Ein deutsches Gericht weigert sich, einen Verfassungsbrecher an die Madrider Justiz zu überstellen, und der politisch-mediale Mainstream verbreitet Zweifel an der spanischen Demokratie. Die Anti-Orban-Kampagne lässt grüßen. 

Und jetzt der Bruch mit Spanien

11.4.2018

Formal war die Weigerung, den Separatistenführer Puigdemont nicht der spanischen Justiz zu überstellen, die Entscheidung eines Schleswig-Holsteiner Gerichts. Aber die politisch-medialen Reaktionen in Deutschland zeigten ein erstaunlich breites Misstrauensvotum gegen die Rechtsstaatlichkeit in Spanien. Man behauptet, sich nicht in eine gerichtliche Entscheidung einmischen zu wollen, und mischt sich gerade dadurch in das Gerichtswesen eines anderen Mitgliedslandes der EU ein. Auf einmal gibt es in Deutschland überall Spanien-Kenner, die sicher sind, dass Katalonien in Spanien unterdrückt wird, dass die spanische Justiz politisch instrumentalisiert wird und dass Spanien überhaupt die Franco-Diktatur noch gar nicht „richtig“ überwunden habe. Und schon ist der Regierungschef Rajoy als nächster „Orban“ ausgeguckt. Und der schlaue Herr Puigdemont schmunzelt dazu.

Ein Misstrauensvotum gegen die spanische Demokratie

Das Schleswiger Oberlandesgericht hat eine Entscheidung von europäischer Tragweite gefällt. Es spricht dem EU-Mitglied Spanien die Fähigkeit ab, über die katalanischen Separatisten in angemessener rechtsstaatlicher Weise zu urteilen. In der Entscheidung heißt es, „dass sich hinsichtlich des Vorwurfs der `Rebellion´ die Auslieferung als von vornherein unzulässig erweist“. Damit ziehen die Richter in Zweifel, dass der spanische Straftatbestand der „Rebellion“ ein rechtsstaatlich akzeptabler Grund für ein gerichtliches Strafverfahren ist. Das ist nicht nur in der Sache Puigdemont höchst fragwürdig, sondern überdehnt auch den richterlichen Prüfauftrag. Dieser Prüfauftrag kann ja nicht darin bestehen, die Frage zu beantworten, ob der spanische Straftatbestand „Rebellion“ in jedem Detail deckungsgleich mit dem deutschen Tatbestand „Hochverrat“ ist. Die Rechtssysteme der verschiedenen Nationen haben sich historisch mit unterschiedlichen Akzenten gebildet und kein Rechtssystem kann hier allein für sich normgebend sein, wenn Justizflüchtlinge die offenen Grenzen in Europa ausnützen. Ein Gericht im Zufluchtsland hätte also nur zu prüfen, ob der Anklagepunkt „Rebellion“ nicht insgeheim eine Verletzung von Grundrechten beinhaltet. Einen solchen Beleg haben die Schleswiger Richter aber weder gefunden noch in ihrer Begründung angeführt.

Die Handlungen, die Puigdemont und anderen Separatisten in Spanien als „Rebellion“ zur Last gelegt werden, sind keine Meinungsäußerungen, keine Demonstrationen, keine Parteiprogramme. Die Freiheit, politische Ziele – auch separatistische Ziele – zu formulieren und öffentlich zu äußern, ist in Spanien so groß wie in Deutschland. Etwas ganz anderes ist es, wenn Handlungen unternommen werden, die in die Verfassungsordnung eines Landes tatsächlich eingreifen. Dazu gehört ein Referendum, das als Entscheidung über die Trennung einer Region zum Staatsganzen durchgeführt wird. Dazu gehört eine Unabhängigkeitserklärung, die einseitig vom Parlament einer Region beschlossen wird. Dazu gehört es auch, wenn im Rahmen dieser Handlungen öffentliche Gebäude, Gelder, Amtsträger und bewaffnete Kräfte eingesetzt werden oder dazu veranlasst werden, solche Handlungen zu dulden.

Ein Gericht, das seine Kompetenzen überschreitet

Ein deutsches Gericht hat auch nicht darüber zu befinden, ob und in welchem Maß das tatsächlich in Spanien stattgefunden hat. Das überschreitet ganz offensichtlich seine Erkenntnismöglichkeiten und Zuständigkeiten. Würde es darüber befinden, wäre dies eine Anmaßung. Ebenso wenig steht einem Schleswiger Oberlandesgericht ein Urteil zu, ob das Dispositiv „Rebellion“ vor dem Hintergrund der spanischen Geschichte eine angemessene oder eine übertriebene Wehrhaftigkeit der Verfassung darstellt. Würde es hier Zweifel anmelden, stände sein Prüfverfahren im Schatten eines Generalverdachts gegen Spanien.

Die Schleswiger Richter hätten also allen Grund gehabt, sich auf eine Überprüfung elementarer Rechtsstandards zu beschränken und dann darüber zu entscheiden, ob Puigdemont nach Spanien überstellt wird oder nicht. Doch stattdessen haben sie eine Bewertung der Vorgänge in Katalonien am 1. Oktober 2017 versucht – und das in ein paar Tagen, von Schleswig aus. Wilhelm Hofmeister, der Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Madrid, hat diesen Vorgang sehr deutlich in Worte gefasst (in einem Beitrag für die FAZ am 10.4.2018):

„Anstatt sich auf die Grundregeln des europäischen Haftbefehls zu konzentrieren und Puigdemont nach Spanien zu überstellen, hat das Oberlandesgericht in kürzester Frist eine qualifizierte Bewertung der Vorgänge um das illegale Referendum in Katalonien am 1. Oktober 2017 vorgenommen, was nicht verlangt war und was seine Kompetenzen deutlich überschreitet.“

Wie die „Szenario-Methode“ die Sachlage verschiebt

Es handelt sich also um eine anmaßende und übergriffige Entscheidung. Diese Übergriffigkeit wird deutlich, wenn man einige Details des Verfahrens und der Begründung betrachtet. Aus einem Bericht von Helene Bubrowski und Matthias Wyssuwa (in der FAZ am 7.4.2018) erfahren wir folgendes:

„Das Gericht prüfte nicht nur, ob es eine ähnliche Vorschrift (wie „Rebellion“, GH) im deutschen Recht gibt, sondern transferierte das gesamte Szenario gedanklich nach Deutschland: Der Fall müsse so gedacht werden, als habe der Ministerpräsident eines deutschen Bundeslandes die Absicht, sein Bundesland in die Unabhängigkeit zu führen und habe hierfür mit weiteren Regierungsmitgliedern ein Referendum über die Unabhängigkeit dieses Bundeslandes vorbereitet. Außerdem sei zu unterstellen, dass das Bundesverfassungsgericht das Referendum für Verfassungswidrig erklärt habe und dass der Ministerpräsident aufgrund von Warnungen der Polizei damit rechnen müsse, dass es am Abstimmungstag zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Bürgern und der Polizei kommen werde.“

Der Leser würde nun denken, dass jeder Rechtsstaat das Festhalten am Referendum als strafbaren Angriff auf die verfassungsmäßige Ordnung werten würde und den Ministerpräsidenten – nach der Schwere der in einem Prozess zu ermittelnden Einzelhandlungen – verurteilen würde. Aber das Schleswiger Gericht sieht es anders: Nach seiner Auffassung wäre das Verhalten des Ministerpräsidenten in Deutschland nicht strafbar!

Da stockt einem der Atem. Nicht nur wegen des rechtlichen Spielraums, der damit dem Separatismus in Spanien eingeräumt wird, sondern auch wegen des Spielraums, der zukünftigen Angriffen auf die verfassungsmäßige Ordnung in Deutschland eingeräumt wird.

Was hat die Lostrennung Kataloniens mit dem Protest gegen die Startbahn West zu tun?

Wie kommen die Richter dazu? Hier berichtet der FAZ-Artikel ein weiteres Detail: Das Oberlandesgericht hat auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Frankfurter „Startbahn West“ von 1983 zurückgegriffen, als eine Bürgerinitiative zu Massendemonstrationen am Flughafengelände aufgerufen hatte, damit die hessische Landesregierung sich gezwungen sehe, das Erweiterungsprojekt doch noch abzusagen. Der Bundesgerichtshof hatte es abgelehnt, die Bürgerinitiative zu verurteilen. Und das überträgt die Schleswiger Entscheidung nun auf den katalanischen Abspaltungsprozess. In den Worten der FAZ: „Die Gewalttätigkeiten, die es beim Referendum am 1. Oktober unzweifelhaft gegeben hat, seien nicht geeignet gewesen, die Regierung derart unter Druck zu setzen, dass sie sich `zur Kapitulation vor der Forderung der Gewalttäter´ gezwungen gesehen hätte. Dies hätte ja auch der Lauf der Geschichte gezeigt.“ Das Maß „Kapitulation vor der Forderung der Gewalttäter“ stammt offenbar wörtlich aus der Begründung der Schleswiger Entscheidung.

Sofort wird klar, welche Veränderungen durch die „Szenario“-Methode des Schleswiger Gerichts in den Puigdemont-Fall gebracht wurden: Beim Startbahn-West-Fall ging es um eine Demonstration und die Veranstalter konnten sich darauf berufen, dass es ihnen nur um „öffentlichen Druck“ gegangen sei. Beim Referendum am 1. Oktober ging es um einen Rechtsakt, der im Falle einer Mehrheit für die Lostrennung einen bindenden Auftrag erzeugt hätte. Als solcher Rechtsakt (und nicht als Demonstration) ist das Referendum am 1. Oktober vom Verfassungsgericht verboten worden. Es ist dann heimlich, mit aktiver Beteiligung oder Duldung von Inhabern öffentlicher Ämter, unter Benutzung öffentlicher Gelder und Gebäude in einem beträchtlichen Umfang durchgeführt worden. Dabei wurden spanische Polizeikräfte (die Guardia Civil) gewaltsam angegriffen, die dem gerichtlichen Verbot Geltung verschaffen wollten. Unter Berufung auf die (nicht überprüfbaren) Ergebnisse des Referendums erklärte eine knappe Mehrheit des katalanischen Parlaments am 27. Oktober einseitig die Unabhängigkeit Kataloniens („Declaració unilateral d´Independència“). Es handelt sich also um einen grundsätzlich anderen Vorgang als bei der Demonstration gegen die Startbahn West. Das Demonstrationsrecht der Separatisten stand überhaupt nicht in Frage. Sie hätten auch am 1. Oktober 2017 unbehelligt demonstrieren können. Genauso, wie es keinerlei Parteienausschluss oder gar Parteienverbot zu den Wahlen am 21.12.2017 gab.

Dabei nehmen die Schleswiger Richter noch einen zweiten Eingriff in die Rechtslage vor: Der Tatbestand der „Rebellion“ respektive des „Hochverrats“ sei erst erfüllt, wenn die Institutionen zur „Kapitulation“ vor der Gewalt gezwungen wären. So ein Mindestkriterium steht nach meiner Kenntnis weder bei „Rebellion“ noch bei „Hochverrat“ im Gesetz. Es ist von „Gewalt“ und „Androhung von Gewalt“ die Rede. Das bedeutet, dass schon der gewaltsame Versuch strafbar ist, auch wenn er vereitelt wird.

Die Wehrhaftigkeit der spanischen Demokratie wird zum Vorwurf

Zur Erinnerung: In Spanien wurde der Militärputsch-Versuch des Oberstleutnants Tejero im Februar 1981 im Keim erstickt. Aber selbstverständlich wurden die Täter verurteilt. Als jetzt das katalanische Parlament die Unabhängigkeit erklärte, wurde der Artikel 155 der Verfassung in Kraft gesetzt, die Regionalregierung abgesetzt und Neuwahlen angesetzt. Die Lage war also nicht soweit, dass die spanischen Institutionen zu einer Kapitulation vor der Gewalt gezwungen waren; vielmehr wurde gerade verhindert, dass sich eine solche Situation aufbaute. Das gehört zur Wehrhaftigkeit der spanischen Demokratie. Ebenso gehört zur Wehrhaftigkeit dieser Demokratie, dass sie führende Separatisten, die in Katalonien zur Tat geschritten sind (und zwar nicht nur in einem einzigen Akt, sondern in einer längeren Handlungskette) wegen Rebellion vor Gericht stellt. Dazu zählt Herr Puigdemont. Die Argumentation der Schleswiger Richter führt in einen absurden Zirkel: Die erfolgreichen Abwehrmaßnahmen der spanischen Justiz gegen den Separationsprozess werden zum Argument dafür, dass die Täter nicht wegen ihres Verfassungsbruchs angeklagt werden dürfen.

Man muss hier kurz auf die tieferen Gründe eingehen, die in Spanien hinter dem Straftatbestand der Rebellion stehen und hinter dem Artikel 155, der gegen die Auflösung der Einheit Spaniens gerichtet ist. Dahinter stehen die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, in denen es nicht nur die zentralisierende Diktatur Francos gab, sondern vorher auch den separatistischen Zerfall des Landes. Dahinter steht ein noch älteres Merkmal der spanischen Nation, die – im Guten wie im Bösen – eine sehr lebhafte lokale und regionale Eigensinnigkeit auszeichnet. Deshalb war die Kombination von Einheit und Dezentralität immer ein Schlüsselproblem der spanischen Staatsbildung und Verfassungsgeschichte. Hier lag ein wunder Punkt, ein Dilemma, wie es auch andere Nationen kennen. Uns Deutschen müsste es jedenfalls nicht ganz fremd sein. Die Verfassung von 1978 hat in dieser Hinsicht eine neue Balance gefunden und stellt damit einen Meilenstein in der spanischen Verfassungsgeschichte dar.

Es zeugt von einer grässlichen Ignoranz, wenn heute die Mär verbreitet wird, die Verfassung von 1978 sei ein „Erbe der Franco-Diktatur“. Es ist schon verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass der Artikel 155 sich – ausgerechnet – am deutschen Grundgesetz inspirierte (siehe Hans-Christian Rößler in der FAZ vom 27.12.2017).

Jetzt steht auch Spanien unter Rechtspopulismus-Verdacht

Vor diesem Hintergrund kann sich vielleicht mancher deutsche Leser vorstellen, wie verletzend es für die Spanier ist, wenn sie ihre Demokratie und ihre politischen Grundwerte in die Nähe der Franco-Diktatur und des Rechtsextremismus gerückt sehen. Diese Propaganda der katalanischen Separatisten ist ähnlich verletzend wie die hierzulande üblich gewordene Methode, die Opposition gegen die Migrationsanarchie als „rechtsradikal“ oder gar „rassistisch“ zu diffamieren. Und jetzt erfahren die Spanier, dass ein deutsches Gericht einen katalanischen Separatistenführer nicht an die spanische Justiz übergeben will, weil es kein korrektes rechtsstaatliches Verfahren gewährleistet sieht.

Sie hören auch von der deutschen Justizministerin Frau Barley (SPD), die in der Süddeutschen Zeitung mit der Aussage zitiert wurde, das Schleswiger Urteil sei „absolut richtig“ und sie habe „nichts anderes erwartet“. Danach wurde die Aussage von einem Sprecher des Ministeriums dementiert, mit dem Hinweis, es habe nur „ein Hintergrundgespräch“ stattgefunden. Es bleibt der Eindruck, dass die Rechtsfindung in diesem Fall „politisch begleitet“ wurde und in ihrem Ergebnis bereitwillig geduldet wird. Warum gibt es keinen Einspruch gegen die Entscheidung? Warum wird sie nicht höheren Gerichten, insbesondere dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt? Und die Kanzlerin schweigt und lässt dösend die Affäre ihre Kreise ziehen. Irgendwann wird sie das Publikum mit der lapidaren Erklärung überraschen, dass jeder sowieso selber entscheiden muss, wo er sich zugehörig fühlt.

Gute Gründe für eine tiefere deutsch-spanische Freundschaft

Eigentlich gäbe es viel zu besprechen zwischen Deutschland und Spanien. Und wir wären da nicht nur die Lehrmeister. Denn wir Deutschen sind über das „spanische Problem“ der territorialen Einheit der Nation nicht so erhaben, wie es scheint. Die Schleswiger Gerichtsentscheidung gesteht in ihrer Begründung einem deutschen Ministerpräsidenten zu, straflos die Loslösung seines Bundeslandes von Deutschland betreiben zu können. Im Ernst? Oder wird das nur so dahingesagt, weil wir unsere territoriale Einheit immer stillschweigend voraussetzen? Erinnern wir uns an die Wiedervereinigung: Da ließ man die Ostdeutschen lieber „en bloc“ zum Bundesgebiet beitreten und nicht durch Referenden in allen einzelnen Bundesländern. In der „Wiedervereinigung“ wurde die Einheit stillschweigend vorausgesetzt. Dass sie vorausgesetzt wurde und auch heute nicht täglich neu entschieden werden muss, wer mitmacht und wer nicht, ist gut. Aber sie muss ausdrücklich vorausgesetzt werden. Das ist die spanische Verfassungslage, das macht die „Nation der Nationalitäten“ aus. Da verläuft die rote Linie gegenüber dem Separatismus.

Eigentlich wäre dies der Moment, um die deutsch-spanische Freundschaft tiefer zu verstehen und fester zu begründen. Es gibt da manche Parallele und Gemeinsamkeit, die im bilateralen Verhältnis viel deutlicher wird als in der abstrakten EU-Gesamtheit. Die katalanische Affäre ist ein Prüfstein, aber kaum jemand scheint es zu merken. Welche gegenseitige Aufmerksamkeit und Achtung zwischen Deutschen und Spaniern hätte entstehen können, wenn wir in dieser kritischen Situation deutlich gemacht hätten, dass das wiedervereinigte Deutschland der spanischen Demokratie vertraut.

Es macht traurig und zornig zu sehen, was in diesen Tagen alles zerschlagen worden ist.

 

(erschienen unter dem Titel „Berlin bricht mit Spanien“ am 12.4.2018 auf der Internetplattform „Die Achse des Guten“; in einer kürzeren Version auch in meiner Kolumne bei „Tichys Einblick“ am 6.4.2018)