Das Berliner Attentat war kein gewöhnliches Verbrechen und auch kein bloßer „Missbrauch“ von Religion. Es war ein Übergriff religiöser Absolutheitsansprüche. (Über die Religion, Teil 2) 

Über religiösen Nihilismus

Die Religion kann, als Fenster zur Größe Gottes, die Menschen größer machen. Die Religion kann die Menschheit „heben“ im ästhetischen und im moralischen Sinn. Dies geschieht in der Moderne nicht, indem die Menschen sich als „gottesähnlich“ empfinden (so lautet eine theologische Irrlehre), sondern indem sie auf die Größe der Welt als Gottes Schöpfung verwiesen werden. Sie ist, im Erleben und Handeln Gegenstand und Mittler der menschlichen Bewährung vor Gott. Diese neue, indirekte Gegenwart der absoluten Größe Gottes hat unter anderem dazu geführt, dass das Phänomen „Weihnacht“ mit seiner materiellen Magie einen so hohen Rang bekommen hat (wie im Teil I dieser Folge dargestellt wurde).

Der monströse Terrorangriff auf einen Weihnachtmarkt, die unter Berufung auf eine Religion erfolgte, zeigt aber auch, dass es noch etwas Anderes geben muss als die erhebende, aufbauende Kraft der Religion. Wenn der Ruf „Allahu akbar“ zum Kriegsruf wird, bekommt er direkt eine zerstörerische Kraft. Er ist nicht nur Kommentar der Vernichtungstat, sondern gehört zur Energie dieser Tat. Diese destruktive Energie muss ernst genommen werden.

Die beiden „Drehrichtungen“ des Religiösen

So ist im Religiösen offenbar auch eine monströs-negative Möglichkeit angelegt. Die Bezugnahme auf Gott kann das Irdische als nichtig und zerstörenswert erscheinen lassen. Auf diesem Weg kann eine Vernichtungsdynamik in Gang kommen. Dies kann sich als Aggression gegen andere Kulturkreise wenden und, mehr noch, den eigenen Untergang und den Untergang der Welt als Gottesdienst verstehen. Es geht um eine fundamental verneinende Kraft – und es ist die religiöse Dimension, die Berufung auf die grenzenlose Macht Gottes, die diese besonders radikale Zerstörung möglich macht.

Das bedeutet nicht, dass dies die einzige Möglichkeit ist, und dass das Religiöse generell nur zu diesem Nihilismus tendiert. Aber es ist eine Realität des Religiösen und schon damit ist eine zerstörerische Kraft mit der ganzen Absolutheit, die dem Religiösen zu eigen ist, in der Welt. Man kann von einer nihilistischen Drehrichtung der Religionen sprechen, die neben der erhebenden Drehrichtung als eigenständige Realität besteht. Und als solche müssen wir sie ernst nehmen. Denn sie ist, als religiöse Tatsache, nicht einfach das soziale oder psychologische Produkt der Menschen, das „abgeschafft“ oder „wegtherapiert“ werden könnte. Die nihilistische Drehrichtung ist also nicht bloß eine äußerliche „Verdrehung“ der Religion, sondern sie ist in der Religion selbst angelegt. Es gibt wirklich einen religiösen Nihilismus – und man kann nicht ignorieren, dass er in unserer Gegenwart eine bedeutende Rolle spielt.

Es gibt zwei Vorschläge, wie man den zerstörerischen Kräften begegnen kann. Beide zeigen, dass sie die Tiefe des Problems unterschätzen. Sie wollen die Absolutheit nicht wahrhaben, die hier im Raum steht. Der eine Vorschlag geht dahin, durch das Mittel des Dialogs die zerstörerischen Kräfte zu befrieden und zu verwandeln. Aber damit setzen sie das voraus, was sie doch gerade vermissen: das Interesse an zwischenmenschlicher Verständigung. Das Religiöse (ob konstruktiv oder destruktiv) ist aber gar nicht in erster Linie auf das Zwischenmenschliche ausgerichtet. Es sucht mit absolutem Vorrang die Beziehung zu Gott. Der andere Vorschlag baut darauf, dass die Religion „eigentlich gut“ ist und es sich beim Nihilismus um eine extremistische Abweichung vom rechten Weg handelt. Er möchte sozusagen an die gute „Normalreligion“ appellieren, an einen wohlwollenden, zumindest maßvollen Gott, um damit den „Fundamentalismus“ zu entkräften. Aber er verkennt, dass jede Religiosität auf diese oder jene Weise „fundamental“ ist – und sein muss, um nicht ihre Essenz zu verlieren. Wer versucht, durch eine innere Mäßigung und Zähmung des Glaubens den religiösen Nihilismus aus der Welt zu schaffen, wird am Ende den Glauben überhaupt und die Größe Gottes aus der Welt geschaffen haben.

Islam und Islamismus

Als nach dem Terrorangriff auf die Redaktion von Charlie Hebdo in Paris im Januar 2015 eine Mahnwache am Brandenburger Tor in Berlin gehalten wurde, war es der jüdische Vertreter, der am präzisesten die Lage beschrieb. Er sprach von einem „Radikalisierungsprozess in der islamischen Welt“. Es geht also tatsächlich um den Islam. Die nihilistische Drehrichtung ist innerhalb dieser Religion erstarkt und es besteht die Möglichkeit, dass sie die Oberhand gewinnt. Wer das sagt, behauptet nicht, dass es von vornherein und immer eine Verbindung von Islam und Terror gibt. Dass es also einen festen Nexus zwischen beidem gibt. Aber es geht auch nicht nur um eine von vornherein eingrenzbare Teilgruppe „Islamisten“, die sich von einem „eigentlich guten“ Wesen des Islam separiert hat.

Nehmen wir ein fernliegendes Beispiel, bei dem es der deutschen Publizistik offenbar leichter fällt, vom Radikalisierungsprozess in der islamischen Welt zu sprechen: das Beispiel Indonesien. In der FAZ erschien am 14. Dezember ein Bericht von Till Fähnders über die sogenannte „Blasphemie-Kampagne“. In Djakarta wird einem bislang populären christlichen Gouverneur der Prozess gemacht, weil er einen Vers aus dem Koran zitiert hatte und seinen politischen Gegnern Missbrauch des Koran vorgehalten hatte. „Zu Indonesiens Stärken gehörte bislang, dass es als ein liberales muslimisches Land gesehen wird, das Islam und Demokratie erfolgreich miteinander vereint“, schreibt Fähnders. Nun ist es den Gegnern des Gouverneurs gelungen, in kurzer Zeit die öffentliche Meinung gegen den Gouverneur aufzubringen. Die Verbindung von Demokratie und Islam scheint zu wanken – nicht wegen einer extremistischen Minderheit, sondern wegen einer Veränderung der Gesamtstimmung in einem mehrheitlich islamischen Land. Im Feuilleton der FAZ (23.12.2016) schreibt Marco Stahlhut: „In Indonesien verschärft sich die muslimische Radikalisierung“.

Es gibt also nicht nur ein Problem mit einer abgrenzbaren Minderheit, sondern ein Problem mit dem Islam, das auch bisher gemäßigte Länder umfasst. Das bedeutet, dass die nihilistische Drehrichtung im Islam die Oberhand gewinnen kann. Wir müssen mit der Möglichkeit rechnen, dass der Islam auf diese weise für eine ganze historische Epoche zur Bedrohung werden kann. Und dass große Länder und ganze Erdregionen von einer religiös getriebenen, zerstörerischen Kraft ergriffen werden können.

Das bedeutet kein Letzturteil über den Islam. Wir können nicht wissen, ob nicht eine andere, konstruktive Drehrichtung die Oberhand gewinnt. Aber diese Möglichkeit ändert nichts daran, dass wir uns jetzt mit einem Islam im Radikalisierungsmodus auseinandersetzen müssen, und dass wir uns gegen diesen anwachsenden nihilistischen Strom, den er in Welt bringt, zur Wehr setzen müssen – über einen längeren Zeitraum hin.

Es geht nicht alleine um den Islam. Wenn man die nihilistische Gefahr als eine Drehrichtung des Religiösen versteht, nehmen wir nicht nur eine bestimmte Religion in den Blick, sondern alle Religionen. Sie alle enthalten die Möglichkeit einer nihilistischen Drehrichtung. Das Buch „Religion und Krieg“ von Hartmut Zinser liefert dazu viele Belege, auch für das Christentum. Man muss Zinser in seiner prinzipiellen Religions-Skepsis nicht folgen, um seine Untersuchung ernst zu nehmen. Und seine Abrechnung ist allemal redlicher als die in Europa verbreitete Neigung, jede allgemeinere Kritik an der Entwicklung des Islam empört abzulehnen (während die Schuldzuweisungen an das christliche Abendland gar nicht pauschal genug sein können).

Das Religiöse ist unberechenbar und muss es bleiben

Viele wohlmeinende Menschen versuchen, die Religion als solche in Schutz zu nehmen. Sie sprechen von einem „Missbrauch“ der Religion, so als seien die Religionen „an sich“ gut. Oft wird dann vor einem „religiösen Fundamentalismus“ gewarnt – in der Überzeugung, dass man der Sache Gottes etwas Gutes tut, wenn man einen „normalen“ und „gemäßigten“ Glauben sucht. Sollte der „richtige“ religiöse Glauben also nur freundliche und sozialverträgliche Götter kennen? Ein solcher Anti-Fundamentalismus (oder Post-Fundamentalismus) ist ein zweischneidiges Schwert. Denn es gehört zum Kern des religiösen Erlebens und Handelns, dass es „fundamental“ ist. Gott ist eine absolute Größe und die Religion ist eine Begegnung mit dem Absoluten. Wenn man, um der Gefahr des Nihilismus zu begegnen, die Größe Gottes von vornherein auf ein menschenverträgliches, positives Maß beschneidet, läuft man Gefahr, die Besonderheit des Religiösen überhaupt zu verlieren. Eine allzu bequeme, ungefährliche, harmlose Theologie würde entstehen. Gott würde gewissermaßen domestiziert. Auf dieser Grundlage wäre dann eine globale Good-Will-Religion denkbar, eine Art Patchwork aller bisherigen Religionen, eine Meta-Religion. Aber damit würde die religiöse Dimension des Menschen in ihrer Substanz beschädigt.

Stattdessen sollte man in der religiösen Sphäre den Nihilismus akzeptieren. Er bleibt eine Drehrichtung des Religiösen, die nicht blockiert werden kann und darf – wenn man nicht die spirituelle Dimension des Daseins überhaupt zerstören will. Sie muss in Kauf genommen werden. Die Religion bleibt das große, unbeherrschbare Fenster nach draußen, bei dem die Menschen sich nicht aussuchen können, was dadurch hereinkommt. Sowenig, wie die Menschen sich die Größe Gottes aussuchen können. Diese Offenheit, die den Menschen transzendiert, muss bleiben. Diese Offenheit darf auch nicht im Namen eines „Konsens“ zwischen den Religionen aufgegeben werden. Auf der Ebene des Glaubens sind die Religionen prinzipiell nicht friedensfähig. Sie sollen es auch nicht sein, weil das nicht ihre Bestimmung ist.

Das bedeutet aber auch, dass es keine Pflicht zur Religion gibt. Wenn man der Religion zugesteht, dass sie radikal sein darf und diese Welt mit Drohungen von Erbsünde, Weltuntergang und ewiger Verdammnis überziehen darf, so darf sie umgekehrt auch keinen Schutz vor radikaler Ablehnung, vor Spott und Karikatur beanspruchen. Es gehört zur Religionsfreiheit, dass sie das Recht der Menschen einschließt, dies Fenster zum Absoluten zuzumachen – auch mit schallendem Gelächter.

Die Rede von der Religion, die „an sich“ das Gute will und nur von schlechten Menschen missbraucht wird, führt also auf einen Irrweg. Sie führt zu einer spirituellen Selbst-Zensur. Sie birgt die Gefahr, dass die Menschen sich in enge, allzu gemütliche Horizonte einschließen.

Die totalitäre Gefahr

Und doch – die nihilistische Drehrichtung des Religiösen ist eine Bedrohung. Man muss diese Bedrohung aber präzisieren: Sie besteht darin, dass die Verbindung zum Absoluten das ganze Dasein und die gesamte kulturelle, wirtschaftliche, politisch-rechtliche Realität besetzt. Dass sie also total wird.

Und genau diese Richtung enthält die Radikalisierung des Islam. Es gibt deutlich Anzeichen, sich hier ein totalitärer Machtanspruch und Machtkomplex gebildet hat und weiter verstärkt. Die Welt sieht sich einem religiös fundierten Totalitarismus ausgesetzt, der umfassende, lückenlose Herrschaftsansprüche mit monströser Grausamkeit durchzusetzen versucht. Wir sind es gewohnt – mit unserer Erfahrung des Totalitarismus des 20. Jahrhunderts – nur soziale oder nationale Quellen des Totalitären ernst zu nehmen. Die politische Diskussion interessiert sich wenig für spirituelle Fragen. So bleibt die geistige Auseinandersetzung mit dieser neuen Form des Totalitarismus seltsam blass. Im Grunde will man die Möglichkeit eines theologisch getriebenen Totalitarismus nicht wahrhaben.

Doch darum geht es: Wenn die nihilistischen Tendenzen einer Religion zu einem Machtanspruch werden, der auf Politik, Wirtschaft und Kultur übergreift und sich ganze Länder und Weltregionen unterwerfen will, ist eine neue totalitäre Bedrohung da. Solange der Nihilismus in der religiösen Sphäre bleibt und dort eingehegt wird, kann die Welt damit leben. Aber wenn sie auf andere Sphären übergreift, ist die rote Linie überschritten. Dann wird das Absolutum Gott in eine absolute Unterwerfung übersetzt. Das Phänomen des Selbstmordanschlags, das viele Menschen zu der Äußerung verleitet „Ich verstehe nicht, wie man das tun kann“, zeigt diese Kernschmelze.

Wo die moderne Zivilisation gerade aus der Distanzierung zwischen Gott und Welt ein Motiv zur konstruktiven Anstrengung der Menschen gewinnt und ihre selbständige Bewährung vor Gott versteht, entsteht aus dem Kurzschluss zwischen dem Absoluten und dem Weltlichen eine Negativ-Dynamik. Die radikale Verneinung des Daseins und die schrankenlose Vernichtungstat erscheint dann als die höchste und letzte Bestätigung der Größe Gottes.

Hier besteht ein wichtiger Unterschied zu den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Bei diesen konnte man davon ausgehen, dass ihnen durch die Fortschritte der modernen Zivilisation und Rechtsordnung wesentliche Kraftreserven entzogen würden. Bei dem theologisch-nihilistisch begründeten Totalitarismus kann man davon nicht ausgehen. Der religiöse Nihilismus kann sich weltlichen Maßstäben immer wieder entziehen, er ist gegen korrigierende Erfahrungen der irdischen Realität weitgehend immun. Dieser Totalitarismus wird sich also nicht mit den Fortschritten der modernen Welt in Wohlgefallen auflösen. Wir werden dauerhaft im Schatten dieser Bedrohung leben müssen – und daher eine dauerhafte Wehrhaftigkeit aufbauen müssen.

Eigentlich ist diese Bedrohung auch gar nicht so neu, sondern älter als die Totalitarismen des 20. Jahrhundert. Man denke an die religiösen Bürgerkriege in der frühen Neuzeit, bei denen entfesselte Absolutheitsansprüche große Teile Europas über Jahrzehnte und Jahrhunderte verwüsteten. Es war diese Erfahrung, die einen wesentlichen Anstoß zur Errichtung des säkularen Verfassungsstaates gab. Insofern drängt in unserer Zeit nun ein Unheil wieder von außen nach Europa hinein, das schon erfolgreich eingehegt worden war. Wir müssen die Wehrhaftigkeit gegen dies religiös-totalitäre Unheil also gar nicht neu erfinden. Es gehört schon zu unserem Zivilisations-Code.

Staat und Religion: Das „doppelte Brechen“ von Absolutheitsansprüchen.

Wie muss man sich diese Wehrhaftigkeit vorstellen? Sie muss in der Verfassung eines Staatswesen verankert sein, wo die verschiedenen Geltungssphären abgegrenzt werden und die verschiedenen Freiheiten geordnet werden müssen. Nur der Verfassungsstaat bietet die notwendige Allgemeinheit, um ein Übergreifen einzelner Ansprüche zu verhindern. Die Abwehr einer totalitären Grenzüberschreitung des Religiösen findet im deutschen Grundgesetz einen klaren Ausdruck. Es gewährt den Schutz des religiösen Glaubens nur soweit, wie die Religionsfreiheit nicht gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gewendet wird.

Im Grund handelt es sich um eine Paradox: Denn die Religion vertritt ja die Verbindung zum Absoluten und das scheint sich, auf den ersten Blick, mit keiner Einschränkung zu vertragen. Aber das Absolute bewegt sich als Religion doch auf weltlichem Boden und muss, auf diesem Boden, andere Realitäten und Geltungsansprüche akzeptieren. Es ist hier nur eine Macht neben anderen Mächten. So muss einerseits die staatliche Verfassung sicherstellen, dass die Verbindung zum Absoluten keiner Zensur oder Einschränkung der Glaubenspraktiken unterliegt. Und die gleiche Verfassung muss andererseits sicherstellen, dass es allgemeinverbindliche, weltliche Rechtsgüter und Rechtsräume gibt, denen sich auch die religiösen Ansprüche unterordnen müssen.

Ein praktisches Beispiel für dies Paradox: Es gibt Räume, in denen die Religionsfreiheit das Recht hat, eigene Kleiderordnungen zu diktieren – zum Beispiel in religiöse Kultstätten und Einrichtungen. Und es gibt Räume, in denen die weltlichen Rechtsgüter ihr Recht behaupten und eine entsprechende weltliche Kleidung verlangen dürfen – zum Beispiel bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und Amtsfunktionen. Das gilt auch im Bildungswesen. Soweit dort Religionsunterricht stattfindet, sind religiöse Kleiderordnungen gerechtfertigt. Soweit weltliche Fächer (einschließlich Sport) unterrichtet werden, kann demgegenüber eine andere, nämlich weltliche Kleiderordnung verlangt werden. Das gilt auch für das Schulgelände insgesamt.

„Weltlichkeit“ wird hier als substanzielles, inhaltsvolles Rechtsgut verstanden, so wie die weltlichen Schulfächer auf den Regeln des Wissens und nicht auf den Regeln des Glaubens beruhen. „Weltlichkeit“ ist nicht nur ein leerer Raum des beliebigen Nebeneinanders von Allen und Allem. Es ist deshalb legitim, am Schultor von Lehrern und Schülern zu verlangen, dass sie eine Kleidung, die ihre religiöse Zugehörigkeit zeigt, abzulegen. Auf dem Schulgelände gehören sie der diesseitig, weltlichen Ordnung an. Sie sind ihr den gleichen Respekt schuldig, den sie im Gegenzug an anderem Ort für ihre Religion von anderen erwarten.

Im Grunde geht es um ein doppeltes Brechen von Absolutheitsansprüchen. Im Namen der Religionsfreiheit kann die Allgemeinverbindlichkeit staatlicher Ansprüche gebrochen werden und auf das Feld weltlicher Ordnung verwiesen werden. Und im Namen der öffentlichen Rechtsgüter und Einrichtungen kann die Absolutheit religiöser Ansprüche gebrochen werden und auf die religiöse Sphäre verwiesen werden.

Dies Brechen mag bisweilen kleinlich erscheinen. Aber es ist – vor dem Hintergrund der Gefahr einer totalitären Wendung des Religiösen – von immenser Bedeutung. Und es ist angesichts der Radikalisierung des Islam auch hochaktuell. Umso gravierender ist die Einseitigkeit und Nachlässigkeit, die in der deutschen Politik (und Rechtsprechung!) bei dieser Aufgabe eingerissen ist. Man denke an die Freisprüche im Prozess gegen die sog. „Scharia-Polizei“ in Wuppertal, an die Zulassung des Kopftuch-Tragens im Richteramt, an die „kulturelle Relativierung“ von Polygamie oder Zwangsverheiratung Minderjähriger (oder gar von Kapitalverbrechen wie „Ehrenmord“). Man denke auch an die Tatsache, dass eine Grauzone entstanden ist, in der Scharia-Richter in Deutschland Recht sprechen. In Deutschland hat sich der Gesetzgeber nicht dazu durchringen können, ein Verbot der Vollverschleierung in der Öffentlichkeit durchzusetzen.

Die Liste dieser Duldungen von Übergriffigkeiten im Namen der Religion ist lang und ist noch lange nicht vollständig. Sie zeigt eine falsche und geradezu irrsinnige Toleranz an einer sensiblen Bruchstelle unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Sie deutet darauf hin, dass in der politischen Klasse und in der Richterschaft der Bundesrepublik die Übersicht über die Architektur des modernen Verfassungsstaates verloren gegangen ist. Und dass die Aktualität der Bedrohung durch einen neuen theologisch getriebenen Totalitarismus hier noch gar nicht angekommen ist. Würde man diese Gefahr ernstnehmen, würde man gerade schon bei den kleineren Übergriffigkeiten im Namen religiöser Ansprüche kompromisslos einschreiten.

Umso wertvoller ist, dass es jetzt Stimmen von kompetenter Seite gibt, die vor einer Verschiebung in der Architektur des Verfassungsstaates warnen – so der Beitrag „Begegnung mit dem Absoluten“ von Prof. Udo di Fabio, der von 1999 bis 2011 Richter am Bundesverfassungsgericht war (in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 22.12.2016).

 

 

(erschienen bei „Die Achse des Guten“ am 31.12.2016)