Das Diktat der Gewalt, das die Gegner des G20-Gipfels zeitweise in der zweitgrößten deutschen Metropole durchsetzten, hat die Bindungen der Stadtgesellschaft nachhaltig beschädigt.

Was in Hamburg droht

Die Hamburger Ereignisse sind erst zwei Wochen her und schon wird versucht, sie in den üblichen Schemata kleinzuarbeiten – wie eine Art Betriebsunfall. Zwar wird von „entfesselter Gewalt“ gesprochen oder von „kriminellen Banden“, aber die Heftigkeit der Sprache verdeckt die Machtfrage, die hier gestellt wurde. In Teilen der Stadt kam es faktisch zu einer Willkürherrschaft. Die Erfahrung, dass dies möglich war, liegt nun als Schatten über der gesamten Bürgerschaft und über dem Schutzvertrag, den der Staat ihr gegenüber zu erfüllen hat.

Hamburg ist verwundet und diese Wunde ist nicht dadurch zu heilen, dass man sich entschuldigt und Entschädigungen verspricht. Die Kräfte, die hier ganz unverhohlen zur Macht griffen, sind nach wie vor in der Stadt. Sie sind auch sehr viel weiter verzweigt, als es die Rede von der „Gewaltszene“ suggeriert. Es gab eine Spitze der Gewalt, bei der kleine Gruppen durch die Stadt marodierten und bei ihren „bewaffneten Angriffen“ (der SPD-Innensenator Grote) sogar den Tod von Menschen in Kauf nahmen. Und es gab eine Breite der Gewalt, die in Hamburg Blockaden errichtete und bestimmen wollte, wer sich wo bewegen darf. Diese Blockaden wurden auch nicht abgebrochen, als schon Brandwolken über der Stadt standen. Es war also eine zusammengesetzte Gewalt, die da am Werk war. Am Donnerstag, der 6.Juli, 21.39 Uhr, schrieb Jakob Augstein, Mitbesitzer des Spiegel-Verlags und Verleger der Wochenzeitung „Der Freitag“ auf Twitter folgenden Satz: „Der Preis muss so in die Höhe getrieben werden, dass niemand eine solche Konferenz ausrichten will.“ Das war eine Aufforderung an die Protestierer. Sie sollten sich nicht mit einer Kundgebung ihres Anliegens zufriedengeben, sondern materielle Beschädigungen des Stadtlebens herbeiführen. Nichts anderes besagt der Satz von dem Preis, der „in die Höhe getrieben“ werden soll. Der Preis ist die Not der Bürger, die dann dazu führen soll, dass sich die Regierenden dem Willen der G20-Gegner beugen. Herr Augstein hat also, an diesem ersten Tag des Hamburger Gipfels, zu einer Nötigung und Erpressung aufgefordert. Die Bürger werden als Geisel angesehen.

So ist es dann auch gekommen. Es fand also nicht einfach ein Duell zwischen G20-Anhängern und Gipfel-Gegnern statt, sondern die Stadt selber wurde zum Angriffspunkt der Erpressung gemacht. Deshalb sind die Ereignisse ein Einschnitt. Etwas wurde zerschnitten in diesen Tagen, das sich nicht so leicht wieder zusammenfügen lässt.

Zwei Risse in der Stadt

Zum einen ist das unsichtbare Band, das die Hamburger Stadtgesellschaft zusammenhält, beschädigt. Dies Band heißt Zivilität und besteht aus unzähligen, ungeschriebenen, unscheinbaren Formen, die oft selbstverständlich erscheinen, aber ohne die kein größeres soziales Gebilde funktioniert. Das gilt insbesondere für die großen Städte, wo eine große Menschenzahl dicht zusammenlebt, ohne sich näher zu kennen und ohne alles im Gespräch ausdiskutieren zu können. Zu diesen Formen gehören Höflichkeit, Takt, Aufmerksamkeit. Und auch Beobachtung und offene Missbilligung, wo Aggression und Verwahrlosung auftauchen. Zivilität ist also eine begrenzte Form der Gemeinschaftsbildung. Sie ist nicht allzu intim und beengend, aber sie begnügt sich auch nicht mit einem gleichgültigen gesellschaftlichen Nebeneinander. In diese Gemeinschaftlichkeit der Hamburger hat sich eine fundamentale Unsicherheit eingeschlichen. Dazu hat die Brutalität der Gewalt beigetragen, aber auch die Kälte, mit der sie exekutiert wurde, und die Willkür, mit der sie ihre Ziele auswählte. Ebenso dazu beigetragen hat die lässige Gleichgültigkeit, mit der die Willkürzustände in einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung aufgenommen wurden. Die Leichtigkeit, mit der Gewalttäter in der Stadtöffentlichkeit auf- und untertauchen konnte. Die Nähe, die zwischen den Formen der marodierenden Gewalt und den Formen der nomadisierenden Spaßgesellschaft bestand. So haben sich wichtige Ankerpunkte, an denen eine Bürgergesellschaft ein Minimum an gegenseitigem Halt findet, als trügerisch erwiesen. Und das alles, so fragen sich viele Hamburger, muss sich doch in unserer Mitte schon länger entwickelt haben? Haben wir uns so in unserer Stadt getäuscht? Sie haben aber auch einen Selbstzweifel: Sind unsere Erwartungen an eine zivile Bürgergesellschaft eventuell veraltet? Dürfen wir solche Erwartungen in der vielzitierten Globalisierung überhaupt haben?

Und noch ein zweiter Riss hat sich aufgetan. Auch das Schutzversprechen, das Gesellschaft und Staat miteinander verbindet, ist beschädigt. Die Menschen fragen sich, ob dies Versprechen noch gilt. Warum ist die Polizei so hilflos? Warum urteilt die Justiz nicht schneller und härter? Dieser Zweifel gilt nicht so sehr den Mitteln des Staates, sondern vielmehr der Bereitschaft des Staates, diese Mittel wirklich einzusetzen. Der Hamburger Senat hat geduldet, dass die „Rote Flora“ zum Stützpunkt von schweren Gewaltaktionen wurde. Gerichte haben angeordnet, dass der Senat anlässlich des G20-Gipfels „Protestcamps“ zulassen muss, obwohl man wusste, dass sie als Stützpunkte und Rückzugsorte für Gewaltaktionen dienen. Was dann in Hamburg geschehen ist, hat gezeigt, dass es um Sein oder Nicht-Sein des Schutzvertrages zwischen Gesellschaft und Staat geht. Und dass das Halten dieses Vertrages das gemeinsame Durchsehen schwerster Auseinandersetzungen bedeutet. Den Einsatz der entsprechenden Mittel des staatlichen Gewaltmonopols wurde aber von allen möglichen Seiten zu einem sozialen und rechtlichen Tabu erklärt. Auf den folgenden Bürgerversammlungen wurden die Menschen mit der Botschaft nach Hause geschickt, dass „das alles nicht so einfach“ sei. Später, bei nochmaligem Nachdenken, bemerkten die Bürger dann, dass ihnen nichts anderes gesagt worden war, als dass sie nun ständig mit der Gewalt-Drohung leben müssen. Man hat ihnen durch die Blume mitgeteilt, dass der Schutzvertrag zwischen der Gesellschaft und dem Staat faktisch außer Vollzug gesetzt ist. Kein Wunder, dass die Menschen da bedrückt sind. Sie fragen sich, ob sie sich in ihrem Staat so getäuscht haben. Sie sind aber auch im Zweifel, ob sie den Einsatz aller notwendigen Mittel überhaupt erwarten dürfen. Ist das Gewaltmonopol vielleicht eine „veraltete“ Vorstellung und sind wir in der Ära des „Post-Landfriedens“ angekommen?

An dieser Stelle wird deutlich, wie selbstzerstörerisch es wäre, wenn Deutschland jetzt einfach zur Tagesordnung übergeht. Es wird aber auch deutlich, dass es nicht um eine Schulddiskussion geht. Das tiefere Problem, das im Raum steht, ist ein normatives Problem: Welche Bindungen von Gesellschaft und Staat dürfen heute überhaupt erwartet und verlangt werden? Der vorliegende Text ist ein Zweiteiler – in diesem ersten Teil geht es um die Zerstörung des zivilen Bandes der Hamburger Stadtgesellschaft.

Die kalte Exekution von Gewalt

Es war in diesen Tagen viel von der „Wut“ die Rede, die in Hamburg angeblich zu einer „Gewaltorgie“ geführt hat. Solche Worte erwecken. den Eindruck, dass die Täter irgendwie spontan handelten. Sie bescheinigen ihnen menschliche Gefühle. Dabei wird ein ganz entscheidender Wesenszug der Gewalt ausgeblendet: Sie wurde mit mechanischer Kälte ausgeübt. Die Gewalt wurde exekutiert. Es liefen programmierte, systematische und antrainierte Gewalthandlungen ab. Es gab eine planvolle Logistik. Dazu gehörte auch die Heimtücke, mit denen andere Menschen als Schutzschilde gebraucht wurden. Und die Verschlossenheit der vermummten Gruppen, die das genaue Gegenteil der Freimütigkeit ist, mit der sich ein Volkszorn äußert. Nicht eine Betroffenheit und Verletzung standen am Anfang der Hamburger Ereignisse, sondern eine schon vorher aufgebaute Maschinerie der Gewalt lief ab.

Das ist auch an der Sprache ablesbar. Die FAZ (11. Juli) zitiert einen Blogger, der dabei war, ein gewalttätiger Mob im Schanzenviertel eine Rewe-Supermarkt aufbrach und plünderte. In seinen Worten hört sich das so an: „Rewe am Schulterblatt wurde von DemonstrantInnen geöffnet. Lebensmittel werden verteilt.“ Hier sprechen keine Hungernden, sondern ein Versorgungsausschuss der Macht. Die Organisatoren der Demonstration „Welcome to Hell“, die am Donnerstag den Ausgangpunkt der gewalttätigen Mobs bildete, gaben via Internet für den Fall einer vorzeitigen Beendigung der Demonstration die Anweisung, „spontan und unberechenbar“ zu sein und sich „in großen Gruppen zu bewegen“. Und weiter: „Denn wir nehmen uns die Straße, wann, wie und wo wir wollen.“ (Zitat FAZ 11.Juli). „Wir nehmen uns“ – Da ist er wieder, der Exekutions-Indikativ, der keine Begründung braucht und keinen Einwand duldet. Am 8. Juli hatte die gleiche Zeitung von einer kleinen Szene zu Beginn der Demonstration berichtet. Jemand fragt, warum sich der „schwarze Block“ an die Spitze des Zuges gesetzt hat. „Weil sie der schwarze Block sind, weil sie das wollen“ war die Antwort. Eine zweite Szene: Eine Gruppe Vermummter marodiert die vornehme Elbchaussee entlang. In einem Video, das aus einem Linienbus gemacht wurde, sieht man eine Gruppe Vermummter, die die Chaussee herunterzieht. Sie zünden Bengalos an, schwärmen aus und stecken Autos in Brand. Allein hier zählte man später 25-30 verbrannte Autos. „Bonzenviertel abarbeiten“ heißt das in Autonomenkreisen. Was wäre gewesen, wenn einer dieser „Arbeiter“ auf die Idee gekommen wäre, sich umzudrehen und Feuer in den Bus zu werfen? So etwas ist in Frankreich schon geschehen – eine junge Frau ist damals verbrannt.

Lassen wir einmal den Schwarzen Block beiseite. Was bedeutet es, wenn Straßenblockaden als „friedliche Aktionen“ bezeichnet werden? Damit wird nicht etwas, was einmal passieren kann, geschildert, sondern durch die Umdefinition von „Demonstration“ wird ein systematisches Recht auf Beschädigung des Stadtlebens und der Veranstaltungsfreiheit proklamiert. Es wird das Recht proklamiert, den Zivilkodex des städtischen Miteinanders nach eigener Willkür außer Kraft zu setzen. Es war das erklärte Ziel der G20-Gegner, in die Schutzzone um den Veranstaltungsort einzudringen und, wenn möglich, Gebäude zu besetzen („G20 entern“). Und was wäre eigentlich mit den Gipfelteilnehmern geschehen, wenn diese Friedensengel ihrer habhaft geworden wären?

Der Global-Sprech

Entgegen der ständig betonten „Vielfalt“ war die Sprache des Protests eigentlich sehr eintönig. Der Protestgipfel war ein sehr kahler Gipfel, auf dem die Luft sehr dünn war. So dünn, dass das ganze Gegenprogramm in jenem einen Mantra-Wort resümiert werden kann, das überall gehämmert wurde: „antikapitalistisch“. So war die Plattform, von der aus die Plattform des offiziellen Gipfels herausgefordert werden sollte, eine weitgehend leere oder nur negative Plattform. Nirgendwo hat der Protest-Gipfel den offiziellen Gipfel mit einer positiven Alternative überbieten können – weder wirtschaftlich noch politisch oder kulturell. So waren auch die selbsternannten „Marxisten“, die dort herumliefen, weit davon entfernt, die Macht historisch neuer Produktivkräfte zu beschwören. Die Protestler kamen gar nicht auf die Idee, dass sie ein Mehr bieten mussten. Die Losung „antikapitalistisch“ steht für ein Weniger-Programm. Es ist eine Art Einebnungsprogramm – alles soll gleicher werden. Die Vielfalt, die beschworen wird, soll all ihrer Höhen beraubt werden. Sie wird zur egalitären Vielfalt heruntergeschnitten – tabula rasa.

Unter dem Titel „Was ist eine brennende Tonne gegen den Hunger in der Welt“ berichtet eine Journalistin der FAZ (29.Mai) aus einem Trainingscamp für Gipfelgegner „in einer Grundschule im Hamburger Norden“ (Ist Gipfelstürmen inzwischen ein Schulfach?). Dort wurden die Camp-Teilnehmer nicht nur in „friedlicher“ Blockadetechnik unterrichtet, sondern auch in unwiderlegbarem Argumentieren: Die Geschichte von der brennenden Tonne und dem Hunger in der Welt ist ein Vergleich zwischen zwei Übeln. Einem nahen kleinen Übel und einem großen fernen Übel. Dies Vergleichs-Spiel legt es nahe, das kleine nahe Übel zu entschuldigen, weil das andere Übel ja so unendlich groß ist. Aber was haben die beiden Größen eigentlich miteinander zu tun? Rechtfertigt die Größe des großen Übels in der Ferne die willkürliche Schaffung eines zweiten Übels (der brennenden Tonne) in der Nähe? Bringt die brennende Tonne Afrika mehr Brot? Natürlich nicht. Sie setzt nur „ein Zeichen“. Mit der Arbeit am afrikanischen Entwicklungsproblem hat das „Zeichen setzen“ nichts zu tun. Es befriedigt nur das ideologische Bedürfnis derjenigen, die weit über den Niederungen des Hungers stehen und ihre Aufgabe im Drechseln von Welt-Formeln sehen.

Man sollte die Überhitzung einer Ideologie nicht mit dem Aufbrausen der Wut verwechseln. Letztere ist vielleicht die heftigere Form, aber die Erstere ist, durch ihre Verachtung des realen Lebens, die gefährlichere Form.

Herrschaftsgewalt

Wenn man das Reden „gegen die Reichen“ hört, das in Hamburg allerorten zu vernehmen war, könnte man vielleicht vermuten, dass hier eine Unterklasse gegen eine Oberklasse gekämpft hat. Und dass die ausgeübte Gewalt von der Art früherer Hungerrevolten war. Bei solchen Revolten kämpften die städtischen Unterschichten um ihr Überleben und ihre Stadtteile; sie kämpften mit offenem Visier und setzten ihr eigenes Hab und Gut auf den Barrikaden ein. Im Hamburger Juli 2017 geschah etwas ganz anderes: Eine marodierende, entwurzelte Gewalt überzog alle möglichen Orte mit Gewalt. Und nichts lag ihr ferner, als das eigene Mobiliar oder Fahrzeug den Flammen ihres „Straßenkampfes“ auszusetzen. Wohl aber das der Nachbarn und Nachbarstraßen. Im Schanzenviertel wurden Anwohner, die versuchten, Brände zu löschen und ihre Autos zu schützen, von den schwarz-vermummten Straßenherren mit der Faust niedergeschlagen. Diese Freischärler sind nicht wirklich mit einem Stadtteil verbunden. Die Heimat-Bindung an einen festen Ort ist ihnen fremd. Die angeblichen „Globalisierungsgegner“, die es so sehr an die Gipfelorte der Weltpolitik zieht, sind im Grunde eine bindungslose Oberklasse.

Der Anwalt der Hamburger „Autonomen“, Andreas Beuth, hat sich über die Gewalttaten wie folgt geäußert: „Wir als Autonome und Sprecher der Autonomen haben gewisse Sympathien für solche Aktionen, aber doch bitte nicht im eigenen Viertel, wo wir wohnen. Warum nicht in Pöseldorf oder Blankenese?“ (Zitat FAZ 11. Juli). Man achte auf den lässigen Tonfall, mit dem hier über die Gewalt disponiert wird. Der ein oder andere Einsatzort wird nahegelegt – hier spricht einer von höherer Warte. Es ist Herrschaftsgewalt, die hier ausgeübt wird – willkürliche Herrschaftsgewalt. Ihr geht es allein darum, Furcht zu verbreiten. Ob Blankenese oder das Schanzenviertel – um ihre destruktive Kraft zu demonstrieren, sind dieser Gewalt alle Gelegenheiten recht. Die Aufforderung des Herrn Augstein, in Hamburg den Preis hochzutreiben, hat das ganz unverhohlen zum Ausdruck gebracht.

Der Gipfel-Protest hat nicht Hamburg verteidigt

Es ist falsch, das Gewaltregime, das in Hamburg einige Tage lang das Geschehen bestimmte, auf „Banden“ oder eine bestimmte „Gewaltszene“ zu begrenzen. Es gibt eine Reihe von sozialen Milieus, die durch ihre Existenzweise, ihren Bildungsgang, ihre Erwerbsquellen, ihre Lebensführung und ihrer Wahrnehmung der Dinge eine Nähe zum globalen Protest und zum Handeln aus eigener Willkür haben. Sie stellen in den Großstädten der Gegenwart einen beträchtlichen Bevölkerungsanteil dar.

Aber dadurch werden sie noch nicht zu Vertretern und Verteidigern ihrer Stadt. Im Gegenteil. Sie haben – in ihrer entwurzelten und nomadisierenden Daseinsform – keine starke Bindung an die Stadt, in der sie leben. Wenn es um die zivilen Bindungen geht, die eine Stadtgesellschaft zusammenhalten, sind sie eigentlich gar keine richtigen Stadtmenschen. Es sind sozusagen „stadtlose Städter“.

Der Gipfel-Protest hat daher nicht, wie man vielleicht denken könnte, Hamburg gegen die „Besetzung“ durch eine globale Konferenz verteidigt. Die Gedankenwelt der Protestierer hat mit der großen deutschen Hafen-, Handels- und Industriestadt Hamburg nichts zu tun. Diejenigen, die davon träumten, durch ihren „Widerstand“ gegen den G20-Gipfel „Geschichte zu schreiben“, haben mit der gewachsenen Stadtgesellschaft der Hansestadt nichts im Sinn – weder mit dem Bürgertum, noch mit der Arbeiterschaft. Sie erwecken den Eindruck, eine neue Form von Gesellschaft zu repräsentieren, von der sie aber nur sagen können, dass sie irgendwie „offener“ ist. Für die Gestaltung des bestimmten Ortes mit Namen „Hamburg“ haben sie keinerlei Idee.

Der Sinn von Gemeinschaft und ihre Gefahrenzonen

Das Geschehen in Hamburg legt es nahe, noch einmal über den Begriff „Gemeinschaft“ nachzudenken, und über die Frage, ob das Zusammenleben der Menschen in modernen Zeiten ohne dies Wort verstanden und gestaltet werden kann. Ist jede Form von Gemeinschaftlichkeit veraltet und das Streben nach ihr reaktionär? Sollten wir uns mit einem universellen und neutralen Begriff begnügen? Die Willkür, die in den Hamburger Juli-Ereignissen zum Zuge kam, sollte eine Warnung sein, es mit der Verabschiedung der Gemeinschaftsidee nicht zu weit zu treiben. Meines Erachtens ist es klüger, von den Bindungen des Zusammenlebens auszugehen und erst im zweiten Zug kritisch zu prüfen, wo es gefährlich wird und wo es Grenzen der Gemeinschaft geben muss.

Ein solcher Grundgedanke ist in einer Schrift spürbar, die erstmals im Jahr 1924 veröffentlicht wurde: Sie trägt den Titel „Grenzen der Gemeinschaft“ und stammt von Helmuth Plessner. Der Untertitel lautet „Eine Kritik des sozialen Radikalismus“ und die Stabilitäts- und Bindungsprobleme der Weimarer Republik stehen hier deutlich Pate. Plessner verwirft den Gemeinschaftsgedanken nicht, aber er versucht, ihm Grenzen zu ziehen. Dabei sieht er nicht nur eine Gefahrenzone, sondern zwei (insbesondere im Kapitel „Möglichkeiten der Gemeinschaft“). Die erste Gefahrenzone haben wir heute recht klar vor Augen: Wenn es zu eng, zu umfassend, zu provinziell wird und eine Gemeinschaft den Menschen „keine Luft zum Atmen“ lässt, wird es gefährlich. Dazu rechnet Plessner die Fixierung des Zusammenlebens an einen Ort (den „Boden“) und eine Sippe (das „Blut“), die dann zu autoritärer Herrschaft führt. Aber Plessner stellt dem nicht einfach pauschal eine gute „Offenheit“ gegenüber, sondern er sieht genau hier die zweite Gefahrenzone: Eine auf die ganze Welt ausgedehnte Gemeinschaft ist zu weit. Sie macht die Menschen zu Wesen, die die Weite des Globalen nur dadurch bekommen, dass sie das Irdische in großer Abstraktions-Höhe überfliegen. Um universell zu sein, müssen die Menschen die Besonderheiten und Einseitigkeiten jeder Lebensrealität ausblenden. An dieser Grenze der Gemeinschaft wird die Luft also zu dünn, um atmen zu können. So muss sich die Gemeinschafts-Bildung diesseits von zwei Grenzen bewegen – weil es neben der Gefahr der Verengung auch die Gefahr der Überdehnung gibt.

Plessner hat dabei unüberhörbar und ausdrücklich das weltkommunistische Ideal seiner Zeit vor Augen. Bei heutiger Lektüre denkt man unwillkürlich auch an die „flat world“ der globalen Netze. Wenn wir also heute die Frage stellen, welche Gemeinschaftlichkeit wir von einer Metropole erwarten können und dürfen, sollten wir auch an die Gefahr dieses zweiten Radikalismus denken. An die dünne Luft des Überall-und-Nirgends. An die Tyrannei der Offenheit.

Der soziale Radikalismus der Globalisierung

Die Symptome der Hamburger Juli-Ereignisse weisen in diese Richtung. Hier spricht eine kalte, abstrakt-gleichmachende, global-nomadisierende Gewalt und Ideologie. Sie hat mit der konkret-bestehenden und ihre Geschichte lebenden Stadt Hamburg nichts zu tun. Sie nimmt massive Verletzungen der Stadt und ihres bürgerschaftlichen Zusammenhalts in Kauf, um ihre vagen, planetaren Visionen zu verwirklichen. Wenn man auf diesem Weg weitergeht, wird man keine neue Stadt finden. Man wird nichts finden, was überhaupt den Namen „Stadt“ verdient, sondern jene ortlose „vernetzte“ Welt, die auch manche Ideologen des offiziellen G20-Gipfels beschwören. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn jetzt in Deutschland, wo die Regierenden das globale „Offene“ besonders naiv beschwören, keine Neigung besteht, den Hamburger Willkürtagen tiefer auf den Grund zu gehen. Es könnte dann offenbar werden, dass in der Globalisierung ein sozialer Radikalismus angelegt ist. Ein gleichmachender Radikalismus, ein Radikalismus „von links“, der viel weiter reicht als nur zu den offiziellen Linken.

Die Hamburger sollten sich nicht einreden lassen, ihre Normen der Zivilität seien überholt. Sie müssen nicht die Behauptung akzeptieren, dass heute eine globale „Modernisierung“ alle Errungenschaften einebnet. Sie dürfen auf der Erwartung bestehen, dass es weiterhin in ihrer Stadt einen besonderen bürgerschaftlichen Zusammenhalt geben muss. Einen anderen Zusammenhalt hat niemand zu bieten.

(erschienen in meiner Kolumne bei „Tichys Einblick“ am 21.7.2017 und bei „Die Achse des Guten“ am 26.7.2017)