Ein wegen Kindesmissbrauchs verurteilter Täter konnte weitere Taten begehen, weil Gerichte verhinderten, dass der Staat seine Schutzpflicht wahrnahm. Die Vorgänge in Baden-Württemberg zeigen eine gefährliche Fehlentwicklung der staatlichen Gewaltenteilung. 

Kindesmissbrauch – Die unkontrollierte Macht der Richter

30.Januar 2018

Nein, hier geht es nicht nur um einen „Fall“. Bei dem jüngst bekanntgewordenen Skandal in Freiburg konnte ein bereits wegen Kindesmissbrauchs verurteilter Täter erneut zur Tat schreiten, weil mehrere Gerichtsinstanzen einem Kind in einer hochgefährlichen Situation den staatlichen Schutz verweigern. Mehr noch: Die Urteile haben diese Verweigerung in einer Weise für Recht erklärt, dass hier nun ein ganzer Raum für weitere Missbräuche besteht. Hinzu kommt, dass die richterliche Macht sich praktisch ohne Gegengewicht anderer staatlicher Institutionen durchsetzen konnte. Je mehr man über die Umstände des Falls erfährt, umso mehr bekommt er den Charakter einer Staatsaffäre.

Freie Bahn für einen vorbestraften Missbrauchstäter

Der Haupttäter, Christian L. hatte bis 2014 eine vierjährige Haftstrafe wegen Kindesmissbrauchs verbüßt. Danach sollte ein ihm zugeordneter Bewährungshelfer dafür sorgen, dass er wegen seiner gefährlichen Neigungen keinen Kontakt zu Kindern und Jugendlichen bekam. 2015 begann Christian L. ein Verhältnis mit einer Frau aus Bad Krozingen, die einen damals sechsjährigen Jungen hatte. Der Frau war bekannt, dass das Gericht ein solches Kinder-Kontaktverbot ausgesprochen hatte. Doch das Verbot wurde mehrfach missachtet. Das Jugendamt ordnete die Inobhutnahme des Kindes an. Der Fall kam 2017 in Freiburg vor das Familiengericht, das zwar eine Gefährdung des Kindeswohl sah, aber die Inobhutnahme beendete. Es machte Christian L. und der Mutter des Jungen erneut Auflagen. De facto liefen diese Auflagen aber darauf hinaus, dass die Mutter den Schutz ihres Kindes gegenüber ihrem wegen Kindesmissbrauchs verurteilten Intimpartner durchsetzen und gewährleisten sollte.

Wie das gelingen sollte, interessierte das Gericht nicht. Es wurde nicht einmal sichergestellt, dass zumindest eine Kontrolle der Entwicklung durch das Jugendamt stattfand. Dabei hatten Mitarbeiter des Jugendamtes vor dem Familiengericht ausdrücklich gefordert, die Erziehungsfähigkeit der Frau zu prüfen. Das Gericht ging darauf nicht ein. Nachdem inzwischen eine neue Haftstrafe gegen Christian L. verhängt war, zu der noch ein Berufungsverfahren lief, landete der Fall vor dem Familiensenat des Oberlandesgerichts Karlsruhe. Die Vorsitzende Richterin war Eva Voßkuhle – die gleiche Richterin, die bei der ersten Verurteilung des Christian L. als Vorsitzende Richterin am Freiburger Landgericht ein vergleichsweise mildes Urteil gefällt hatte. Sie hatte damals auch den Antrag des Anwalts der Nebenkläger abgelehnt, den Täter nach Verbüßung der Strafe in Sicherheitsverwahrung zu nehmen. Sie wollte dem Täter „eine zweite Chance geben“, wie es heißt.

Nun war sie wiederum Richterin in Sachen Christian L. Und wieder lehnte sie eine Maßnahme ab, die geholfen hätte, die realen Verhältnisse in der Partnerschaft und die realen Leiden des Kindes in den Blick zu bekommen: Kein Gutachten über die Erziehungsfähigkeit der Mutter. Das Kontaktverbot des Christian L. mit dem Jungen wurde bekräftigt, aber die ganze Durchsetzung wurde der Mutter überlassen. Damit war jede Möglichkeit, die Behörden zu einer Intervention zu veranlassen, definitiv blockiert. Das Oberlandesgericht hatte „der Familie“ de facto alle Macht über das Kindeswohl überantwortet und sah damit seine Arbeit als getan an.

Inzwischen kennen wir die wahren Verhältnisse: Christian L. hat im Internet einen Kindesmissbrauchs-Ring betrieben und dort zusammen mit seiner Partnerin den Jungen „zur Miete“ angeboten. Sie haben sich beide auch selber an dem Kind vergangen. In der Dunkelzone, die die Gerichtsurteile praktisch für unantastbar erklärt haben, hat der Junge ein langes Martyrium durchgemacht.

Die Sprache der richterlichen Macht

Nun schreibt das Oberlandesgericht Karlsruhe in einer offiziellen Erklärung, das Schicksal des Jungen mache „jeden Menschen und erst recht die unmittelbar mit der Fallbearbeitung in Berührung kommenden Personen bei Justiz und Landratsamt betroffen und belastet sie schwer“ (zit. nach der FAZ v. 19.1.2017). Schwer belastet – das klingt fast so, als gehörten die Richter in diesem Fall zu den Leidtragenden. Wir sind alle nur Menschen, heißt es, und schon sind die Verantwortlichkeiten in dieser Affäre verwischt. Nein, die Urteile, die da gesprochen wurden, müssen wirklich einmal zitiert werden. Sie müssen in ihrem Wortlaut an die Öffentlichkeit kommen, denn hier ist es mit Mitgefühl und Aufmerksamkeit für das Unheil, das sich schon deutlich sichtbar über dem Kind zusammenbraute, nicht weit her.

An dieser Stelle genügt schon ein Blick auf ein paar Worte und Sätze, die aus den Verlautbarungen der Gerichte in der Presse zitiert wurden. Was wurde auf die Forderung nach Sicherheitsverwahrung für Christian L. geantwortet? „Unangemessen“. Was sagte die Sprecherin des Landgerichts zu dem ungeheuerlichen Vorgang, dass einer Person, die mit Christian L. in einer Intimbeziehung stand, ungeprüft und ganz allein der Schutz des Kindes übertragen wurde: „Ein Interessengegensatz der im Nachhinein bekanntgewordenen Form – nämlich der Beteiligung der Mutter an Missbrauchstaten zu Lasten ihres Kindes – war nicht ansatzweise erkennbar.“ „Nicht ansatzweise“ lautet die Formulierung und sie dient erkennbar dazu, eine Pflicht-Verletzung des Gerichts von vornherein auszuschließen. Denn im Familienverfahrensgesetz ist für die Verfahren, in denen es um die Entziehung der Personensorge und Inobhutnahme geht, ausdrücklich die Hinzuziehung eines Verfahrensbeistandes (für das Kind) und eine Anhörung des Kindes vorgeschrieben – „in der Regel“ heißt es dort. Dem ist das Gericht nicht gefolgt. Kein Verfahrensbeistand, keine Anhörung des Kindes. Was sagt die Sprecherin des Oberlandesgerichts? Die Formulierung „in der Regel“ belege, dass im Einzelfall davon abgewichen werden könne. Da bekommt der Begriff vom „Rechtsverdreher“ eine ganz neue Wahrheit.

Und dann noch ein Detail, das eine unglaubliche, geradezu zynische Gleichgültigkeit verrät. Die Karlsruher Gerichtssprecherin erklärt, man sei nicht von einer Gefährdung des Kindeswohls ausgegangen, weil sich der Täter zuvor „nur an Mädchen“ vergangen habe.

Und nun auf einmal der säuselnde Ton der Betroffenheit. Über das, was man selber angerichtet hat. Und wo man eine ganz andere Tonlage gewählt hat: Es herrscht eine apodiktische Sprache abstrakter Formeln, die sich über alle konkreten Umstände des Falles hinwegsetzen, die von konkretem Hinsehen nichts wissen wollen und die jedes Schutzbegehren an den Staat glatt zurückweisen.

Dabei ist dies kein kniffliger Grenzfall, sondern ein Fall, in dem der Schutzanspruch überdeutlich ist und geradezu nach Erfüllung schreit. Indem sie ein Kontaktverbot von Christian L. mit dem Kind bestätigt haben, haben die Gerichte auch anerkannt, dass hier geschützt werden muss. Und dann – sehenden Auges – übertrugen sie die Durchsetzung des Kontaktverbots ausgerechnet der Mutter, die mit dem vorbestraften Straftäter intim verbunden war. Wie sollte sie das schaffen? Und wie sollte eine effektive Kontrolle dieses Punktes, an dem ja das ganze Kindeswohl hing, durch die staatlichen Behörden geschafft werden? Das Gericht hat also eine Situation hergestellt, in der eine rechtzeitige und ständige staatliche Kontrolle unmöglich war. Diese Folgen berührten offenbar weder das Familiengericht Freiburg noch den Familiensenat des Oberlandesgerichts Karlsruhe. Auch im Nachhinein wird diese Haltung vom Sprecher des Karlsruhe Gerichts noch bekräftigt: „Ziemlich sicher ist, dass es nicht Sache des Gerichts sein kann.“ (zitiert aus der FAZ vom 17.1.2018). Der Sprecher hat wirklich „ziemlich“ gesagt.

Für das Restrisiko gibt es den Textbaustein „Betroffenheit“ und „Erschütterung“.

Eine bewusste, aktive und systematische Schutzverweigerung

Nein, angesichts dieser Vorgänge erwarten die Bürger von ihrem Staat nicht Betroffenheit, sondern eine Wiederherstellung des treuhänderischen Schutzvertrages, den der Staat ihnen gegenüber eingegangen ist und der seine Existenz überhaupt begründet. Hier reicht es auch nicht, nur von „Versagen“ oder „Kompetenzwirrwarr“ (FAZ vom 17.1.) zu schreiben. Denn hier wurde von Teilen des Staates aktiv und systematisch, mit Willen und Bewusstsein verhindert, dass der Staat seine Schutzfunktion wahrnimmt. Der Schutzvertrag des Staates mit der Gesellschaft wurde gebrochen. Und er wurde an einem sensiblen Punkt gebrochen – bei dem grausamen Verbrechen des Kindesmissbrauchs.

Der Teil des Staates, der hier vor allem als Blockierer auftritt, ist die Judikative – die rechtsprechende Gewalt der Richter. Und es geht offenbar nicht nur um einzelne Richter, sondern um allgemeinere Grundlagen der richterlichen Macht. Die in diesem Fall gesprochenen Urteile treten ja als richtige Anwendung allgemeiner Rechtsnormen auf. So zu urteilen, soll demnach eine Pflicht sein, die sich zwingend aus diesen Normen ergibt. Mit anderen Worten: Die Richter würden es wieder so tun.

Es mag verführerisch sein, diese Vorgänge als Willkür einzelner Richter oder gar als Richter-Verschwörung zu behandeln – die Tatsache, dass die Richterin Eva Voßkuhle gleich zweimal an entscheidender Stelle die Urteile zu verantworten hat und sie zudem die Ehefrau des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts ist, mag dazu einladen. Und doch greift eine solche Personalisierung zu kurz. Wichtiger ist die Systemfrage: Wo ist der Raum, in dem solche krassen Fehlentscheidungen entstehen und sich durchsetzen können? Welche Ideologie steht Pate, wenn der Kinderschutz selbst dort noch in die Hände „der Familie“ gelegt werden, wo diese Familie als zivile Institution gar nicht mehr existiert? Und welche Strukturen machen es möglich, dass die richterliche Gewalt sich praktisch ohne Korrektiv durchsetzen kann und allein über Sein oder Nicht-Sein des staatlichen Schutzes entscheidet? Wenn der Schutzvertrag, der auch an vielen anderen Stellen brüchig geworden ist, wiederhergestellt werden soll, braucht Deutschland mehr als einen Personalwechsel.

Wie lautete die Überschrift eines Kommentars, der bereits am 7.5.2016 im Wirtschaftsteil der FAZ erschien und die Anmaßung kritisierte, mit der deutsche und europäische Gerichte die Festlegungen des Gesetzgebers in Deutschland (bei Sozialleistungen für Asylbewerber) durchkreuzt hatten: „Vom Rechtsstaat zum Richterstaat“.

 

 

(erschienen bei „Die Achse des Guten“ am 1.2.2018)