Die US-Haushaltskrise zeigt, wie schnell politische Grenzen der Staatsverschuldung hinfällig werden. Das weckt auch Zweifel an der Schuldenbremse in Deutschland (Aus dem Archiv) 

Too late to fail?

Der US-Haushaltsstreit ist vorläufig beigelegt und die Überschrift, unter der dieser Vorgang dem Publikum hierzulande präsentiert wird, lautet „Erleichterung in Amerika“. In der Tat sind die Staatsangestellten, deren Bezahlung ausgesetzt wurde, erleichtert. Ebenso die Kunden öffentlicher Dienstleistungen, die vor verschlossenen Türen standen. Und die Aktienmärkte, die bei einer Zahlungsunfähigkeit des Staates einen schweren Einbruch befürchten mussten. Sie alle sahen sich in diesem Oktober 2013 in einer Alles-oder-Nichts-Situation. Nicht die eine oder andere Ausgabenkürzung, auf die der Bürger sich einstellen kann, stand ins Haus, sondern das Land sah sich plötzlich vor einem Abgrund. Kein Wunder, dass das die Menschen bedrückte und sich die elementarsten Fragen in den Vordergrund drängten: Womit bezahle ich meine Miete, wie komme ich zur Arbeit, wo bringe ich die Kinder unter? Zugleich gab die Plötzlichkeit, mit der diese Situation eintrat, der Vermutung Nahrung, dass hier die Willkür politischer Machtspiele am Werk war, und es lag in der Natur der Sache, dass die Opposition zum Hauptverdächtigen wurde, denn sie war es ja, die der Regierung Schwierigkeiten machte und sie am Weiterregieren hinderte. So bekamen die Republikaner die ganze Wucht zu spüren, die in unseren Zeiten derjenige erfährt, der versucht, sich den Zwängen des täglichen Zahlungsstroms entgegenzustellen. Sie standen als die ideologisch Verbohrten und Rücksichtslosen da, als unamerikanische Störenfriede.

Doch das ist nur die halbe Wahrheit, sogar weniger als die Hälfte. Denn die Überschuldung der USA ist eine Tatsache, auch wenn sie in diesen Tagen der unmittelbaren Betroffenheit in den Hintergrund gerückt ist. Im Oktober 2013 hat die Verschuldung der USA die gesetzliche Obergrenze erreicht. Für die Fortsetzung der Ausgabenpolitik der Obama-Administra-tion musste also ein Eingriff in die bestehende Gesetzeslage vorgenommen werden. In einer zentralen Frage, denn mit der Schuldengrenze wurde ein etabliertes Gleichgewicht zwischen Staat und Gesellschaft verändert. Und nicht ein einmaliger Notfall – einer Naturkatastrophe, eines Krieges – war der Grund, sondern eine schon länger bestehende, kontinuierlich wachsende Schieflage: Die am Kapitalmarkt gehandelte Bundesschuld hat sich in den vergangenen 10 Jahren auf 73% der Wirtschaftsleistung gesteigert und damit mehr als verdoppelt. Im kommenden Jahrzehnt rechnet man, allein wegen der Alterung der Gesellschaft, mit weiteren erheblichen Steigerungen. Angesichts solcher Zahlen ist ein Wachstum des Bruttoinlandsproduktes, das die Schulden wieder „einholt“ und die Verschuldungsrate auf das bisherige Maß zurückführt, nicht darstellbar. Die USA leben über ihre Verhältnisse, trotz ihrer Größe scheint ihre Entwicklung in einer Sackgasse zu stecken.

Doch wer solche Überlegungen anstellt, musste in diesen Oktobertagen feststellen, dass seine Worte wenig Gehör finden. Gesetze, Strukturen, Grenzen – das alles leidet unter einem rasenden Bedeutungsverlust. Es ist bloß „abstrakt“, während die Betroffenheit der Menschen viel greifbarer ist. Die Betroffenheit liefert nicht nur Worte, sondern auch Bilder, die mit den neuen Medien in Sekunden überall präsent sind und den Eindruck einer Notsituation, die keinen Aufschub duldet, noch verstärkt. Mit dieser neuen Distanzlosigkeit ist auch für den Unterschied von Bericht und Kommentar kein Platz mehr. Information und Wertung fließen zusammen. „Ein Sieg der Vernünftigen“ formuliert die ARD-Korrespondentin Tina Hassel in ihrem „Bericht“ über die Beilegung des Haushaltsstreits. Vom Schuldenproblem ist keine Rede mehr. Vernünftig ist von nun an, dem Diktat der Zahlungsströme, die immer neue Zahlungen fordern, zu folgen.

So kommt es, dass bei der Schuldzuweisung im Haushaltsstreit eine schlichte Tatsache fast nie erwähnt wird: Es lag in der Hand der Regierung und nicht der Opposition, die Zuspitzung der Schuldenkrise im Oktober zu verhindern. Aber die Obama-Administration hat über das ganze Jahr eine Ausgabenpolitik verfolgt, die sehenden Auges auf ein Durchbrechen der gesetzlichen Schuldengrenze zusteuerte. Sogar das Datum, an dem dieser Fall eintreten würde, war schon Monate vorher bekannt. Ganz offenbar hat Obama darauf gesetzt, dass in der Notsituation kurz vor Verschuldungsschluss letztlich doch alle zustimmen müssen. Er hat sich nicht geirrt. Wo Politik immer stärker dem Druck des Augenblicks ausgesetzt ist, wird sie vorausschauende Reformen mit schmerzhaften Anpassungen vermeiden und es lieber auf Notsituationen ankommen lassen, in denen die Fortführung des Status Quo schon als rettende Großtat erscheint. Aus der Finanzkrise kennen wir den Vorgang, dass bestimmte Banken auf Kredit eine so umfangreiche Geschäftstätigkeit entwickeln, dass ein Scheitern ganze Volkswirtschaften mit sich reißen können. „Too big to fail“ (Zu groß, um scheitern zu dürfen) heißt es dann. Nach dem Show down der US-Haushaltskrise müsste man nun von einen zweiten Mechanismus sprechen: Werden Korrekturen verzögert, wird eine Zwangslage des alternativlosen Weiter-So herbeiführt. Je länger man die staatliche Überschuldung wachsen lässt, umso folgenreicher – ja, unerträglicher – wird ein Umsteuern. Dies „Too late to fail“ ist ein eminent politischer Mechanismus, eine Regierungsmethode. Sie hat dem amerikanischen Präsidenten, dessen Position eigentlich als geschwächt galt, zu einem großen Coup verholfen.

Man kann den Republikanern sicher vorhalten, dass sie eine frühzeitige, konstruktive Sparpolitik mit konkreten Vorschlägen hätten verfolgen müssen, statt auf den Angriff in den Schlussminuten zu setzen und sich damit dem Verdacht auszusetzen, auch nur ein Machtspiel zu treiben. Doch wer jetzt über die Republikaner den Stab bricht oder ihnen gar empfiehlt, von den Demokraten und ihrem geschickten Manövrieren mit der Öffentlichkeit zu lernen, hat das Grundproblem der Überschuldung aus den Augen verloren. Denn eins ist sicher: Nach Obamas „Sieg“ ist es nun richtig schwer geworden, sich in zukünftigen Auseinandersetzungen sparsam zu zeigen. Von nun an muss jede Sparpolitik, auch in Europa, mit jener ultimativen „Vernunft“ rechnen, die im Oktober 2013 eine gesetzliche Schulden-Obergrenze wegwischen konnte, als wäre sie nichts. Wird die deutsche Schuldenbremse sich diesem Einfluss entziehen können?

 

 

(unveröffentlichtes Manuskript)