinge besteht, zielt auf eine geschichtliche Revision von über fünf Jahrzehnten und eröffnet die Möglichkeit einer neuen Runde von Vertreibungen. Er orientiert die Anstrengungen nach rückwärts und verspielt damit das Gründungsthema.

Das müssten gerade die Europäer und allen voran die Deutschen wissen. Die Deutschen haben gelernt, dass der Verzicht auf Gebiete und altes Eigentum jenseits der Oder-Neiße-Grenze eine Vorbedingung des europäischen Friedensprozesses war. Diese Einsicht, die viele ohne Zögern – und manchmal arrogant gegenüber den Verletzungen vertriebener Menschen – vortragen und gegen den „Revanchismus von rechts“ ins Feld führen, fehlt aber, wenn es um andere Regionen geht. Mit erstaunlicher Leichtfertigkeit führen heute Akteure der politischen Linken historisch begründete Flüchtlingsansprüche im Nahen Osten ins Feld. Das hilft jedoch nicht, eine eigene Zukunft zu entwerfen. Es spricht vielmehr einer fünfzigjährigen Nachkriegsentwicklung die Berechtigung ab. Im Grunde läuft es auf ein Plädoyer für die Ursprungsverbindung von Volk und Boden hinaus. „Enteignet die Enteigner!“ ruft der Revanchismus von links und kennt nur böse Kolonien.

Die Quelle der „Wut“

Dies antikoloniale Ressentiment ist verführerisch, denn es kommt von unten. Man vertritt keine Großgrundbesitzer, sondern kann auf das tatsächliche Elend in den Flüchtlingslagern verweisen. Es ist gegenwärtig nicht nur sehr viel von Jahrhunderten und Jahrtausenden die Rede, sondern auch von der „Wut“. Diese Verbindung von Archaismus und Spontaneismus ist unhinterfragbar und unpolitisch zugleich. Denn in den geschichtlichen und emotionalen Tiefendimensionen – so viel Wahrheit sie auch enthalten mögen – ist es unmöglich, fair zu bilanzieren und ein Verhandlungsergebnis zu erzielen. Wichtiger noch: Auch das eigene Staatsprojekt der Palästinenser kann in sich nicht gelingen, wenn es auf die Logik von Gefühl und Ursprung gebaut ist. Denn beide Ressourcen reichen nicht, um ein zukunftsfähiges Projekt in Angriff zu nehmen und zu verwirklichen.

Was hier besonders bedenklich stimmt, ist die Tatsache, dass gegenwärtig auch moderate Akteure in die Tiefensprache verfallen. So schrieb Elias Sanbar, Chefredakteur der „Revue d´études palestiniennes“ in Frankreich von der „unendlichen Verletzung“, die eine „auf 20% ihres Vaterlandes“ beschränkte Staatsgründung darstellt („Le Monde“, 25.1.2001). Über solche Unendlichkeiten lässt sich nicht verhandeln, und auf sie lässt sich auch kein Staat gründen, der nicht in sich schon die selbstzerstörerische Hypothek eines Revanchismus trüge. Die Forderung nach Gewaltverzicht bedeutet hier daher sehr viel. Sie ist im Grunde die Forderung nach einem Verzicht auf eine Politik des Ursprungs und des Gefühls.

Damit wird den Verhandlungspartner im Nahen Osten, insbesondere den Palästinenser, sehr viel abverlangt. Der Verzicht muss ja vor dem Hintergrund großer Armut, fehlender Siedlungen, knappen Wassers, rarer Arbeitsplätze und einer riesengroßen, nachdrängenden jüngeren Generation geübt werden. Hier wie in anderen Regionen der Dritten Welt ist es ja gerade dieser Hintergrund, der den vorpolitischen Ressourcen von Ursprung und Gefühl ihre Verführungskraft verleiht. Umso wichtiger ist daher ein Beharren auf dem „kalten“ politischen Argument, dass alle Staatsprojekte der letzten Jahrzehnte, die auf das Ressentiments des Elends gebaut wurden, zu einem noch größeren Elend geführt haben.

Als auf einer Straße in Essen am 7.Oktober vergangenen Jahres Demonstranten die Flaggen Israels und der Vereinigten Staaten verbrannten (später folgen Steine auf die Synagoge), hatte das eine präzise Bedeutung: Die „böse Kolonie“ sollte exorziert werden. Und da klatschten auch Deutsche Beifall, die es weit von sich weisen würden, etwas gegen „die Juden“ zu haben. Aber gegen den Staat Israel schon. Solche Kritiker Israels erkennen das Judentum in einem vagen, seelenhaften und im Grunde existenzlosen Zustand an, nicht aber das weltliche Projekt in staatlichen Institutionen, in Siedlungen, in Fleisch und Stein.

Ganz allgemein gilt vielen eine Kolonie als ein gewaltsamer Eingriff in eine vorgängige Ordnung und in ein vorher bestehendes Gleichgewicht. Das organische Wachsen einer Nation, die tiefe Verwurzelung von Kulturen, Produktivkräften und sozialen Klassen in Raum und Zeit – das alles verletzt eine Kolonie, weil und insofern sie immer ein Neuanfang ist und ihr das Künstliche das Eingepflanzt-Seins anhaftet. Diese Künstlichkeit wird hier immer im Namen einer vorgängigen Ordnung abgelehnt, die schon per se als höherwertig gilt. Die nationale Ursprünglichkeit darf eine höhere Legitimität beanspruchen als die koloniale Neugründung. Damit ist eine räumliche Konsequenz verbunden, die oft übersehen wird: Wo eine Nation alles organisch aus ihrem Binnenverhältnis schöpfen muß, muß sie nach einer möglichst kompletten Ausstattung und nach einem Gebietsmaximum streben. Das organische – und nicht das koloniale – Staatsverständnis ist die Ursache des Expansionismus.

Die Denkfigur des verwurzelten Staates ist, ganz gleich aus welchem politischen Lager stammend, nicht nur rückwärtsgewandt, sondern auch eine Fiktion. In vielen großen und kleinen Regionen der Erde gibt es die Notwendigkeit der kolonialen Geburt: Die Mittelmeerregion gehört dazu.

Die Koloniebildung ist im Mittelmeerraum eine Grunderfahrung

Die Einheit und die Grenzen der mediterranen Welt sind das Resultat der verschiedensten kolonialen Vorgänge. Kolonisten waren die Griechen, die Perser, die Römer und natürlich auch die Araber. Ihre koloniale Stärke ging Hand in Hand mit ihrer zivilisatorischen Größe, Kolonie und Kultur haben nicht von ungefähr die gleiche Wortwurzel. Ein Stück Erde bewohnbar machen, Naturgegebenheiten entfalten, aus Stein, Wasser, Wärme, aus Fauna und Flora, aus mechanischen oder biochemischen Prozessen ein Land aufbauen, sich als Gesellschaft freier Menschen den Zusammenhalt einer Staatsbürgerschaft geben – das geht nicht ohne Eingriff, Einwanderung, Landnahme und konstruktive Gewalt.

Der französische Historiker Fernand Braudel hat dies am mediterranen Beispiel gezeigt. Hier gingen meist nicht die Städte aus dem Land hervor, sondern das Land entstand aus den Städten. Die kurzen Handelsbeziehungen und Verkehrswege waren nicht die Basis weiträumiger Beziehungen, sondern deren Folge. Die mediterrane Welt war schon früh eine globalisierte Anhäufung sprunghafter Verbindungen und Brückenköpfe. Jeder Versuch, hier nach einem organischen Wachstum von innen und nach einem homogenen Gebietsmaximum zu streben, musste dazu führen, dass zivilisatorische Chancen vertan wurden. So zeigte Braudel, welche hohen Binnen- wie Außenverluste die spanische Reconquista zur Folge hatte: Die jüdischen und muslimischen Kolonien auf der Iberischen Halbinsel wurden zerschlagen, und Spanien verzichtete seinerseits früh auf eine Koloniebildung in Nordafrika. Braudel sah hierin eine der frühen Weichenstellungen in Richtung auf das Nord-Süd-Gefälle im Mittelmeerraum.

Die erste französische Ausgabe von Braudels Mittelmeer-Buch erschien 1949. Aus ihm spricht auch die Erfahrung des Sieges der Aliierten über Rommels Truppen bei El Alamein 1942, der die Befreiung des Südens im Zweiten Weltkrieg einleitete. Es war der Sieg einer weiträumigen, einer kolonialen Aufstellung. Er ließ für einen kurzen historischen Moment die Möglichkeiten einer neuen, das mediterrane Nord- und Südufer verbindenden, pluralen Ordnung unterschiedlicher Staatsprojekte erahnen. „Kolonie“ hätte in diesem Rahmen nicht nationalen Expansionismus bedeutet, sondern kleinere Staatsprojekte mit einem hohen Bedarf an Außenhandel und außenpolitischer Einbindung. Der Staat Israel ist im Grunde der beste Repräsentant dieser geschichtlichen Chance.

Es ist anders gekommen, und ein anderes Land ist zum Präzedenzfall geworden: Algerien. In dem damals noch als französisches Departement verfassten Algerien lebte eine Million französisch-europäischer Bürger, die auf eine über hundertjährige Kolonialtradition zurückblickten. Unter ihnen gab es zum Beispiel Elsässer, die sich der deutschen Besatzung von 1871 nicht hatten unterwerfen wollen. Der in den fünfziger Jahren einsetzende Dekolonisierungsprozess wurde dann zu einer zerstörerischen Auseinandersetzung. Der Schriftsteller und Philosoph Albert Camus, in Algerien als Sohn eines französischen Vaters und einer spanischen Mutter geboren, hat bis zu seinem Tod 1960 versucht, das „Faktum Frankreich“ als ein algerisches Teilprojekt zu retten und zugleich dessen Hegemonie über den arabischen und berberischen Teil Algeriens zu beenden. „Da stehen wir uns nun gegenüber und sind darauf bedacht, uns auf nicht wieder gutzumachende Weise so viel Leid zuzufügen wie nur möglich“, schrieb er 1955 in seinem „Brief an einen algerischen Aktivisten“. Camus versuchte, die verschiedenen Bestandteile Algeriens in ihrer Eigenständigkeit zu fassen und sie daran zu hindern, in einer Art Kurzschluss ineinander zu stürzen. Das erinnert an ein Wort Hannah Arendts, die einmal von der Welt als einer Art „Tisch“ gesprochen hat, der die Kraft hat zu versammeln, weil er sowohl trennt als auch durch etwas Greifbares verbindet. „Die uns gemeinsame Welt versammelt Menschen und verhindert gleichzeitig, dass sie gleichsam über- und ineinanderfallen“, schreibt die Philosophin in ihrem Buch „Vita activa“.

Hannah Arendt, Fernand Braudel und Albert Camus waren Vertreter einer Denkgeneration des existenziellen Neuanfangs. In ihrem nüchternen Realismus, der einen gewissen Pessimismus nicht in Resignation oder Schuldzuweisungen abgleiten lässt, sondern in ein unpathetisches Engagement mündet, repräsentieren sie die Gründungskonstellation, die die Nachkriegszeit auszeichnete. Man kann ihnen nicht vorhalten, sie seien bequeme Denker gewesen, die aus sicherer Wohlstandsperspektive den in elenden Verhältnissen Lebenden Vorschriften machen wollten. Sie wussten aus eigener Erfahrung genau, wovon sie sprachen und was sie da verlangten.

Vor dem Hintergrund dieser Gründungskonstellation erscheinen die späteren Siege der nationalen Befreiungsbewegungen heute weniger groß. Man sieht ihre Schattenseite. Nicht das Ziel der politischen Unabhängigkeit ist dabei das Problem, sondern die falsche Gegnerschaft zum vorhandenen kolonialen Element und die regressive Suche nach tieferen Wurzeln. Auch die antikoloniale Solidarität im Europa der sechziger Jahre stellt mit ihren Anklagen, Schuldzuweisungen und Idolen einen Rückschritt dar. Ihre Lösungen waren zu einfach, die Folgen oft katastrophal.

Gerade im Bereich internationaler Beziehungen in der Nord-Süd-Dimension der Erde hat der antikoloniale Impetus der Achtundsechziger nicht zur Lockerung einer bis dahin dumpfen, festgefahrenen Konstellation beigetragen. Er hat vielmehr unterhalb der historisch schon entwickelten und öffentlich verfügbaren Einsichten gehandelt. Er ist der Versuchung eines antikolonialen Revanchismus erlegen. Bis heute ist dieser Rückfall nicht aufgeklärt, die von ihm zerstörten Ideen sind nur unvollkommen rekonstruiert. Nicht selbstaufklärerische Eindeutigkeit, sondern eine klebrige Masse von halben Revisionen, biographischen Rechtfertigungen und neuen Radikalisierungen – etwa die Heroisierung des militanten Globalisierungsgegners – ist hier zu finden. Die jüngste antisemitische Anschlagsserie zeigt, dass nichts wirklich bereinigt ist. Es geht hier freilich um mehr als ein Problem von Achtundsechzigern. Es geht um das generelle antikoloniale Ressentiment, mit dem Europa seine Geschichte verarbeitet und seine möglichen Projekte verkürzt.

Eine Zwei-Staaten-Lösung braucht die Idee der guten Kolonie

Israel ist also eine Kolonie. Ja, und? Das ist gerade das Gute, dass Israel ein Projekt ist und damit mehr als eine bloße Replik auf die Leiden des jüdischen Volkes. Das Problem besteht nicht darin, dass die Israelis kolonial sind, sondern dass die Palästinenser es nicht oder noch zu wenig sind. Sie haben in den letzten Jahren neue Räume bekommen, um ein eigenes Projekt zu beginnen. Aber es scheint, als fänden sie aus dem Teufelskreis der Betroffenheit nicht heraus. Man hört so wenig von palästinensischen Landerschließungen oder vom Bau festerer Siedlungen. Fehlt es an der territorialen Geschlossenheit, an Wasser, an Geld, an Platz für den Ausbau einer eigenen Teil-Hauptstadt, die dem Land ein Gesicht gibt? Ohne Zweifel gibt es erhebliche Hindernisse. Und die Gründergeneration eines palästinensischen Staates hätte bei diesen Themen gewichtige Forderungen vorzubringen und müsste nicht nur ein Diktat akzeptieren. Aber die Dinge sind auf ein ganz anderes Gleis geraten. Im Vordergrund steht die Flüchtlingsfrage – und damit ein Thema, das nur destruktiv behandelt werden kann und das Israelis und Palästinenser „ineinanderfallen“ lassen muss. Konstruktiv wäre allein die Definition eines zweiten, mit Israel nachbarlich konkurrierenden Kolonialprojektes.

Vielleicht war es der gute Pragmatismus ihrer kolonialen Kultur, der die Vereinigten Staaten einen Vorschlag machen ließ, der Akzente in diese Richtung setzt. Ein zukünftiger palästinensischer Staat soll danach über 95 bis 100 Prozent des Territoriums von Westjordanland und Gaza sowie über die arabischen Teile von Jerusalem-Ost einschließlich der „Esplanade der Moscheen“ verfügen. Zugangs- und Kontrollrechte sollen den Schnitt, den das ohne Zweifel bedeutet, mildern. Wesentlich ist, dass damit ein palästinensisches Projekt die räumliche Kohärenz und einen Zentralort bekommen würde, um die Mühen und Risiken eines eigenen Wegs in die Zukunft zu bestehen. Die Rückkehr der Flüchtlinge von 1948 auf israelisches Gebiet soll jedoch, so der Vorschlag, ausschließlich der souveränen Entscheidung des israelischen Staates überlassen werden. Auch dies scheint notwendig zu sein, um dem Revanchepotential, das eine offengehaltene Flüchtlingsfrage enthält, einen Riegel vorschieben.

Es wäre wichtig, wenn die europäische Außenpolitik gerade auch in diesem Punkt zu einer eindeutigen Position finden würde. Die Sicherheit und Eigenständigkeit der beiden Staatsprojekte hängt – und dies ist in gewisser Weise eine Wiederkehr der Gründungskonstellation vor fünfzig Jahren – von der außenpolitischen Garantiefähigkeit der Vereinigten Staaten und Europas ab. Zu einem solchen Schritt scheint aber gerade das alte Europa, der Erdteil vieler organischer Nationalvorstellungen und Ressentiments gegen die koloniale Geburt, gegenwärtig nicht die Kraft zu haben. Es sieht eher so aus, als ziehe man sich auf die formale Position der gleichen Distanz zu allen Seiten zurück. Von dieser Position aus kann man nur Interessen moderieren, nicht aber Mindestanforderungen für eine politische Ordnung definieren und damit eine wirkliche Mitverantwortung für zwei zukunftsfähige Staatsprojekte übernehmen.

Ein garantiertes Nebeneinander einer israelischen und einer palästinensischen „guten Kolonie“ wäre ein positiver Präzedenzfall für eine neue Verzahnung unterschiedlicher Gesellschaften im Mittelmeerraum – so sehr dies zunächst auf eine sehr harte Grenzziehung hinauslaufen würde. Europa scheint heute gegenüber einer solchen neuen kolonialen Perspektive in seinem Süden zurückzuschrecken. Das mag an den Risiken liegen, die sie beinhaltet. Es könnte aber auch einen anderen Grund haben. Der Umgang mit den osteuropäischen Reformstaaten und der Tempoverlust, zu dem es hier seit 1989 gekommen ist, legen den Verdacht nahe, dass dem alten Kontinent die Gründungsthematik überhaupt abhandengekommen ist. Ein symbolischer Ort für diesen Verlust in der europäischen Politik liegt am Nordufer des Mittelmeers: Nizza.

 

(Manuskript vom 19.3.2001, erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 3.4.2001)