Vor den Wahlen: Nordrhein-Westfalen befindet sich seit 30 Jahren im rastlosen Strukturwandel. Aber er kommt zu keinem Ergebnis.

NRW – Am Ende eines Sonderwegs

In der Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Karl Arnold (CDU) vom 21.9.1950 steht ein vielzitierter Satz: „Das Land Nordrhein-Westfalen wird das soziale Gewissen der Bundesrepublik sein“. Das Sitzungsprotokoll vermerkt ein vielstimmiges „Bravo“, das wohl nicht nur von der Regierungsfraktion kam. Der Satz ist eine Art Gründungsmythos des erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Gebildes NRW. Die Sozialdemokratie hat ihn übernommen und behauptet die Macht nun ununterbrochen seit 1966. Sie ist „die“ Partei eines Landes, das immer mehr sein wollte als nur ein Bundesland. So geht es in hiesigen Wahlkämpfen oft nicht so sehr um die Bilanzen einer Legislaturperiode – es geht um Höheres: um das Soziale schlechthin.

Mit dem Gründungsgeist der Bundesrepublik hat der NRW-Mythos nichts zu tun. „Wir in NRW“ waren immer ein bisschen unmittelbarer zu Gott, und wer hätte das wunderbarer verkörpert als Johannes Rau, der Erfinder dieser Formel. Schon der anmaßende Satz vom sozialen Gewissen war im Kern gegen Adenauer gerichtet. Arnold versuchte, das Bindestrich-Land im Westen gegen die Bonner Republik aufzubieten, und diese Konstellation kehrte in der Deutschland-Politik wieder, als von hier aus immer wieder neutralistische Ideen auftauchten – von der Gesamtdeutschen Volkspartei Gustav Heinemanns bis zur schillernden Ostpolitik mancher Ruhrkonzerne. Das Großgebilde NRW wurde nicht nur zur größten sozialpolitischen Umverteilungsmaschine in der Bundesrepublik, sondern auch zu einem Gegengewicht gegen die deutsche Westoption, wobei großindustrielle Interessen und die sogenannte Friedensbewegung bisweilen sehr dicht beieinanderlagen.

Es ist keine Überraschung, dass hier auch das Bildungsthema nicht ohne Anmaßung angefasst werden konnte: Man wollte „das Bildungsland“ überhaupt sein. Der Anspruch hatte mit messbaren Leistungen und Aussichten in der Berufstätigkeit wenig zu tun. Beim Unterrichtsausfall nimmt das Land inzwischen eine Spitzenposition ein, während es seine hohen Studentenzahlen damit erkauft,dass es pro Studienplatz am wenigsten ausgibt: 6030 Euro (Bayern 10210, Niedersachsen 9300). Es passt ins Bild, dass die Landesregierung nun das erste Schulzeugnis mit Noten bis ans Ende des dritten Schuljahres verschoben hat.

An anderer Stelle findet eine Art innere Neutralisierung statt. Energiepolitik, Verwaltungsreform, Metrorapid, Kopftuchverbot, Studiengebühren – es wird einfach nichts Größeres mehr angefasst. Das hat systematische Gründe, denn in der Regierung ist eine Hälfte vertreten, die von Herzen all das ablehnt, was das Rheinland oder Westfalen im Konzert der Bundesländer zu bieten hätte. Beides sind Herstellerländer – sowohl bei bei den großen Material- und Energiefabriken am Rhein als auch bei den hartnäckigen westfälischen Mittelindustrien -, aber man will Verbraucherschutzland sein. Beide hatten bereits entwickelte Technologiebestände und Wissenstraditionen, aber man wollte partout eine andere, leichter verteilbare Bildung. So entstanden oft freischwebende Massenhochschulen, die ohne Auswahlkriterien eine Art Parallelgesellschaft bilden.

Das Großgebilde Nordrhein-Westfalen

Ein ganz äußerliches, geradezu mechanisches Merkmal sticht hervor: die Größe des Gebildes, das da Bundesland sein soll. Gewiss, flächenmäßig fällt Nordrhein-Westfalen neben Bayern oder Niedersachsen nicht besonders auf. Aber mit 18 Millionen Einwohnern hat es ein Viertel der bundesdeutschen Bevölkerung eingesammelt. 30 der 84 deutschen Großstädte liegen hier. Es ist größer als alle nördlichen Bundesländer zusammen. Allein sein Bildungsetat übertrifft den Gesamthaushalt von Hessen, und es hat mehr Studierende als Bayern und Baden-Württemberg zusammen.

Was ist das für ein „Bundesland“, dessen Bruttoinlandsprodukt größer ist als das Belgiens oder der Niederlande? Wer in Europa würde auf die Idee kommen, eine solche Bürgermasse als Land im Lande zu formieren? In Frankreich müsste man die beiden größten Regionen „Ile de France“ (mit Paris) und „Rhone Alpes“ (mit Lyon) auf einen Haufen werfen, in Italien die Lombardei, Piemont und Venetien. Durch seine Übergröße ist das NRW-Gebilde eine Art Zwischenstaat zwischen Bund und Ländern, der durch seine Masse die Möglichkeit hat, Bundesgesetze ebenso zu unterlaufen wie den Wettbewerb mit anderen Bundesländern zu verzerren. Wenn Nordrhein-Westfalen im Tarifrecht des Öffentlichen Dienstes oder im Umgang mit Studiengebühren einen bestimmten Weg einschlägt, dann folgen ihm auch andere Länder.

Von Montesquieu stammt die These, dass ein großes Staatsgebiet zur Despotie tendiert. Wo die Unübersichtlichkeit groß ist, müssen Entscheidungen wie willkürliche Schwertstreiche durchs Land gezogen werden. Doch viel bewegt das Schwert nicht: Eine Despotie steht auf dünnen Beinchen. Wo die Reiterei des Herrschers durchgetrampelt ist, wachsen die Wege wieder zu. Man mag hier an ferne asiatische Riesenreiche denken, aber in unseren komplizierten Zeiten kann auch ein übergroßes Bundesland erstaunliche Verwerfungen hervorbringen. Der Trumpf der subsidiären Aufgabentrennung zwischen Bund und Ländern sticht ja nur, wenn die Gebietsgrößen auf beiden Ebenen signifikant unterschiedlich sind. Nur dann werden für die spezifischen Länderaufgaben auch die entsprechend begrenzten Wirkungsfelder geschaffen. Nur dann können Handlungen bilanziert und ihre Folgen bewertet werden. Nur so kann Verantwortungsethik an die Stelle von Gesinnungen treten. Dies gilt umso mehr, als ein modernes Staatswesen feste Bestände in Form von Straßen, Schulen, Büros, Sicherheitsanlagen umfasst, die nur in einer überschaubaren Geographie gepflegt und entwickelt werden können.

Der unendliche „Strukturwandel“ und der Projekte-Staat

Nun gibt es in der neueren NRW-Politik eine gewisse Verschiebung von der Bestandsentwicklung zur Projektverteilung. Die Regierung lobt irgendeine gute Absicht mit einem Förderbetrag aus, und erteilt dann – mit oder ohne Wettbewerb – ihre Zuschläge. Ist die Förderung vorbei, erlischt das Projekt. Aber schon wartet ein neues, wiederum wegweisendes Einzelvorhaben. Es geht um das „Zeichen setzen“, und da gebärdet sich ein simples Metallgestell auf einer Abraumhalde dann als ausgewachsener Mythos. So füllt sich das Land mit Landmarken der guten Absichten, mit Beispielvorhaben, Anstoßfinanzierungen, Eröffnungen und Preisverleihungen, die wiederum eine lebhafte Besuchs- und Beratungstätigkeit mit sich führen. Agenden und Agenturen treten an die Stelle stetiger Verwaltung und Finanzierung. Der Staat wandelt sich vom Anstaltsstaat zum Veranstaltungsstaat. Der Trend zur Festivalisierung des politischen Lebens ist von der Internationalen Bauausstellung Emscherpark (1989 bis 1999) bis zur Bewerbung des Ruhrgebiets zur Europäischen Kulturhauptstadt 2010 unverkennbar.

Jedes Projekt schafft ein Netzwerk aus sehr kleinen, aber unzähligen Einzelbeiträgen. Jede Genehmigung trägt mindestens zehn Stempel, von denen – unauffällig, aber nie unwichtig – der letzte immer in der Hand der Landesregierung liegt. Die Netzwerke sind so verzweigt, daß es niemand im Lande gibt, der einigermaßen beziffern kann, wieviel Geld über die Jahrzehnte wohin geflossen sind und mit welchen Resultaten. So wachen die Bürger im Grunde jeden Morgen mit dem Gefühl auf, der Aufbau des Landes ginge wieder von vorne los. Als Ministerpräsident war Wolfgang Clement die Symbolfigur dieser ziellosen Rastlosigkeit.

Ein Codewort dafür lautet „Strukturwandel“. Der dauert nun schon fast 50 Jahre und will einfach nicht enden. Er kann es auch nicht, weil er gar keine messbare Zielgröße hat. Mit dem Bergbau hat das längst nichts mehr zu tun. In Nordrhein-Westfalen heißt jede normale Branchenverschiebung gleich Strukturwandel. Dies System hat kaum Wirkungen auf die Erwerbstätigkeit – aber doch erhebliche soziale Effekte. In bestimmten sozialen Sektoren gibt es kaum jemand, der nicht schon einmal eine Förderung erhalten oder doch erhofft hat. Oder zumindest als Publikum beteiligt war. Auf manchen Veranstaltungen sieht man die Anwesenden eifrig und ängstlich bemüht, jene Codewörter zu berühren, die den Zugang zum Wohlwollen der Netzwerke eröffnen. Das Dauercasting des Veranstaltungsstaates schafft so etwas wie eine Nomadenklasse von Projektabhängigen.

Während überall im Land die Projekt-Kavallerie unterwegs ist, verfallen die eher statischen Einrichtungen der normalen Förderung. Im Schulsystem gelingt keine verlässliche Versorgung mehr. Die Menschen leiden nicht unter großen Eingriffen, sondern unter der Ausbreitung der kleinen Willkür. Ob ein Lehrer dauernd fehlt oder nicht, ob sich ein Schüler Mühe gibt oder nicht, ob ein Gebäude gepflegt wird oder sich Vandalismus einnistet – diese normale Unterscheidungsmacht des Staates wird schwächer, ja, sie wird geradezu verweigert. Hier breiten sich leere Versprechen oder offene Kapitulation aus. Die vielen kleinen Erfahrungen häufen sich im Verborgenen, nur selten gelangen sie in die Sendungen des WDR.

Wenn inzwischen vielerorts die Autonomie der einzelnen Einrichtungen gefordert wird, ist das zwar keine Lösung, aber es zeigt, dass man den Hebeln einer übergreifenden Verwaltung wenig zutraut. Hier liegt offenbar ein wichtiger Unterschied zum Beispiel zu den bayerischen Verhältnissen, wo diese Hebel der Überprüfung an Ort und Stelle standhalten – und die Macht der CSU mehr Vertrauen erweckt als ihre Konkurrenten. In NRW zeigt die Kontinuität der SPD-Macht nur, dass man eine Regierung auch dadurch behaupten kann, dass man das Land in Unordnung hält.

Letzten Endes ist es die Übergröße des nordrhein-westfälischen Doppellandes, die immer wieder zu einer Politik der zeitlosen Gesinnungen und kurzatmigen Projekte verführt. Jeder der beiden Teile ist in sich schon so kompliziert, dass er als Bundesland genug zu tun hätte. Das Rheinland, das durch die beiden Regierungsbezirke Köln und Düsseldorf gebildet wird, liegt mit seiner Bevölkerung, Wirtschaftskraft und seinen 18 Großstädten mindestens auf Augenhöhe mit einem Land wie Hessen. Westfalen braucht einen Vergleich mit Niedersachsen nicht zu scheuen – die provinziellen Namen der Regierungsbezirke täuschen. Beide zusammen aber können zu keiner akzeptierten Rangordnung im Städtewesen kommen, wie sie in den Zwanziger Jahren klassisch am Fall Süddeutschlands von dem Geographen Walter Christaller als „System Zentraler Orte“ demonstriert wurde.

Die unvollendete Landesentwicklung des Rheinlandes und Westfalens

Auch historisch waren weder das Rheinland noch Westfalen mit dem je eigenen Weg zu einem modernen Bundesland fertig. Von vornherein wirkte der napoleonische Einfluss hier ungünstiger als im Süden: Während die linksrheinischen Gebiete Frankreich einverleibt wurden, wurde rechtsrheinisch die alte Gemengelage des Reichs durch eine neue Gemengelage fortgesetzt, in der keine mit dem Süddeutschen vergleichbare Staatenbildung zustande kam. Die Befreiungskriege ließen dann den ganzen Westen an Preußen fallen, das dort mit der Rheinprovinz und Westfalen im Ansatz zwei Westländer bildete. Das war eigentlich eine günstige Konstellation. Denn in dem Maße, in dem Preußen als Führungskern der deutschen Einheit seinen Partikularismus abstreifte, konnte es unter sich den Platz für föderalisierungsfähige Bundesländer frei machen. Sowohl das Rheinland als auch Westfalen hätten hier in die Rolle hineinwachsen können, die die süddeutschen Staaten schon deutlicher einnahmen. Dieser Prozess ist in Deutschland aber nicht zu Ende gekommen. Preußen blieb an seiner Rolle als Regionalmacht kleben, und diese schlechte Mittelstellung trug zu verschiedenen Verwerfungen bei. Der deutsche „kooperative“ Föderalismus mit seinen gegenseitigen Blockademöglichkeiten ist auch ein Erbe der schlechten Mittelstellung Preußens.

Nicht, dass der preußische Einfluss in Deutschland zu groß gewesen wäre. Er war zugleich zu schwach und zu stark: In der Wahrnehmung der Einigungsaufgabe fiel er hinter die Kühnheit der historischen Kerngebiete Großbritanniens oder Frankreichs zurück, während er in der Neigung zu einer großregionalen kulturellen Homogenisierung eine unnötige Enge „preußischen Geistes“ erzeugte. Die Autonomisierung von Territorien aus dem Preußenkomplex – die Bildung von Niedersachsen, Hessen, Rheinland-Pfalz nach 1945 und die Bildung der neuen Bundesländer nach 1989 – ist daher eine außerordentlich positive und wichtige Entwicklung, ebenso wichtig wie der Berliner Zentralismus. Das NRW-Gebilde aber liegt quer zu dieser Tendenz und ist eher das Relikt einer schlechten Tradition. Seine Mittelstellung zwischen Bund und Ländern ist ebenso wie der Blockade-Föderalismus historisch das Erbe einer verweigerten Trennungsarbeit zwischen Bund und Ländern.

Die besondere Rolle des Ruhrgebiets…

Allerdings gibt es einen Punkt, der dem Sondergebilde NRW in der Tat eine rationale Grundlage verschafft hat. Hier befand sich ein besonderer Konzentrationspunkt, ein neuralgischer Punkt im deutschen und europäischen Maßstab: das rheinisch-westfälische Industriegebiet. Die Produktivität der „Ruhr“ sprengte den Rahmen eines normalen Bundeslandes. Zusammen mit der Montan-Union bildete die Länderfusion da eine moderate Lösung. Sie bettete das Revier ein, so wie umgekehrt das Revier die eigentliche Klammer zwischen dem Rheinland und Westfalen darstellte. Das war eine durchaus reale technische, wirtschaftliche und soziale Klammer. Eine landeshoheitliche Grenze mitten durchs Revier konnte man sich gar nicht vorstellen. Als dann der Kohle-Stahl-Komplex seine überragende Bedeutung verlor, kehrte sich das Einbindungsproblem um. Jetzt wurde wiederum ein großes Bundesland gebraucht, das mit seinen wirtschafts-, bildungs- und sozialpolitischen Hebeln Hilfe leisten konnte. Diese Sozialschuld gegenüber dem Ruhrgebiet gab dem NRW-Konstrukt eine zweite Legitimität.

Aber so sehr man dies Ruhrargument vertreten konnte, so sehr muss es heute zum entgegengesetzten Schluss führen. Denn das Revier gibt es nicht mehr – weder im Guten noch im Schlechten. Die Häufung von Siedlungs- und Verkehrsstrukturen zwischen Dortmund und Düsseldorf enthält heute die unterschiedlichsten Arbeitsmärkte, Unternehmenszusammenhänge und Standortentwicklungen. Die geographische Einheit, die man per Luftbild gewinnt, ist eine optische Täuschung, die das Nebeneinander ganz unterschiedlicher Lokalgeschichten verdeckt. Eine kürzlich erschiene Studie des Prognos-Instituts belegt, dass die Probleme und Erfolge der Teilregionen des Ruhrgebiets gar nicht mehr besonders von denen des Aachener oder des Bielefelder Raums abstechen. Die Tätigkeiten der verschiedenen IHKs, der Gewerkschaften oder der Wirtschaftsförderung sind überall gleich ähnlich und gleich verschieden.

…ist Vergangenheit

Das bedeutet, dass der Vorrat an Gemeinsamkeiten, der den NRW-Komplex zusammenhält, zur Neige geht. Es machen sich starke zentrifugale Tendenzen im Land bemerkbar. Dies mag der Grund dafür sein, dass ausgerechnet jetzt das Ruhrgebiet als geradezu magischer Ort des Landes beschworen wird. Von einer „Ruhrstadt“ ist die Rede, beim ehemaligen Städtebauminister Zöpel gar von einer „Weltstadt Ruhr“. Die Zeche Zollverein, irgendwo im Essen-Gelsenkirchener Niemandsland gelegen, wird gerade als Zentralort für die Bewerbung des Ruhrgebiets zur „Kulturhauptstadt Europas 2010“ ausgebaut. Der Kommunalverband Ruhr wurde zum Regionalverband umgewandelt. Das mag als Marketing-Idee für einige Zeit interessant sein, belastbare Zentralfunktionen für diese neue Mitte kann aber niemand benennen. Der Alltag kennt andere Probleme: Vor einigen Jahren wollten die Katasterämter dreier Ruhrgebietsstädte zusammenarbeiten, aber es stellte sich heraus, dass die Kosten der Kooperation den Nutzen erheblich überstiegen. Auf der anderen Seite handelt die Landespolitik genau entgegengesetzt, wo es um die Bildung kleinerer, auf das Rheinland oder Westfalen bezogener Städtehierarchien geht. Der Metrorapid, den man sich als Brücke zwischen einem westfälischen Tor Dortmund und einem rheinischen Tor Düsseldorf vorstellen könnte, wurde über Nacht abgesagt.

Die gekünstelte Folklore der neuen Ruhraktivitäten, die sang- und klanglosen Absagen von Schlüsselvorhaben, die Politikverweigerung im Bildungswesen – dies alles sind Anzeichen dafür, dass „Wir in NRW“ am Ende des Sonderwegs angelangt sind. Nach den Industriebrachen werden nun die ersten Projektbrachen sichtbar. Inzwischen scheint die Festivalisierung der Staatstätigkeit auch ihre Anhänger etwas zu langweilen. Die Landespolitik wirkt zunehmend steril. Insofern ist der amtierende Regierungschef ein ehrlicher Schlusspunkt.

Wechselstimmung ohne Aufbruch?

Wenn in einem Großgebilde wie NRW sich heute Wechselstimmung zeigt, so hat diese sehr wenig von einem großen Aufbruch. Man findet oft einen ausgeprägten, bisweilen etwas separatistischen Lokalwillen, der es auf eigene Faust besser machen will. In den größeren Fragen gibt es viel Abwarten und wenig Vertrauen. Auch darin kommt das Ende eines langen Sonderwegs der übertriebenen Erwartungen zum Ausdruck. Vertrauen ist keine Gabe, die den Bürgern in die Wiege gelegt ist, und auch nicht nur eine Frage der „Psychologie“. Vertrauensbildung braucht größere, realitätstüchtige Strukturen. Die regulären Einrichtungen des Staatswesens sind das wichtigste Unterpfand in den Händen des Steuerzahlers. Ein erster Wechsel im Lande könnte sich darin ausdrücken, dass diese Bestände wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken und das Projektgestrüpp gelichtet wird.

Eine solche Bestandspflege würde allerdings bald auf das Problem einer räumlichen Ordnung stoßen, ohne die Stetigkeit und Überschaubarkeit nicht zu haben ist. Das kann auf Dauer weder der lokale Rahmen noch der unförmige NRW-Gesamtrahmen leisten. In dieser Situation könnte eine Orientierung an den beiden Teilräumen und Ursprungsländern, am Rheinland und an Westfalen, einen neuen Wert bekommen. Eine rheinländische und eine westfälische Perspektive könnte die Sterilität des Mega-Bundeslandes aufbrechen, ohne in Provinzialismus zurückzufallen.

Man kann es auch so sagen: Es geht um eine Neugestaltung des Westens unserer Republik. Der NRW-Komplex war ein gebauter Vorbehalt gegen die Normalität von Marktwirtschaft und Föderalismus. Der Sonderzuschnitt dieses Landes erzeugte die Neigung, es als neutralisierendes Gewicht einzusetzen. Diese Geschäftsgrundlage hat sich weitgehend aufgelöst, nicht zuletzt durch die Änderungen im Osten. So darf sich im Westen nun auch etwas ändern – und noch ein bisschen mehr Westen gemacht werden.

 

 

(erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung am 24.4.2005)