20.06.2016

Wer einer Gesellschaft den Staat nimmt, nimmt ihr die Möglichkeit, als Gemeinschaft der Staatsbürger zu handeln und die eigene Geschichte zu bestimmen. Er nimmt ihr jede größere Verantwortung, im Guten wie im Bösen.

(Erwägungen zum „Brexit“, Teil III) 

Sein oder Nicht-Sein des Staates

Allerorten ist von einer „historischen Entscheidung“ die Rede, die die Briten am kommenden Donnerstag zu treffen haben. Doch worin besteht eigentlich das „Historische“? Eher hört man, besonders vom EU-Festland, recht kleinliche Erwägungen. Ihr seid besser versorgt, wenn Ihr in der EU bleibt, ruft man den Briten zu, und fügt auch gerne eine Art Versicherungs-Werbung an: In unserer großen Gemeinschaft seid Ihr besser geschützt. Und überhaupt werden die Briten auf einmal ganz furchtbar nett gefunden. Politiker, die den ganzen Kontinent im Rettungsmodus regieren wollen, geben sich nun als Fans des britischen Pragmatismus aus.

So wird versucht, die Brexit-Entscheidung klein zu reden. Diese Entscheidung wird tatsächlich eine größere Dynamik auslösen, so oder so. Mit einem „Ja“ zur EU-Mitgliedschaft wird sich Großbritannien definitiv auf ein Mitschwimmen bei der Bildung eines kontinentaleuropäischen Blocks einlassen. So wird das Immer-Enger-Vereint eine neue Unwiderstehlichkeit bekommen. Hingegen wird mit einem EU-Austritt ein unabhängiger politischer Pol in Europa entstehen. Dieser kann dazu beitragen, dass die europäischen Verhältnisse insgesamt wieder zu klar definierten und frei geschlossenen Verträgen zurückkehren. Das Votum wird also Folgen für die europäische Ordnung haben. Mehr noch, es wird Einfluss darauf haben, ob die Europäer in Zukunft noch über etwas verfügen, das man als „Staat“ bezeichnen kann.

Ja, es geht tatsächlich um den Staat. Die europäischen Vernetzungen wurden so weit getrieben, dass nun nirgendwo mehr die Kernkompetenzen eines Staates fassbar sind. Das Hin-und-her-Gewaber des politischen Geschehens ist für die Völker in Europa nicht mehr kontrollierbar. Und diese Transformation geschah nicht durch einen demokratischen Verfassungsprozess, sondern auf dem Schleichweg, durch einzelne, oft unmerkliche Schritte und Machtverlagerungen. So führt die Frage des britischen Referendums dazu, dass es nun endlich um den Europa-Prozess als Ganzes geht. Und es zeigt sich, dass diese Möglichkeit, die ganze Richtung in Frage zu stellen, tatsächlich die Bevölkerung bewegt.

Ja, die Briten sind Pragmatiker. Der Staat ist für sie kein höheres Wesen, das bewundert und angebetet werden will. Er ist ein Organ der Freiheit, das gebraucht wird, weil Freiheit keine Privatsache ist. Ein Organ, das dort (und nur dort) gebraucht wird, wo Freiheit eine öffentliche Angelegenheit ist. Deshalb fragen die pragmatischen Briten, wer in Zukunft darüber bestimmen wird, wer Zugang zu Sozialversicherungen und Infrastrukturen bekommt. Und ob diejenigen, die diesen Aufbau durch ihre Beiträge und Steuern tragen (man nennt sie das Volk), hier noch das entscheidende Wort sprechen. Sie fragen, wie lange noch sich eine britische Regierung gegen EU-Verteilquoten bei Migranten wehren kann. Oder auch, wann der Finanzplatz London vom Gerichtsplatz Luxembourg regiert wird.

Ja, hier ist tatsächlich etwas Historisches gegenwärtig. Aber nicht um eine „Umwälzung der Geschichte“ geht es (wie es sich der herrschende Zeitgeist vorstellt, wenn er „historische Entscheidung“ hört), sondern um eine geschichtliche Kontinuität. In der Entwicklung der Moderne war Großbritannien nicht nur „eine Insel“, sondern eine internationale Ordnungsmacht. Es hat in Schlüsselsituationen immer wieder dazu beigetragen, dass Europa nicht zu einem Einheitsblock erstarrte und der imperialen Verführung erlag, ein „Reich“ zu bilden. Das gilt nicht nur für die Verhinderung von Hitlers Europa, sondern auch für die Niederwerfung von Napoleons Kontinentalherrschaft. Und noch früher, im 16. Jahrhundert, war es der Aufstieg eines starken, aber begrenzten Staatswesens „Großbritannien“, der entscheidend für die Ausbildung einer pluralistischen Staatenordnung in Europa war. Es war die britische Staatsbildung, die den kontinentalen Schließungen entgegenwirkte.

Mit dem Brexit wird also eine Frage wieder aktuell, die eigentlich – gerade für moderne Freigeister – als überholt galt: die Frage nach dem Souverän. Das ist die These dieses Beitrags: Die Auseinandersetzung um die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens ist im Kern eine Auseinandersetzung um den territorialen Verfassungsstaat – um die Form also, in der politische Verantwortung eindeutig zugeordnet ist. Es geht nicht nur um ökonomische Verteilungsfragen und auch nicht nur um einzelne Kompetenzverlagerungen. Die Entscheidung, vor der die Briten stehen, ist wirklich eine große Entscheidung. Es geht um das Sein oder Nicht-Sein einer selbstverantwortlichen und dadurch demokratiefähigen Staatlichkeit in Europa.

Die Entstaatlichung der europäischen Politik

Manchmal lohnt es sich, auf Stimmen aus der zweiten Reihe zu achten, die weniger auf Fassade bedacht sind und deshalb deutlicher zum Ausdruck bringen, wie das zeitgenössische Politiksystem tickt. Die FAZ veröffentlichte am 31.Mai 2016 einen Gastbeitrag von Ulrich Speck, seines Zeichens „Senior Fellow“ an der „Transatlantic Academy in Washington D.C.“. Der Beitrag trägt die Überschrift „Wie Merkel gegenüber Putin die Oberhand behält“ und soll begründen, warum Merkel als „weltpolitische Gegenspielerin Putins“ erfolgreich sein wird. Hier finden sich die folgenden Sätze: „Merkel sieht Russlands Aggression als Angriff auf die Globalisierung: auf Dialog, Kooperation, Verflechtung. Der Konflikt um Einflusssphären und Territorialansprüche, wie ihn Russland nach Europa hineinträgt, ist ein Rückschritt in eine Zeit, die wir eigentlich `für überwunden gehalten haben´. Geopolitische Stärke entwickeln, „das geht nur erfolgreich mit den Prinzipien und Mitteln der Zeit´.“ Zu den in dieser Passage angeführten Äußerungen wird nicht gesagt, wer da gesprochen hat, aber es ist offenbar die deutsche Kanzlerin. Und es geht nicht nur um Russland, sondern generell um eine neue Form der Politik, die Merkel repräsentiert. Das ist mit den „Prinzipien und Mitteln der Zeit“ gemeint. Und hier kommen souveräne Staaten ebenso wenig vor wie völkerrechtliche Verträge mit Ein- und Austrittsrechten. Die drei Globalisierungsbegriffe „Dialog, Kooperation, Verflechtung“ sind staats- und verfassungsrechtlich nicht fassbare Größen. Sie bezeichnen Aktivitäten von Mächten im rechts- und gesetzesfreien Raum. Sie gründen ihren Legitimitätsanspruch darauf, dass die Formen „Dialog, Kooperation und Verflechtung“ per se „gute“ Formen sind. Das ist exakt jene moralisch-politische Grauzone, in der das Gebilde „EU“ zu seiner heutigen Größe gewachsen ist. Wenn es nach diesen „Mitteln der Zeit“ geht, so dürfte die britische Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft eigentlich gar nicht stattfinden. Sie widerspricht der Politikdoktrin einer weltweiten Verflechtung, die die Frage von Ein- und Austritt für immer erledigt hat.

Udo di Fabio, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bonn und ehemaliger Verfassungsrichter, schreibt in einem längeren Beitrag für FAZ (23.5.2016): „Schon früh hat ein Teil der Rechtswissenschaft versucht, der Entwicklung vorzugreifen und die völkerrechtliche Souveränität der Staaten über das faktisch beobachtbare Maß hinaus zu relativieren, sei es gegenüber dem Unionsrecht, sei es zugunsten eines Vorrangs universeller Menschenrechte. Dabei wird der Idee der Volkssouveränität ihre Funktionslosigkeit bescheinigt oder ihr lediglich antiquarischer Wert zugemessen. Im Ergebnis wird so die parlamentarische Demokratie in den Dienst genommen für ein häufig unbestimmtes Europa- und Weltrecht in der Hand von engagierten Interpreten, die sich keiner Wahl stellen müssen.“ Di Fabio beschreibt einen Prozess der Staatsauflösung, der die Demokratie zur Farce macht, weil ihr der Gegenstand entzogen wird. Es gibt nichts, was das Volk zu bestimmen hat – denn alles ist schon durch globale Verflechtungen bestimmt. Es gibt keine Gemeingüter (commons) mehr, deren Zugang und Nutzung ein Staatsvolk vermittels Parlament und Regierung gesetzlich regelt – seien es Verkehrsinfrastrukturen, Sozialversicherungen, Sicherheit im öffentlichen Raum, Bildungsgüter und vieles mehr. Es gibt keine Souveränität bei der Regelung der Zuwanderung mehr, und Grenzkontrollen werden wahlweise als illegitim oder unmöglich erklärt. Es gibt keinen Souveränität über den Staatshaushalt und den Grad der Staatsverschuldung mehr. Das Haushaltsrecht als zentrales Recht des Parlaments wird durch die Geldpolitik der Zentralbank ausgehebelt.

Angesichts dieses Erosionsprozesses sollte man sich das europäische Immer-Enger-Vereint nicht so vorzustellen, dass es am Ende auf „einen Großstaat“ hinausläuft. Dass sich also eine gesamteuropäische staatliche Hoheit herausbildet und mit ihre eine gemeinsame, demokratische Souveränität von 500 Millionen Europäern. In Wirklichkeit zehrt die neuere europäische Vereinigung davon, dass sie sich von jedem Souveränitätsanspruch verabschiedet hat. Das Geheimnis der europäischen „Größe“ ist die Abschaffung aller Kommandohöhen. Größer wird hier nur das „Geflecht“, dessen Unübersichtlichkeit und Verfilzung stetig wächst.

Die Montesquieu-Diktatur und die Tocqueville-Diktatur

Viele Menschen sehen in „Brüssel“ eine diktatorische Macht. Da ist etwas dran, aber man darf das nicht so verstehen, dass da irgendwo ein einsamer Diktator sitzt. Der französische Staatsphilosoph Montesquieu sprach (im 18. Jahrhundert) davon, dass jedes Großreich eine Tendenz zur Herrschaft eines Despoten hätte, weil ein Machthaber sich angesichts der Weite des Raumes nur durch ein besonders schnelles und rücksichtloses Durchgreifen behaupten könne. Mit einer solchen Montesquieu-Diktatur lässt sich das EU-System nicht fassen. Doch gibt es eine zweite, modernere Form der Diktatur, vor der ein anderer französischer Staatsdenker, Tocqueville, schon früh gewarnt hat. Er schrieb (1840): „So breitet der Souverän, nachdem er jeden Einzelnen der Reihe nach in seine gewaltigen Hände genommen und nach Belieben umgestaltet hat, seine Arme über die Gesellschaft als Ganzes; er bedeckt ihre Oberfläche mit einem Netz kleiner, verwickelter, enger und einheitlicher Regeln, das nicht einmal die originellsten Geister und die stärksten Seelen zu durchdringen vermögen…Er bricht den Willen nicht, sondern er schwächt, beugt und leitet ihn; er zwingt selten zum Handeln, steht viel mehr ständig dem Handeln im Wege; er zerstört nicht, er hindert die Entstehung; er tyrannisiert nicht, er belästigt, bedrängt, entkräftet, schwächt, verdummt und bringt jede Nation schließlich dahin, dass sie nur noch eine Herde furchtsamer und geschäftiger Tiere ist, deren Hirte die Regierung (ist).“ Das passt schon viel eher auf das EU-System, bei dem ja viele Stellen mitwirken. Die Tocqueville-Diktatur ist eine Netzwerk-Diktatur, die sich über die Mittel „Dialog, Kooperation, Verflechtung“ extrem weit ausbreiten kann – und die sich zugleich sehr engmaschig über eine Gesellschaft legen kann. Es ist auch eine „informelle“ Diktatur, die vielfach außerhalb von staatlichen Strukturen handelt und alle möglichen „Multiplikatoren“ in der Gesellschaft umfasst. Man denke nur an die erstaunliche Monotonie von Medien, Wissenschaften und Künsten, wenn es um „die“ europäische Sache geht.

Ohne souveräne Staaten sind die europäischen Verträge nichts mehr wert

Die beiden großen Krisen der Gegenwart – die Schuldenkrise und die Migrationskrise – zeigen, dass die EU keine Vertragsgemeinschaft mehr ist. Sie bewegt sich außerhalb der Verträge zur Währungsunion (Maastricht) und zur Grenzunion (Schengen). In diesem Frühjahr 2016 wurden, mit geräuschloser Selbstverständlichkeit, die Regeln und Sanktionen des Stabilitätspakts für Portugal, Spanien, Italien und Frankreich außer Kraft gesetzt, von Griechenland ganz zu schweigen. Vor ein paar Wochen antwortete der EU-Kommissionspräsident Juncker auf die Frage, warum Frankreich solche Ausnahmen überhaupt gewährt würden, wörtlich: „Weil es Frankreich ist“ (zitiert aus einem Artikel von Werner Mussler in der FAZ vom 2.6.16). Dies willkürliche und selektive Anwendungen oder Nicht-Anwenden von Verträgen ist wohl das, was Juncker meint, wenn er seine EU-Kommission als „politische Kommission“ bezeichnet.

Exakt das Gleiche geschieht in der Migrationskrise. Seit mindestens anderthalb Jahren wird an europäischen Grenzen gehandelt, als gäbe es kein Schengen-Abkommen. Die Hoheit über die Grenzen befindet sich auf breiter Front in einem Prozess der Auflösung. Es gibt keine verlässliche Kontrolle über die Zuwanderung und – vor allem – keine Kraft, eine Begrenzung der Zuwanderung an den Grenzen durchzusetzen. Und wiederum war es der sogenannte „europäische Weg“, der den Mechanismus für diese Auflösung lieferte. Das wurde gerade in den letzten Monaten deutlich: Zunächst wollte man die Mitgliedsstaaten am Wiederaufbau eines eigenen Grenzschutzes hindern, indem man einen „gemeinsamen Schutz der EU-Außengrenze“ in Aussicht stellte. Stattdessen wurde dann aber im EU-Türkei-Abkommen die Abwehr illegaler Migration an die Zustimmung einer fremden Macht gebunden.

Damit zeigt sich gerade in diesem Frühjahr 2016, dass das EU-System inzwischen ganz offen die Kernfunktionen der Staaten in Europa unterminiert. Die EU tritt offen als Zerstörerin von staatlicher Verantwortung auf. Und sie hat auch die Vertragsgrundlage verlassen, auf der bisher die Zusammenarbeit in Europa beruhte. Das hat seine Logik: Wo die Politik entstaatlicht wird, werden die Verträge (die zwischen Staaten vereinbart werden) zu herrenlosen Verträgen.

So fällt das Referendum über die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens in eine Zeit, in der sich die Frage nach der Bedeutung des Staates in der Politik mit neuer Schärfe stellt. Dieser Frage liegt förmlich in der Luft. Wenn die Briten für einen Brexit votieren, dann wollen sie nicht nur „ihr Geld zurück“, und noch weniger wollen sie die gesamte Zuwanderung wieder rückgängig machen. Aber sie wollen ihren Staat zurück und mit ihm das Recht, als Staatsvolk selber über die Entwicklung ihres Landes zu entscheiden. Wer einer Gesellschaft den Staat nimmt, nimmt ihr die Möglichkeit, als Gemeinschaft der Staatsbürger zu handeln und die eigene Geschichte zu bestimmen. Er nimmt ihr jede größere Verantwortung – im Guten wie im Bösen. In diesem Sinn wird mit dem Brexit das Freiheitsrecht auf einen souveränen Staat geltend gemacht.

Der Exit ist ein Freiheitshebel

Aber muss es denn wirklich ein Austritt sein? Gegen den Brexit wird eingewendet, dass es doch viel konstruktiver sei, in der EU zu bleiben und an ihrer Verbesserung zu arbeiten. Das mag in manchen Fällen richtig sein. Aber wer etwas Lebenserfahrung hat, weiß, dass man in komplexen Abhängigkeiten stecken kann, in die man sich durch eifrige Verbesserung nur immer tiefer verstrickt. Dann muss man tunlichst das Weite suchen und eine gesunde Distanz zwischen sich und das klebrige Monster legen. Auch die historische Erfahrung zeigt, dass die „Option Exit“ oft ein unentbehrlicher Geburtshelfer der Freiheit war. Die Moderne ist immer wieder durch produktive Fluchten vorwärtsgebracht worden: Stadtflucht aus der feudalen Leibeigenschaft, Neubildung von Staaten durch Lostrennung von den alteuropäischen Reichen, Industriegründer-Flucht aus den zunftbeherrschten Kernstädten ins Umland der Städte. Ist heute die Europäische Union nicht zu einem neuen historischen Gefängnis geworden, das an einer Stelle aufgebrochen werden muss?

Ja, liebe Briten, viele Bürger in Europa hoffen, dass Ihr einen Weg ins Freie findet.

 

 

(erschienen am 22.6.2016 auf „Tichys Einblick“)