Die Schutzzoll-Maßnahmen der US-Regierung sind ein überfälliger Schritt. Wenn die Marktwirtschaft mit Hilfe eines entfesselten Freihandels zerstört wird, ist es höchste Zeit, Grenzen zu ziehen.

Marktwirtschaft ist mehr als Freihandel

22.März 2018

Als bekannt wurde, dass Donald Trump sich entschlossen hat, Schutzzölle auf Stahl- und Aluminium-Importe in die USA zu erheben, waren die Verurteilungen schnell und laut. Dabei wurden sehr formelhafte Weisheiten ins Feld geführt: „Protektionismus“, „Abschottung“, „Handelskrieg“, „Zerstörung unseres Wohlstands“. Die Bundesregierung und die EU-Kommission drohten Vergeltung an und siegesgewiss verkündeten viele Leitartikel, man werde die US-Regierung alsbald „zur Vernunft“ bringen. Doch diese Stimmen sind inzwischen ziemlich kleinlaut geworden. Man möchte nun doch lieber nicht die Probe aufs Exempel machen, wer in dieser Auseinandersetzung am längeren Hebel sitzt. „Bloß keine Eskalation“ lautet nun die Devise, denn man habe „viel zu verlieren“. Inzwischen sind ein paar Fakten durchgesickert – zum Beispiel, dass der US-Schutzzoll bisher relativ niedrig war. 2016 betrug er im Durchschnitt aller Importgüter in den USA 3,48%, in der EU 5,16% und in China 9,92%. Die Europäische Union und vor allem „unser Freihandels-Freund China“ liegen demnach erheblich über dem US-Zoll. Die Marktoffenheit der USA wurde in den vergangenen Jahrzehnten einseitig und schamlos ausgenutzt.

In der heutigen Weltwirtschaft ist es zu einer gravierenden Neuverteilung der realwirtschaftlichen Gewichte gekommen. Während sich China (mit einem inzwischen weltweiten Netzwerk) zur „Werkbank der Welt“ entwickelt hat, die nun auch hochkomplexe Güter umfasst, schreitet die Deindustrialisierung in anderen Teilen der Welt fort – auch in den frühen Industrienationen Europas und Nordamerikas. Damit werden Produktionsfaktoren außer Wert gesetzt. Nach einer Studie des MIT (zitiert von Philip Plickert in der FAZ vom 12.11.2016) haben die Importe aus China die USA seit dem Jahr 2000 zwei Millionen Arbeitsplätze gekostet. So wird die volkswirtschaftliche Wertschöpfung vieler Länder in ihrem Kern geschwächt. Im Weltmaßstab hat sich eine hegemoniale, monopolähnliche Struktur herausgebildet – das Gegenteil von freien Märkten. Damit ist der Freihandel in einer neuen, tieferen Weise fragwürdig geworden. Er ist zum Einfallstor geworden, um freie, pluralistische Märkte in monopolisierte Märkte zu verwandeln. So, wie eine grenzenlose Offenheit für Demokratien zur Gefahr werden kann und Schutzvorrichtungen der Verfassung erfordert, kann auch eine grenzenlose Offenheit der Marktwirtschaft zur Monopolbildung pervertiert werden. Auch hier sind Schutzvorrichtungen angebracht und keineswegs ein Zeichen von Markt-Feindschaft und Autarkie-Streben.

Doch so wird die Diskussion über den Welthandel heute selten geführt. Auch unter denen, die Verständnis für die Haltung der US-Regierung haben, gehen viele noch von der Annahme aus, dass die Globalisierung der Märkte in diesem Jahrhundert weitergehen wird und auch weitergehen sollte. Die Möglichkeit, dass sich die Ordnung der Weltwirtschaft in den kommenden Jahrzehnten in eine andere Richtung entwickelt, wird nicht ernsthaft erwogen. Insbesondere wird nicht die Möglichkeit erwogen, dass die Unterscheidung zwischen Binnenmärkten und Weltmarkt sich verstärkt und damit ein neuer Pluralismus der Märkte entsteht. Bisher gilt es als Zeichen einer marktwirtschaftlichen Überzeugung, dass man die Bildung eines immer größeren Einheitsmarktes zur Quintessenz ökonomischer Vernunft macht. Alles andere gilt als Rückfall in alte Zeiten („Merkantilismus“) und als politisch-planwirtschaftliche Manipulation der wirtschaftlichen Vernunft. Vor diesem Hintergrund werden die amerikanischen Schutzzölle allenfalls als Notmaßnahme akzeptiert, aber nicht als Grundbestandteil eines zukünftigen Marktpluralismus.

Deshalb vermeiden die meisten Kommentare auch eine vertiefende Erörterung der Schutzzoll-Maßnahmen. Sie vermeiden überhaupt eine nähere Betrachtung der Produktionssphäre, sondern sie erörtern nur die Zirkulationssphäre. Aber die US-Schutzzölle zielen auf eine Konsolidierung der Industrieproduktion und auf den Einsatz einheimischer Produktionsfaktoren (Betriebsanlagen, Arbeitskräfte, Technologie, Rohstoffe). Dies ist ein konstruktives Element, das durchaus verallgemeinerbar und nachhaltig ist. In diesem Artikel sollen Gründe vorgetragen werden, die – in der gegenwärtigen Phase der Weltwirtschaft – für ein dauerhaftes Ordnungselement „Handelsbeschränkungen“ sprechen. Nicht wegen politisch-planwirtschaftlicher Ziele, sondern aus ökonomisch-marktwirtschaftlicher Vernunft.

Nutzen und Grenzen großer Einheitsmärkte

Die Stärke der klassischen Ökonomie, die den industriellen Aufstieg Englands vorbereitete und begleitete, bestand darin, dass sie den Nutzen großer Märkte zeigte, indem sie die Produktionssphäre betrachtete: Adam Smith (1723–1790) zeigte die Steigerung der Wertschöpfung durch Arbeitsteilung, Spezialisierung und Skaleneffekte. Die höhere Effizienz setzte Produktionsfaktoren (Arbeitskräfte, Betriebsanlagen, etc.) außer Beschäftigung, aber sie schuf auch neue Beschäftigungsmöglichkeiten für neue Produkte und Branchen. David Ricardo (1772-1823) fügte ein wichtiges Argument hinzu: Wenn auf dem Weltmarkt zwei Länder mit unterschiedlich günstigen Produktionsbedingungen konkurrieren, wird das günstigere Land nicht alle Arbeitszweige auf sich ziehen, sondern nur diejenigen mit besonders hoher Wertschöpfung, durch die das Land seine Gunst am effektivsten nutzt (es hat die sogenannten „komparativen Vorteile“). Die anderen Arbeitszweige wird sie den Ländern mit den ungünstigeren Bedingungen überlassen. Diese Ricardo-Argumentation wird heute noch vielfach zu Gunsten des Freihandels aufgeboten. So weit, so gut. Allerdings gibt es in dieser Argumentation eine Zusatzbedingung, die oft übersehen wird. Das günstigere Land wird Produktionszweige nur dann abtreten, wenn es schon vollbeschäftigt ist. Hat es noch Kapazitäten offen, wird es sie einsetzen und dann gehen die Länder mit den ungünstigeren Bedingungen auf dem Weltmarkt leer aus.

Sowohl das Smith-Argument als auch das Ricardo-Argument setzen also voraus, dass wir expansive Märkte haben, die zusätzliche Gelegenheit zur Investition und Beschäftigung von Produktionsfaktoren bieten oder für die nähere Zukunft in Aussicht stellen. Haben wir eine restriktive Situation ohne Markt-Expansion, gilt das nicht. Der Freihandel würde dann eine stark selektive und monopolisierende Tendenz haben. Mit anderen Worten: Smith und Ricardo haben Recht, aber nicht „prinzipiell“, sondern unter bestimmten historischen Bedingungen. Die Wirtschaftsgeschichte kennt eine große Vielfalt von Situationen und Konstellationen, die nicht vom guten Willen der Menschen abhängen. Die historische Situation, in der Smith und Ricardo sich bewegten, war ohne Zweifel expansiv, und insofern hatten sie Recht. Das 20. Jahrhundert kennt restriktive und expansive Phasen. Und die ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts? Das Auftreten einer „Werkbank der Welt“ namens China – bei gleichzeitiger Deindustrialisierung vieler ältere Industrieländer – ist ein deutliches Zeichen für ein restriktives Szenario. Tatsächlich beobachten viele Fachleute mit Sorge, wie China immer größere, strategische Marktpositionen besetzt, nicht nur beim „Seidenstraßen“-Projekt. Zugleich ist in den USA und in Europa die Deindustrialisierung zu einem öffentlichen Thema geworden.

Schutzzölle und Marktwirtschaft

Ein restriktives Szenario bedeutet nicht den Untergang der Marktwirtschaft, aber es macht Begrenzungen vernünftig, die im expansiven Szenario schädlich sind. Es ist sinnvoll, den freien Import ausländischer Güter zu beschränken, wenn er dazu führen würde, dass Produktionsfaktoren dauerhaft brachgelegt werden und wirtschaftliche Potentiale außer Wert gesetzt werden. Das ist ein Gebot ökonomischer Vernunft. Außenhandelsbeschränkungen bedeuten nicht, dass der gesamte Außenhandel eingestellt wird. Sie bedeuten erst recht nicht, dass ein Land gar keine Marktwirtschaft mehr hat. Denn ein durch Zollschranken geschützter Binnenmarkt ist immer noch ein Markt. Er kann sogar ein lebhafterer Markt sein, als ein durch wenige Weltfirmen dominierter „offener“ Monopol-Markt. Schutzzölle sind so normal und so wichtig wie eine Anti-Monopol-Gesetzgebung.

Die klassische Freihandelstheorie hat immer schon Maßnahmen zum Marktschutz „pragmatisch“ gebilligt – zum Beispiel beim Schutz sicherheitsrelevanter Güter oder bei Schutz einer Elementarversorgung des Landes. Aber die ökonomische Theorie hat auch einen Ansatz hervorgebracht, der Schutzzölle mit einer ganzen Entwicklungsphase eines Landes verband. Friedrich List (1789-1846) schlug Schutzzölle für rückständige Volkswirtschaften vor, die erst ihre eigenen industriellen Fähigkeiten und Anlagen aufbauen mussten. In einer solchen Aufbauphase sind Importprodukte oft besser und auch billiger, aber ihr Kauf verhindert das Selber-Machen und blockiert damit auf Dauer den Weg zum Industrieland. So hat es List im 19. Jahrhundert auch für Deutschland gesehen. Bei den asiatischen Aufsteiger-Ländern des 20. Jahrhunderts war List ein einflussreicher Ökonom.

Ein „List-Szenario für die heutige Weltwirtschaft

Nun gibt es eine Pointe: Man kann die Argumentation List auch auf Länder anwenden, die von Deindustrialisierung bedroht sind. Denn auch hier geht es darum, dass sich ein Land einer schlechten Monopolisierung von außen entzieht. Es spielt keine Rolle, dass dies Land eventuell schon eine bedeutende Industriegeschichte hinter sich hat und einmal einen führenden Rang eingenommen hat – es ist heute in der Gefahr, sich zurückzuentwickeln und seinen Charakter als Industrieland zu verlieren. Da ist der Schutzzoll im Sinne von List ein ökonomisch richtiges und legitimes Mittel. Das Kernargument ist immer ein ökonomisches Argument: In bestimmten Perioden können die Verluste durch das Brachfallen vorhandener Produktionsfaktoren gravierender sein als die Gewinne durch bessere, preisgünstige Importgüter. Es kann solche Perioden sogar für eine ganze Weltwirtschaft geben. Das gilt insbesondere dann, wenn sich die Anzahl der Volkswirtschaften, die am Welthandel teilnehmen, stark erhöht und dadurch eine neue Knappheit entsteht. Es gibt gute Gründe, bei der heutigen Weltwirtschaft nicht von einem „Ricardo-Szenario“ auszugehen, sondern von einem „List-Szenario“.

Ein Prüfstein: Die produktive Verwendung der Importe

Indirekt zeigt sich auch in mancher Argumentation der Trump-Gegner, wie fragwürdig die Freihandels-Welt heute ist. Olaf Gersmann schreibt in der „Welt“ (7.3.2018) unter der Überschrift „Die sieben Irrtümer des Donald T.“, dass die USA notorisch mehr importieren als exportieren und damit mehr ausgeben, als sie erwirtschaften. Aber Gersmann fügt hinzu, dass das nicht so schlimm ist, wenn die Importe produktive Importe sind – also zu einer neuen, stärkeren Beschäftigung der einheimischen Produktionsfaktoren führen. Ja, dem könnte man zustimmen – wenn wirklich belegt würde, dass diese produktive Nutzung geschieht. Doch an dieser Stelle lässt Gersmann einen kuriosen Satz folgen: „Nun kann man darüber streiten, ob Amerika wirklich in diesem Sinn vorsorgt – die Kapitalmärkte jedenfalls glauben daran, sonst hätten sie längst den Aufkauf weiterer US-Schuldtitel zu niederigen Zinsen verweigert.“ Also hat Gersmann keinen Beleg für die produktive Verwendung. Er kann nicht mal belegen, dass eine solche produktive Verwendung überhaupt vorhanden ist – sie müsste ja die Dimension der Defizite und aufgelaufenen Schulden haben. Stattdessen wird mit dem Verhalten der Kapitalmärkte argumentiert: Sie kaufen weiter. Das ist alles andere als ein belastbarer Indikator. Hier zeigt sich, an welch dünnem Faden die Verurteilung von Donald Trumps Handelspolitik hängt.

Die trügerische Leichtigkeit des Freihandels

Die kritische Stelle beim Freihandel ist dort, wo nach dem ersten Schritt, bei dem durch Exporte in ein Land Produktionsfaktoren beschäftigungslos werden, ein zweiter Schritt folgen muss, mit dem neue Felder der Beschäftigung gewonnen werden. Der erste Schritt ist immer leicht. Der zweite Schritt ist viel schwieriger und voraussetzungsvoller.

Was die „Produktivitätskrise“ bedeutet

Dafür, dass wir uns in einem restriktiven Markt-Szenario befinden und gar keine großen Spielräume für produktive Neuanlagen haben, gibt es ein Indiz: Es wird seit einigen Jahrzehnten ein stark verlangsamtes Wachstum der Produktivität beobachtet. Erst kürzlich hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung (12.3.2018) von einer Studie der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) berichtet, in der diese Produktivitätskrise unter anderem darauf zurückgeführt wird, dass es in Ländern wie Deutschland eine Verlagerung der Wirtschaftstätigkeit auf Branchen mit unterdurchschnittlichem Produktivitätsniveau gibt. Von 1991 bis 2016 fiel der Beschäftigtenanteil im verarbeitenden Gewerbe von 25 auf 18 Prozent. Zugleich stieg der Anteil im Dienstleistungssektor von 45 auf 59 Prozent. Im Dienstleistungssektor ist die Produktivität im Durchschnitt erheblich geringer als im verarbeitenden Gewerbe. Wirtschaftliches Wachstum kann also eine Zeit lang auf Kosten der Produktivität erfolgen, und eine hohe Beschäftigtenquote kann verdecken, dass die Wertschöpfung im Land schon kriselt. Der kritische Punkt ist dann erreicht, wenn die hochproduktiven Industrien so weit geschrumpft sind, dass sie die großen Sektoren mit niedriger Produktivität oder mit Null-Produktivität nicht mehr tragen können. Die hohe Verschuldung und die Unfähigkeit zum Ausstieg aus der Politik des billigen Geldes kann als Folge (und als Überdeckung) dieses Produktivitäts-Problems verstanden werden. Auch das spricht gegen eine freihändlerische Lösung der Schuldenkrise. Ein Ende der Politik des billigen Geldes kann nur ausgehalten werden, wenn es Sicherungen für den Binnenmarkt gibt.

Die Position Deutschlands

Deutschland war lange Zeit auf der Gewinnerseite des Freihandels. Aber es wird jetzt deutlich, in welchem Maß es dabei von fremder Kaufkraft gelebt hat. Die Schutzzoll-Frage, die in anderen Ländern weniger selbstgewiss abgetan wird, zeigt die Verwundbarkeit des deutschen Modells. Es ist nicht verallgemeinerbar. Zugegeben, die deutsche Position ist nicht leicht aufzugeben. Aber sie ist letztlich nicht haltbar.