Es gibt keine stabile Regierung in einem Land, das von der Politik als Ansammlung von Bedürftigen behandelt wird. Das Weiter-So entfernt Deutschland immer weiter von seinen bürgerlichen Grundlagen. 

Das Regime der Abhängigkeiten

23.Januar 2018

Das also ist die „stabile Regierung“, die man uns versprochen hat. Wir haben ein knappes Pro-Groko-Votum der SPD. Daran soll das Schicksal Deutschlands hängen. Mehr noch, Politiker und Hofberichterstatter tun so, als ginge es um die Regierbarkeit Europas – und warum nicht gleich der ganzen Welt? Bei näherem Hinsehen geht es bloß um weitere Sozialleistungen, auch das Thema „Europa“ buchstabiert sich in neuen Transfers. Und natürlich das Thema „Migration“. Noch mehr vom Gleichen! Das ist die wahre Endlos-Schleife, in der sich die SPD dreht. Die SPD – was schreibe ich da? Es ist natürlich das Merkelsche „Gut und gerne leben in Deutschland“, das über allem steht und die verschiedenen Wichtigtuer parteiübergreifend Spalier stehen lässt. Die SPD hat also für Groko-Verhandlungen gestimmt. Und dann? Nehmen wir einmal an, dass es wirklich zum Abschluss eines Koalitionsvertrags kommt. Dann folgt die erste Regierungswoche und irgendetwas ereignet sich. Sofort wird es neue Forderungen geben und die Koalition ist schon wieder im Verhandlungsmodus.

Spätestens dann wird klar, dass das „Sondieren“ nicht eine Übergangsphase war, sondern der eigentliche Grund- und Dauerzustand der deutschen Politik ist. Denn jede Partei und all die Untergruppierungen, in die die Volksparteien längst zerfallen sind, müssen ständig darauf bestehen, dass für sie etwas Besonderes abfällt, mit dem sie sich profilieren können. Und von dieser Profilierung sind sie abhängig, denn die Form der Politik – das endlose „Regime“ der Politik – besteht ja darin, dass sie Zuwendungen verteilt. Jedes Problem muss mit zusätzlichem Geld, zusätzlichen Posten, zusätzlichen Rechtsansprüchen bedient werden.

Das ist das Endprodukt jener „Mitte“, in der der einst so bewunderte Merkelismus driftet. Kein festes Ufer ist mehr in Sicht. Und deshalb wird es in Deutschland in dieser wabernden Mitte keine stabile Regierung mehr geben.

Hier geht es nicht nur um „schlechte Politiker“, die Mist bauen. Die Instabilität hat System. Herrschaftssysteme, die nicht auf die Leistungsstärke und die Bestände eines Landes bauen, sondern für ihre Macht eine schwache und abhängige Gesellschaft brauchen, enden so. Sie enden in dem gleichen Zustand der Instabilität, den sie vorher in der Gesellschaft förderten. Sie geraten in eine Spirale von immer neuen Zuwendungen und Abhängigkeiten. Sie verlieren ihre Bindungskraft und damit ihren Zusammenhalt. Diese Spirale ist in der Abfolge der verschiedenen großen Koalitionen unter Merkel nachweisbar. Es ist frappierend: Selbst eine ganz außerordentlich gute Wirtschaftskonjunktur konnte keine große politische Bindungskraft erzeugen.

Wir leben nicht mehr in „bürgerlichen Zeiten“

Sieht man die gegenwärtige Regierungslosigkeit in diesem Zusammenhang, liegen größere historische Vergleiche nahe. Sie ist keine „Delle“ im normalen Gang der jüngeren deutschen Politik. Sie gibt Anlass für Zweifel, ob wir noch in „bürgerlichen Zeiten“ leben. Ob wir also noch auf die Grundsicherheiten und das Grundvertrauen bauen können, das den territorialen Verfassungsstaat und die unternehmerische Marktwirtschaft auszeichneten. Heute sind – zum Beispiel im Finanzwesen und in der Sicherheit staatlicher Grenzen – diese Grundelemente außer Kraft gesetzt und durch Provisorien und eine Politik der Gefälligkeiten überwuchert.

Wir sind es gewohnt, wirtschaftliche und politische Vorgänge in den klassischen bürgerlichen Begriffen zu fassen und tun dies noch heute. Aber das ist im Grunde falsch. Unsere Welt wird gegenwärtig nicht mehr „bürgerlich“ geführt. Gewiss stellen Bürgertum und Arbeiterschaft einen großen Sektor unserer Bevölkerung dar, aber ein Blick auf CDU und SPD zeigt, wie wenig er die Formen des politischen Lebens bestimmt. Das „Regime“, das die Gesellschaft in der Endlos-Schleife immer neuer Zuwendungen und Abhängigkeiten gefangen hält, ist nicht bürgerlich. Es ist post-bürgerlich. Das ist nicht etwas ganz und gar Neues, sondern erinnert in mancher Hinsicht an politische Ordnungen in vormodernen Zeiten.

Die höfische Gesellschaft

In dieser Situation kann einem ein Stichwort in den Sinn kommen: „Versailles“. Nicht das Versailles des 17. Jahrhunderts, das die Kraftlinien der französischen Nation bündelte, sondern das Versailles des ausgehenden 18. Jahrhunderts, das die Veränderungen im Lande und in der Welt nicht mehr wahrnahm. Es gibt ein Buch, das in wunderbar anschaulicher Weise schildert, wie die höfische Gesellschaft in Versailles diese Realitäten auf eine geradezu bizarre Weise verkannte und deshalb politisch versagte: Stefan Zweigs „Marie Antoinette“. Es ist kein wissenschaftliches Buch, sondern eine literarische Biographie, die aber sehr sorgfältig und mit einem Blick für Details recherchiert ist. Zweig geht es weder um eine große Anklage noch um eine große Entschuldigung des Ancien Regime, sondern er zeigt, wie den Hauptakteuren das Milieu, das sie für „die Gesellschaft“ halten, und der Ort, den sie für „die Welt“ halten, zur Falle wird. „Gelangweilt und verständnislos stehen sie alle vor der mächtig anströmenden Zeit“, heißt es an einer Stelle. Vielleicht könnte man vom Versailles-Syndrom sprechen. Wichtiger als die Schilderung der Revolutionstage vom Juli 1789 sind dabei die Buch-Kapitel über die Vorgeschichte dieser Zuspitzung. Über die scheinbar ungefährdete soziale Hegemonie der höfischen Gesellschaft, die dann doch erstaunlich rasch ihre Stabilität verlor. Zweig markiert sehr präzise die Stellen, an denen dies Ancien Regime seine Bewährungsproben verfehlte und an denen seine Mechanismen versagten.

Das Stichwort „Versailles“ ist auch insofern interessant, als es um das Thema „Regime der Abhängigkeiten“ geht. Das französische Ancien Regime beruht darauf, dass der Adel abhängig gemacht wurde, indem er von seiner lokalen und regionalen Machtbasis getrennt wurde und „bei Hofe“ angesiedelt und von der Schatulle und der Rollenzuweisung des Königs abhängig gemacht wurden. Norbert Elias spricht in seiner Studie „Die höfische Gesellschaft“ von einer „Verhofung“ der Aristokratie (und auch einer Führungsschicht des Bürgertums). Er beschreibt auch sehr genau, wie das Abhängigkeit-Machen in einer Kombination aus Enteignen und Fördern bestand. Bei der Verhofung gewann die Aristokratie etwas und verlor etwas. Man könnte den Mechanismus als „Heben und Beherrschen“ bezeichnen. Dies Regime war – in einem gewissen Rahmen – durchaus effizient, aber es war gegenüber den wachsenden Kräften des Bürgertums (und später den arbeitenden Unterschichten) ein lähmendes, reaktionäres Regime.

Die Regime-Frage

Im deutschen Sprachgebrauch wird „Regime“ sofort mit einem totalitären Regime gleichgesetzt. Aber im Französischen wird darunter allgemeiner jede Ordnung politischer Macht verstanden (und auch eine Gesundheits-Diät wird als „Regime“ bezeichnet). In diesem Sinn geht es Norbert Elias darum, das Ancien Regime als Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnis zu verstehen, das dem Königtum in Frankreich über einen langen historischen Zeitraum eine starke Position verlieh. Natürlich kann man die heutige Situation in der Bundesrepublik nicht mit dem „Ancien Regime“ gleichsetzen. Aber vielleicht es ist gerade jetzt, wo der Merkelismus in eine weitere Runde geht, an der Zeit, die „Regime-Frage“ zu stellen: Wie kommt es, dass eine eher mittelmäßige Persönlichkeit „die Mitte“ beanspruchen kann? Worauf beruht die Bannkraft dieser Mitte, wo doch alle Großprojekte des Merkelismus – von der Klimarettung über die Eurorettung bis zur Migrantenrettung – kostspielige und endlose Baustellen geblieben sind? An dieser Stelle wird der Herrschafts-Mechanismus der „Verhofung der Aristokratie“, den Norbert Elias beim Ancien Regime beobachtet, interessant. Diese Verhofung löst die Aristokratie aus ihrer lokalen und regionalen Machtbasis heraus und manövriert sie in eine komfortabel ausgestattete, aber abhängige Existenz bei Hofe hinein. Die Macht dazu gewann das Königtum aus strukturellen Veränderungen (Zunahme der Geldwirtschaft und Zentralisierung der Steuereinnahmen). Es geht also um die Begründung von Herrschaft durch neue Abhängigkeiten. Das ist der Punkt: Gibt es nicht einen Prozess, der aus der ursprünglichen Selbstständigkeit der bürgerlichen Gesellschaft (Bürgertum und Arbeiterschaft) eine vielfältig abhängige Klientel-Gesellschaft gemacht hat?

In diesen Tagen, wo in Davos jene merkwürdige „Versammlung der 3000“ stattfindet, die für sich in Anspruch nimmt, die Geschicke des Planeten zu lenken, kann man schon manche Parallele zu Versailles entdecken. Auf jeden Fall ist eine kolossale und absurde Zentralisierung zu besichtigen, die die angeblich unaufhaltsame Globalisierung mit sich bringt. Angeblich macht die Globalisierung ja alles offener und großzügiger, aber merkwürdig: Es läuft immer auf dieselben Figuren zu. Das ist auch eine Beobachtung, die man in anderen Zusammenhängen – beim internationalen Tagungs-, Festival- und Kongresstourismus – beobachten kann. Dieser gewaltige Aufwand, der in keinem Verhältnis zum Ertrag steht, sondern eher ein selbstbezogenes, sich immer wieder selbst bestätigendes Milieu zeigt, in dem sich politische, wirtschaftliche, künstlerische und mediale Anliegen diffus vermischen. Auch wenn das alles heute an vielen, wechselnden Orten stattfindet, sondern erinnert es doch an die abgeschlossene Sonderwelt „Versailles“. Und auch das „Narrativ“, die große, alles bewegende Erzählung, die die Global-Eliten so sehr beschwören, gab es schon im höfischen System. Der Hof selber mit seinen Ritualen, seiner sorgfältig abgestuften Architektur, seinen minutiös geordneten Gärten war nichts anderes als ein solches Narrativ, mit dem das ganze Land beeindruckt und beherrscht werden sollte.

Entbürgerlichung – Einige strukturelle Fakten

Gewiss ist richtig, dass die reale Welt im Jahre 2018 ungleich größer ist. Das Global-Regime ist weit davon entfernt, eine geschlossene, flächendeckende Herrschaft zu bilden. Und doch fällt auf, dass dies Regime gegenwärtig in der Lage ist, viel Wind zu machen. Und es ist mehr im Spiel. Es gibt Strukturen, die neue Abhängigkeiten erzeugen und die das Bürgertums, das einmal der Inbegriff einer Leistungs-Macht war, die auf eigenen Füßen stand, schwächen. Im vorigen Jahrhundert konnte man in den entwickelten Ländern davon ausgehen, dass es eine bürgerliche Grundstruktur gab, auf die die Länder in Krisen und bei Fehlentwicklungen immer wieder „automatisch“ zurückkommen und die Kraft zu Korrekturen finden konnten. Doch hier gibt es seit einiger Zeit Verschiebungen. Sie drücken sich in knappen, nüchternen Zahlen aus:

Circa 44 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts gehen durch die Hände des Staates (bei unserem EU-Hauptpartner Frankreich sind es sogar circa 56%). Das bedeutet eine gewaltige Verfügungsmasse in der Hand eines Politikregimes. Es bedeutet, dass bei vielen unternehmerischen und kulturellen Aktivitäten Staatsgeld und Staatseinfluss eine Rolle spielt.

Ein Großteil des Staatsanteils geht auf steigende Sozialausgaben zurück. In den Ländern der Europäischen Union werden 50 Prozent der weltweiten Sozialausgaben getätigt, währen der EU-Anteil an der Weltbevölkerung nur 7-8 Prozent beträgt. Dies deutet darauf hin, dass in Europa in besonders starkem Maße ein geförderter und alimentierter Gesellschaftssektor aufgebaut wird.

Die folgenreichste Gesellschaftsveränderung findet nicht „unten“ oder „oben“ statt, sondern in der Mitte. Der Anteil der Schulabgänger mit Hochschulreife an der Gesamtheit eines Jahrgangs betrug 1960 7 Prozent und ist bis 2015 auf 53% angestiegen. Das bedeutet eine soziale „Hebung“, die eine extrem aufstiegsabhängige und dadurch fremdgesteuerte Mitte der Gesellschaft erzeugt. Die Akademisierung breiter Schichten ist sozusagen die „Verhofung des Bürgertums“. Es entfrermdet sie der Industrie und jeder Produktion im großen Maßstab.

Die Staatsverschuldung ist in vielen alten Industrieländern auf ein Maß gestiegen, das man früher nur in Kriegszeiten kannte. Aus dem Ausnahme-Szenario der Kriegsschulden ist ein Dauerszenario geworden, dass nur noch durch die Zentralbankpolitik des billigen Geldes verlängert werden kann. Damit bewegt sich die Politik außerhalb aller Grundregeln bürgerlicher Haushaltsstabilität.

Und schon wird auf die Digitalisierung von allem und jedem spekuliert. Sie soll sogar das Leitmedium des Geldes aushebeln und der neue Königsmacher sein.

Das bedeutet, dass die Strukturdaten Deutschlands (und anderer Länder) eine Tendenz amzeigen, die bürgerlichen Schichten (einschließlich der Arbeiterschaft) durch einen abhängigen Sektor von Klientelschichten zu verdrängen. Schon heute hat die bürgerliche Leistung und Verantwortung in vieler Hinsicht nur noch eine sekundäre, dienende Funktion. Man denke nur an die Rolle, die Bürgertum und Arbeiterschaft bei CDU und SPD spielen.

Ein Provisorium namens „stabile Regierung“

Wie vordergründig und kurzsichtig nimmt sich vor diesem Hintergrund das Unternehmen „stabile Regierung“ aus. Nein, das ist nicht allein die Schuld der SPD, über die sich jetzt die Hofberichterstattung mokiert. Die Suche nach der „stabilen Regierung“ ist Merkels Spieltheater. Damit werden die Blicke nur darauf gelenkt, wie sich eine zukünftige Regierung zusammensetzt. Die „stabile Regierung“ soll die Instabilität des Landes überspielen. Es gibt nicht das geringste Bewusstsein der historischen Dimension der Fehlentwicklungen. Und es darf auch auf keinen Fall entstehen. Wie schon die Jamaika-Sondierungen haben nun auch die GroKo-Sondierungen ein Endlos-Spiel eröffnet, bei dem jede Vereinbarung im Handumdrehen wieder nur ein Zwischenstand ist. Einig ist man sich, dass es nur um diese oder jene Zuwendung für dies oder jenes Klientel geht – und deshalb vor allem um die Profilierung der Beteiligten. Ein höfisches Spiel um Reputation und Einfluss. Versailles lässt grüßen.

 

 

(erschienen bei „Tichys Einblick“ am 25.1.2018)