Ständig werden in Deutschland neue „Aufbrüche“ beschworen, während es in Wirklichkeit nur ein zwanghaftes Weiter-So gibt. Aber was ist die Alternative? (Das Regime der Abhängigkeiten, Teil II) 

Eine bürgerliche Agenda für Deutschland: Konsolidieren!

28.Januar 2018

Die gegenwärtige deutsche Politik hat etwas Scheinhaftes und Hochstaplerisches. Sie hält nicht, was sie verspricht. Gerade noch nahm sie für sich in Anspruch, in der Nachfolge Obamas das Weltzentrum des Guten zu sein. Jetzt bringt sie nicht einmal eine stabile Regierung zustande, sondern nur ein kleinliches Verteilungs-Gezerre. Dies Gezerre zieht sich von den Jamaika-Verhandlungen bis in die GroKo-Verhandlungen durch und es wird auch nach einer Regierungsbildung weitergehen. Und zugleich wird die Beschwörung des „Aufbruchs“ (jetzt soll es ein neues Europa sein) weitergehen. Der tiefere Grund für diesen Widerspruch zwischen Schein und Sein liegt darin, dass hier ein Herrschaftssystem am Werk ist, dass auf Abhängigkeiten und Versorgungsleistungen gebaut ist. Ihr fehlt die feste Grundlage und das kritische Maß der bürgerlichen Produktivität, die sowohl dem Bürgertum als auch der Arbeiterschaft zu eigen ist. Beide Gruppen sind gegenwärtig auf eine sekundäre, dienende Funktion reduziert und nichts dokumentiert das deutlicher als die Delegiertenversammlungen der „Volksparteien“ CDU und SPD.

Die Bildung dieses „Regimes der Abhängigkeiten“, wie ich es in vorigen Kolumne genannt habe, ist nicht einfach das Werk von schlechten Politikern. Es geht um soziale Verschiebungen. Die Schwächung des bürgerlichen Elements findet zu einer Zeit statt, wo in den frühen Nationen der Moderne die Sphäre der Wertschöpfung, die einst den Aufstieg des Bürgertums begründete, gegenüber der Sphäre der Verteilung und des Verbrauchs an Einfluss verlieren. Die immense Verschuldung, aber auch die Zerstörung der Schutzfähigkeit des Staates sind Folgen dieser Verschiebung. Die Globalisierung ist daher nicht einfach eine Maßstabsvergrößerung von Politik, Wirtschaft und Kultur, sondern geht mit einer Entbürgerlichung einher. Hier droht ein historischer Rückschritt. Denn die Errungenschaften der Moderne – Freiheit, Demokratie, Wohlstand – beruhen letztlich auf der Stärke des bürgerlichen Elements. Dies tragende Element könnte wieder auf jene Sekundärrolle zurückfallen, auf die es in vormodernen Zeiten beschränkt war. Das würde einen Rückfall in Unfreiheit, Unmündigkeit und wirtschaftliche Knappheit bedeuten. Welche Mär ist da die große Erzählung vom „Aufbruch“. Während von einer „ganz neuen“ besseren Welt die Rede ist, droht in Wirklichkeit ein Rückfall in vormoderne Verhältnisse. Während man eine Steuerung des Weltklimas, eine Rettung Afrikas oder eine digitale Weltrevolution in Aussicht stellt, sinkt real die Produktivität der Wirtschaft und der Rechtsstaat ist auf dem Rückzug.

Welcher Oberbegriff für die politischen Aufgaben Deutschlands?

Wir tun uns noch schwer, das ganze Ausmaß dieses historischen Rückfalls beim Namen zu nennen und jene vormodernen Herrschaftssysteme wieder ins Gedächtnis rufen, mit denen sich Bürgertum und Arbeiterschaft einst auseinandersetzen mussten. Ja, das heutige Regime der Abhängigkeiten hat Parallelen mit dem „Ancien Regime“ des 18. Jahrhunderts. Und die eitle Selbstgewissheit der heutigen „Global Community“ hat Ähnlichkeiten mit der damaligen „höfischen Gesellschaft“. Wir tun uns aber auch schwer, die Aufgaben auf den Begriff zu bringen, die sich im Kampf gegen diesen drohenden Rückfall stellen. Auch ganz aktuell wäre es wichtig, die Veränderungen und Forderungen einer anderen Politik in Deutschland auf einen Oberbegriff zu bringen.

In der neueren Politik ist der Begriff des „Aufbruchs“ ein Schlüsselbegriff geworden. Eine Aufbruchstimmung muss her, heißt es immer wieder. Das ist der drängelnde Sound des „Neustarts“, mit dem die „Mutmacher“ das Land zum „Blick nach vorne“ zwingen wollen. Was mit diesem „Augen geradeaus!“ aus dem Blickfeld geschafft werden soll, ist die Bilanz der bisherigen Politik. Eine Bilanz über Aufwand und Ertrag der „Wenden“ und „Rettungsaktionen“ der letzten Jahre wäre für die Regierenden hochgefährlich. Also veranstaltet man lieber etwas scheinbar „ganz Neues“ und will sich damit der Haftung für das eigene Tun entziehen. Mit anderen Worten: Wo der „Aufbruch“ beschworen wird, ist der Bilanzbetrug schon in vollem Gang.

Wenn aber die großen Aufbrüche zu einem immer ruinöseren und zwanghafteren Weiter-So führen – was kann man dieser Falle entgehen? Unter welchem Oberbegriff sollte sie sich eine politische Alternative formieren? Dabei ginge es nicht nur um das Programm einer bestimmten Partei, sondern um eine Richtung, die Einfluss auf den gesamten Politikbetrieb ausüben kann. Dieser Begriff sollte meines Erachtens die „Konsolidierung“ sein.

Über das Konsolidieren

„Konsolidieren“ ist eine Maxime, die direkter vor der eigenen Haustür ansetzt und nicht in weite Fernen schweift. Ihre Resultate sind überprüfbarer, weil die Formel, dass alles „auf einem guten Weg“ ist, hier nicht zählt. Konsolidieren ist eine uneitle und praktische Maxime. Unter diesem Oberbegriff lassen sich die meisten dringlichen Aufgaben in Deutschland fassen: Sanierung der Staatsfinanzen durch Abbau der Überschuldung; Sicherung des Industriestandorts Deutschland; Befestigung der Grenzen gegen den zunehmenden Druck willkürlicher Massenmigration; Wiederherstellung des deutschen Energiemixes; Sicherung eines ordnungsmäßen Schulbetriebs mit festem Bildungskanon, leistungsgerechten Noten und Schulstufen; Einrichtung eines wirksamen Schutzes des öffentlichen Raumes gegen Gewalt; Wahrung der Errungenschaften unseres Grundgesetzes wie zum Beispiel der Trennung von Kirche und Staat. Konsolidierung ist auch vielfach im Nahraum der Arbeitswelt und des Privatlebens gefragt – wie viele Menschen im Lande sind jeden Morgen vor allem mit der Sorge beschäftigt, dass ihre Mannschaft überhaupt halbwegs vollständig und pünktlich an Deck ist!

Aber ist Konsolidieren nicht langweilig? Wäre eine solche politische Agenda nicht eine Agenda ohne Ehrgeiz? Ganz im Gegenteil. Denn an diesen Stellen laufen heute die wirklich harten Auseinandersetzungen. Die Beschwörung einer „ganz anderen“ Zukunft ist billig. Wir sind in einer historischen Situation, wo die am härtesten umkämpfte Front dort verläuft, wo es darum geht, das Niveau zu halten und unsere Errungenschaften zu wahren. Diese Aufgabe der Selbstbehauptung gilt auch für die Außenbeziehungen unseres Landes – in einer zunehmend pluralistischen Welt, in der sich die Macht auf mehr Akteure verteilt hat, geht es nicht darum, unter neuen Vorzeichen noch einmal mit der alten Führungsrolle Europas zu liebäugeln. Es geht darum, unseren Platz in einem unwiderruflich vergrößerten Kreis entwickelter Länder zu behaupten. Die Idee von einer neuen „Führungsrolle in der Welt“, die ja in der Globalisierungs-Idee immer mitschwingt, ist eine Idee von gestern. Sie ist das Ancien Regime unserer Tage. Europa hat nun definitiv mit einer Welt zu tun, die viel größer ist als es selbst. Da ist sie, die „mächtig anströmende Zeit“ (Stefan Zweig) unserer Tage.

Wir müssen lernen, dem trügerischen Versprechen immer neuer Aufbrüche zu widerstehen. Es lenkt von der Abbruchbewegung ab, die das wirkliche Problem unserer Zeit ist. Von der großen Destruktionsbewegung, die durch die „frühen“ Nationen der Moderne geht. Ja, es gibt eine Relativierung der früheren Vormachtstellung dieser Nationen. Aber die postmoderne und postindustrielle Verabschiedungs-Mentalität, die daraus im Westen entstanden ist, ist eine ganze falsche (und unnötige) Antwort auf diesen Verlust. Wir müssen lernen, dass die Konsolidierung der „frühen Nationen“ der Moderne mit ihren vielfältigen inneren Kräften unsere Hauptaufgabe in diesem Jahrhundert ist. Und dass sie eine lösbare und ehrenvolle Aufgabe ist.

Der Mechanismus der Abhängigkeiten

Der täuschende Schein der großen „Aufbrüche“ ist nicht das einzige Problem. Es geht um tatsächliche Abhängigkeiten. Es gibt heute einen beträchtlichen gesellschaftlichen Sektor, dessen Existenz nicht auf Eigenleistung beruht, sondern von fremder Zuwendung abhängig ist. Beim „Ancien Regime“ gab es einen bestimmten Mechanismus, den man mit „Heben und Herrschen“ beschreiben kann: die Aristokratie wurde mit Zuwendungen von ihrer ursprünglichen Existenzbasis im Land entfremdet und bei Hofe zusammengezogen, wo sie sich glanzvoll präsentieren konnte, aber von der Gunst des Königs abhängig war. Diese „Verhofung“ ist heute in einer anderen Form (und ohne einen Zentralort wie „Versailles“) bekannt als „rent seeking society“. Damit ist ein Gesellschaftssektor gemeint, der von „Renten“ (Einkommen, die in keinem Verhältnis zu einer eigenen Leistung stehen). Der Hauptverteiler dieser Renten schart eine klientelistische Gesellschaft um sich, die ängstlich bemüht ist, ihre Positionen zu wahren und in der Verteilungshierarchie möglichst aufzusteigen. Wenn man bedenkt, dass heute in Deutschland 44 Prozent des Bruttoinlandsprodukts über den Staat verteilt werden (in Frankreich sind es noch 10 Prozent mehr), kann man sich vorstellen, welche Kreise dieser Mechanismus ziehen kann. Hinzu kommt, dass im Zeitalter eines allgegenwärtigen Keynsianismus auch das Wirtschaftsleben stark von der finanziellen „Animation“ durch fremde Hand abhängt. Man könnte geradezu von einer „keynsianischen Mittelklasse“ sprechen, die dieser Politik ihre „gehobene“ Stellung verdankt und deren Größe in keinem vernünftigen Verhältnis zur produktiven, bürgerlichen Basis steht. So entsteht ein ganzer gesellschaftlicher Block im Land, der nun dauerhaft jenseits aller bürgerlichen Vernunft agiert. Auch der Irrsinn der großen Weltrettungsprojekte – von Klima bis Migration – hat letztlich hier seine Quelle. Und wie tief dies Regime der Abhängigkeit alles durchdrungen hat, kann man daran sehen, dass ein Ausstieg aus der Politik des billigen Geldes zum absoluten Tabu geworden ist. Da liegt die eigentliche Endlos-Schleife unserer Zeit und auch das „ganz neue“ Europa ist darauf programmiert.

Konsolidierung als bürgerliche Aufgabe

Wenn also die Schwäche des bürgerlichen Elements an diesem Mechanismus der Abhängigkeit liegt, dann bekommt der Leitbegriff „Konsolidierung“ einen erweiterten Sinn. Die Konsolidierung muss ganz wesentlich darin bestehen, dass sich die Bürger gegen die verführerischen Abhängigkeiten immunisieren. Die Wiedereroberung der bürgerlichen Freiheit kann nur gelingen, wenn sie mit einem stabilisierenden Rückbau beginnt. Und wenn dieser auch in der Lebensführung, im beruflichen Alltag, in der Wahl der Bildungsgänge und der Berufswahl stattfindet. Die Konsolidierung muss den eigenen Haushalt und den eigenen Betrieb ebenso umfassen wie das eigene Land. Das „Ancien Regime“ hatte erst ausgespielt, als das bürgerliche Element die Stärke und Eigenständigkeit gewonnen hatte, um sich aus dem Gunst- und Bannkreis der „höfischen Gesellschaft“ zu lösen.

Deshalb sollte man sich nicht allzu sehr vom Hin und Her um die „stabile Regierung“ beeindrucken lassen und eine gesunde Distanz zu den angeblich so wichtigen Fragen aufzubauen. Wichtiger ist gegenwärtig manchmal eine „kleinere“ Entscheidung: zum Beispiel die Entscheidung eines jungen Menschen, ob er eine akademische Laufbahn einschlagen will und sich damit stark von fremder Hilfe und Zufällen abhängig macht, oder ob er eine Berufsausbildung macht, die weniger glanzvoll ist, aber ihm sicherer eine eigenständige Existenz ermöglicht. Eine solche Entscheidung ist nicht in Wirklichkeit gar nicht klein, sondern gehört zur großen Auseinandersetzung um Freiheit und Unfreiheit in diesem Land.

 

 

(erschienen bei „Tichys Einblick“ am 30.1.2018)