Die 68er Bewegung stellte einen geistig-moralischen Bruch mit der Normalität der Moderne dar. Damit kehrte eine in Deutschland wohlbekannte, problematische Konstellation wieder: „Geist“ wurde gegen Wirtschaft und Staat in Stellung gebracht.   

Aus dem Notizbuch: Was durch „1968“ abgebrochen wurde

5. Mai 2018

Die 68er Bewegung war nicht nur ein spontaner (jugendlicher) Gefühlsausbruch, sondern führte eine große und problematische geistige Fracht mit sich. Sie vollzog einen geistig-moralischen Bruch mit der Normalität der Moderne. Das war deshalb besonders gravierend, weil es in den 1960er Jahren eigentlich darum gegangen wäre, den politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands auch geistig zu festigen. Doch die 68er Bewegung war in dieser Hinsicht das radikale Gegenteil. Das vorsichtige und allmähliche Aufbauwerk, das viele Menschen guten Willens – in Politik, Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft – in den 1950er Jahren begonnen hatten, wurde nicht fortgesetzt, sondern moralisch herabgesetzt. So kam es, gewollt oder ungewollt, zu einer ungünstigen Konstellation: Mit der „kulturellen Revolution“ wurde Kultur gegen Wirtschaft und Staat in Stellung gebracht. Die begonnenen, konstruktiven Diskussionen über die institutionelle Ordnung von Wirtschaft und Politik wurden abgebrochen. Für die junge Bundesrepublik war das ein großer Rückschlag.

Bevor man sich mit der 68er Bewegung befasst, sollte man daher über die konkrete Situation Deutschlands in den 1960er Jahren sprechen.

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Osnabrück in den 1960er Jahren (I) – Wenn ich mir die Stadtansicht von damals in Erinnerung rufe, muss ich merkwürdigerweise an Schornsteine denken. Ja, damals rauchten noch weithin sichtbar die Schornsteine der Industrie. Das Osnabrück der 1960er Jahre war eine geschäftige Stadt, eine raue Stadt, eine unfertige Stadt. Zwar gab es keine Trümmerberge mehr, aber die Spuren des Krieges waren noch da: viele Baulücken; Häuser, die nur aus dem Parterre bestanden; in der Altstadt viele baufällige Häuser; als ich (Jahrgang 1951) ans Ratsgymnasium kam, standen daneben noch die britischen Wellblechkasernen. Die Stadt war in vieler Hinsicht prosaisch-grau, aber trotzdem interessant. Die Gegenstände des Alltags waren nicht so vielfältig, aber sie hatten mehr Gewicht – so scheint es mir – auch für einen Jugendlichen. Man war Fan bestimmter Automarken, bewunderte Kofferradios und Tonbandgeräte, in der Klasse wurden LPs getauscht – dazu kam bei mir der Sport in der Leichtathletik-Abteilung des OTB. Man hatte also echte Sehnsuchts-Objekte und hat das zunächst nicht als „Gegenkultur“ oder Rebellion gegen eine herrschende „autoritäre Unterdrückung“ verstanden. Eher sollte man von einer modernen Normalität mit ihren verschiedenen Entwicklungssträngen, allmählichen Fortschritten, begrenzten Konflikten sprechen, die im Laufe der 1960er Jahre die Sondersituation des Wiederaufbaus ablöste.

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Osnabrück in den 1960er Jahren (II) – 1959 wurde Willi Kelch von der SPD in Osnabrück Oberbürgermeister und blieb es bis 1972. 1961 wurde Städtepartnerschaft mit Haarlem (NL) begründet, 1964 folgte Angers (Frankreich). 1960 wurde der Straßenbahn-Betrieb eingestellt. Stattdessen kamen zunächst elektrische Oberleitungsbusse, dann Dieselbusse. 1964 wurde der Fußgängertunnel am Neumarkt. 1967 fusionierten das „Osnabrücker Tageblatt“ und die „Neue Tagespost“ zur „Neuen Osnabrücker Zeitung“. Ein Zeitungsmonopol in der Stadt, aber die Stadt hat dadurch bis heute eine eigene Zeitung, die in Deutschland durchaus wahrgenommen und zitiert wird. Und dann eine Errungenschaft von 1968: Am 14.11.1968 kam die Autobahn nach Osnabrück: Das letzte Teilstück der „Hansalinie“ zwischen dem Ruhrgebiet und Bremen/Hamburg wurde dem Verkehr übergeben.

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Die Fortschritte zu einer modernen Normalität – Dies Bild einer modernen Normalität lässt sich auch mit allgemeinen Fakten belegen. Nüchtern betrachtet hat die Bundesrepublik in dem „langen Jahrzehnt“, wie Historiker die 1960er Jahre genannt haben, keine große Krise erlebt. Die SPD, die in Osnabrück von 1956 bis 1981 regierte, hatte 1959 im Godesberger Programm ihren Frieden mit Kapital und Staat geschlossen. Die Große Koalition machte den Weg frei für Anpassungen in der Finanzpolitik, im Infrastruktur-Bau, bei der Innere Sicherheit. Die Krise von Kohle und Stahl wurde sozialpartnerschaftlich bewältigt. Und der Langzeitblick von heute 50 Jahre zurück zeigt die Verdienste dieser Jahre: Zum Beispiel ist die (relativ) gute Stellung der deutschen Industrie großenteils der Generation von Unternehmern und Facharbeiten zu verdanken, die damals ihr Erwerbsleben begannen. Auch politisch zeigte sich, dass hinter „Godesberg“, „Große Koalition“ und „Notstandsgesetze“ keineswegs die finsteren Kräfte einer autoritären Restauration standen, sondern die Normalität demokratischer Machtwechsel ermöglicht wurde.

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Der Mythos vom großen „Nein“ (I) – So ist die Erzählung von einer stummen, stumpfen, bleiernen Zeit, die erst durch die 68er Bewegung aufgesprengt werden musste, ein Mythos. Und doch hat diese Erzählung mich gegen Ende dieses Jahrzehnts (und noch ein ganzes weiteres Jahrzehnt) in Bann geschlagen. Es war die Selbst-Legitimation, mit der ich als Oberschüler ein 68er-Akteur in Osnabrück wurde. Um das zu verstehen, reicht der Hinweis auf einzelne (berechtigte) Anliegen des Protests nicht aus. Es war auch nicht einfach ein Gefühl, das hier spontan zum Ausbruch kam. Es war mehr im Spiel. „1968“ hatte eine geistige Dimension. Hier wurde ein genereller Geltungsanspruch erhoben: auf Veränderung der Welt, des Lebens, des Menschen. Über diese geistige Fracht der 68er Bewegung muss gesprochen werden.

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Der Mythos vom großen „Nein“ (II) – Eine Parole klingt mir nach: Auf der Vietnam-Demonstration riefen wir „USA – SA – SS“. Die Gleichsetzung der USA mit der SS und SA, wie maßlos und selbstgerecht das war. Hier wurden Welturteile gefällt, die zugleich Geschichtsrevisionen waren. Und eine ähnlich große Fracht bekamen alle Protestthemen. Auch dort, wo es um Alltagsthemen ging – den öffentlichen Nahverkehr, die Tageszeitung oder den Schulunterricht – sollte gleich „das ganze Leben“ geändert werden. Man erhob sich zum Richter über die Welt und präsentierte sich zugleich als Pionier einer zwangsfreien Lebensform – mit dem Anspruch, dass die ganze Gesellschaft eine andere zu werden hat und die Individuen „neue Menschen“ werden sollen. Das war, aus dem Munde von Oberschülern – die in Osnabrück mangels Studenten die Federführung hatten – eine geradezu klassisch-provinzielle Anmaßung. Aber dieser Weltanspruch war natürlich kein Osnabrücker Schülerproblem, sondern in den bekannten Universitätsstädten kaum weniger groß.

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Die Herrschafts-Sprache der Gesellschafts-Macher – Generell fällt bei der 68er-Bewegung auf, dass sie mit der prosaischen (politischen und wirtschaftlichen) Rolle des Bürgertums (und der Arbeiterschaft) sehr abschätzig umging. Im Unabhängigkeitsstreben der „3. Welt“ sah man eine von Bürgerlichkeit nicht „verfälschte“ Ursprünglichkeit der Völker am Werk. Und die bundesdeutsche Gesellschaft wurde insgesamt unter den Generalverdacht des „autoritären Charakters“ gestellt. Bürger und Arbeiter sollten also von sich selbst befreit werden. Diese Kulturrevolution war nicht einfach eine Lockerungsübung, sondern beinhaltete eine massive und intime Beeinflussung. Sie brachte auch bald ihre eigenen Machtfiguren und eine zunehmend sterile, verwinkelte Sprache hervor.

Ein Satz von Rudi Dutschke: „Wir in einer autoritären Gesellschaft aufgewachsenen Menschen haben nur eine Chance, unsere autoritäre Charakterstruktur aufzubrechen, wenn wir es lernen, uns in dieser Gesellschaft zu bewegen als Menschen, denen die Gesellschaft gehört, denen sie nur verweigert wird durch die beherrschenden Macht- und Herrschaftsstrukturen.“ (zitiert von Ingrid Gilcher Holtey in der FAZ am 2.Mai 1998). Wenn man einmal das (autoritäre) große Wortgeklingel nüchtern betrachtet, ist das – in den späten 1960er Jahren gesprochen – ein unfassbar naiver und in seinen Machtansprüchen dreister Satz: Wir sollen Menschen werden, „denen die Gesellschaft gehört“. Es sollen einfach „die Menschen“ sein, die – ohne irgendeine weitere Qualität und Geschichte – nun zur Macht berufen sind. Der Mensch wird in eine Meta-Position über die Gesellschaft. Das ist völlig ahnungslos gegenüber aller sozialwissenschaftlichen Aufklärung – insbesondere auch jener Aufklärung, die in der Bundesrepublik der 50er und 60er Jahre schon verfügbar war.

Und noch so eine zugleich fundamentalistische und intime Aussage (zitiert aus der gleichen Quelle): Dutschke behauptet, der „heutige Faschismus“ sei „nicht mehr manifest in einer Partei oder einer Person, er liegt in der Erziehung.“  

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Die Rolle des Marxismus – Der Zauber der antiautoritären Rebellion hielt nicht lange vor. Der Autor dieser Zeilen erinnert sich an einen Bundeskongress des „Aktionszentrums Unabhängiger und Sozialistischer Schüler“ Ende 1969, der zur Bühne für alle möglichen Egomanen, Dauerredner und Exoten wurde. Ich fuhr mit dem Gefühl nach Hause, dass es so nicht geht. War das Problem damit erledigt?

Nein, und hier muss von einer zweiten geistigen Verführung gesprochen werden, die mich über Jahre in Bann gehalten hat – der Marxismus. Es waren zwei Lektüren, die mich damals auf Anhieb fasziniert haben: die Feuerbach-Kritik von Marx und die damit verbundene „materialistische“ Geschichtsauffassung. Und eine Erläuterung der ökonomischen Theorie, die ich in einer längeren Einführung ins Marxsche „Kapital“ fand. Was hat mich da fasziniert? Ich denke, es war die plausible Erklärung der neuzeitlichen Wirklichkeit. Meine altsprachlich-humanistische Bildung hatte gereicht, um der „antiautoritären“ Umwälzung der Weltgeschichte zu misstrauen. Aber diese Bildung hatte eine große Lücke: Über unsere Epoche, die Moderne, erfuhren wir wenig. Autoren wie Voltaire, Montesquieu, Montaigne, Tocqueville, Hobbes, Locke, Adam Smith, Ricardo kannten wir nicht. Damit waren auch die Diskussionen über Marktwirtschaft und Verfassungsstaat, die in den Anfangsjahren der Bundesrepublik geführt wurden, für uns nicht präsent. Natürlich hätte ich die Möglichkeit gehabt, das auf eigene Faust zu entdecken. Stattdessen wurde für mich die Hinwendung zum Marxismus zur Ersatzlösung.

Und so ging es einem beträchtlichen Teil der 68er. Indem das Verständnis der Moderne „über Marx“ erworben wurde, stand die Moderne von vornherein unter einem negativen Vorzeichen. Die historische Legitimität der bürgerlichen Ordnung war abgelaufen. Alle positiven Erkenntnisse waren damit gleich wieder durchgestrichen. Dies Geschenk einer modernen Denkweise war ein vergiftetes Geschenk. Denn es diente letztlich nur dazu, die Gesellschaft zu spalten und im Namen des Proletariats einen „Endkampf“ gegen das Bürgertum zu führen. Damit stand auch unser Interesse an der Lage in den Osnabrücker Industriebetrieben von vornherein unter dem Vorzeichen eines finalen Klassenkampfs. Der Marxismus verstärkte also die negativ-gleichgültige Grundhaltung, mit der wir damals der Weiterentwicklung der Bundesrepublik (und unserer Stadt) begegneten.

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Der Treibstoff der „68er“ – Gewiss kann man einwenden, dass im Zuge von „1968“ auch einige richtige Anliegen geltend gemacht wurden. Aber dazu hätte man nicht die Suche nach dem großen Anderen gebraucht, die diese Bewegung als ihr Distinktionsmerkmal ansah, und die ihr Treibstoff war.

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Die Traditionslinie der „deutschen Ideen“ – Um die unselige Rolle zu verstehen, die die geistige Fracht der 68er Bewegung in ihrer Maßlosigkeit und Selbstübersteigerung gespielt hat, scheint mir ein Rückgriff auf eine geschichtliche Erfahrung hilfreich zu sein. Die Berufung auf eine besondere Tiefe oder Höhe der Ideen hat in der deutschen Geschichte schon mehrmals eine peinliche und auch gefährliche Rolle gespielt. Peinlich, wo sie eine Flucht vor den Mühen der Realität waren; gefährlich, weil sie zu blinder Gefolgschaft führen konnten. Es geht um die „Verführbarkeit des bürgerlichen Geistes“, wie Helmuth Plessner es ausdrückte. Damit ist nicht das realhistorische Bürgertum, das sich ökonomisch und politisch konstituiert, gemeint, sondern ein Bürgertum, das in einem Sonderreich der Ideen eine fiktive Ersatzgröße errichtet und von dort aus auf die Niederungen von Staat und Wirtschaft herabsieht. Dazu gehört auch der Versuch, eine „tiefe“ Kultur gegen eine „oberflächliche“ Zivilisation ins Feld zu führen.

Es geht dabei nicht nur um eine bestimmte Ideologie, sondern um eine ganze Sphäre, eine Problemzone, einen Ideen-Komplex, der sich gegen die Moderne und ihre weltbezogen-realistische Konstituierung bildet. Er kann „rechtslastig“ sein – so haben Helmuth Plessner und andere Autoren ihre Auseinandersetzung mit der „Verführbarkeit des Geistes“ aus der Erfahrung des NS-Regimes heraus erarbeitet (und sie dann geschichtlich erweitert). Durch das Auftauchen der 68er Bewegung sahen sich etliche Autoren, die „Deutschlands Weg nach Westen“ (Heinrich August Winkler) vor allem im Kampf gegen Gefahren „von rechts“ verteidigt hatten, auf einmal einer Bedrohung „von links“ gegenüber – Ernst Fraenkel ist ein Beispiel dafür. Die Gefährlichkeit der „deutschen Ideen“ geht also sowohl von rechts als auch von links aus. Aber man sollte auch nicht davon ausgehen, dass es sich ausschließlich um ein deutsches Sonderproblem handelt. Vielleicht ist es klüger, von einer generellen und ständigen Bedrohung der Moderne durch „Ideen-Komplexe“ und entsprechende gesellschaftliche Machtkomplexe auszugehen.

Diese wäre meines Erachtens auch die Richtung, in der ein Nachdenken über die 68er Bewegung heute interessant und produktiv ist.

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Der Vergleich 1968 – 1933 greift zu kurz – Der Historiker Götz Aly hat in seinem Buch „Unser Kampf 1968 – ein irritierter Blick zurück“ (2008) einen richtigen Impuls gehabt, als er Verwandtschaften der 68er-Bewegung, zu der er gehörte, mit der NS-Bewegung herausarbeitete. Allerdings ist die Konzentration des Buches auf den Vergleich 1968er – 1933er wohl zu plakativ. Wichtiger wäre es, die Geschichte der „Verführbarkeit des Geistes“ breiter zu fassen und auch die Eigenart der Moderne demgegenüber stärker positiv herauszuarbeiten. Sie ist ja durch die Beschwörung totalitärer Gefahren noch nicht positiv überzeugend dargelegt.

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Tiefe Kultur gegen oberflächliche Zivilisation? – Es war Thomas Mann, der in seinen – später revidierten – „Gedanken im Kriege“ vom November 1914 gegen die westliche Zivilisation die deutsche Kultur ins Feld führen wollte. Dazu baute er eine Schlachtordnung nach dem Prinzip „tiefe Kultur gegen leidenschaftslose Zivilisation“ auf. Kultur sei „Geschlossenheit, Stil, Form, Haltung, Geschmack“, daher auch „abenteuerlich, skurril, wild, blutig und furchtbar“; Zivilisation hingegen sei „Vernunft, Aufklärung, Sänftigung, Sittigung, Skeptisierung, Auflösung“. Die Deutschen seien „bei weitem nicht so verliebt in das Wort `Zivilisation´ wie die westlichen Nachbarnationen“, und er fährt fort: „Der deutschen Seele eignet etwas Tiefstes und Irrationales, was sie dem Gefühl und Urteil anderer, flacherer Völker störend, beunruhigend, fremd, ja widerwärtig und wild erscheinen lässt.“

Diese Gegenüberstellung findet sich auch noch in Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918). Dort heißt es: „Der Unterschied von Geist und Politik enthält den von Kultur und Zivilisation, von Seele und Gesellschaft, von Freiheit und Stimmrecht, von Kunst und Literatur; und Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur.“ Und an anderer Stelle wird die Innerlichkeit als eigentliche Ressource des vermeintlichen „deutschen Wesens“ beschworen: „In Deutschlands Seele werden die geistigen Gegensätze Europas ausgetragen.“

Fatal ist hier der Kurzschluss zwischen der intimer Innerlichkeit und globaler Weltbezogenheit. Ganz ohne Vermittlung, ohne Zwischeninstitutionen, ohne den Pluralismus von Märkten und Staaten wird alles bewältigt. Das ist auch sehr protestantisch gedacht: Der Einzelne ist unmittelbar zu Gott. Eine Glaubensaussage wird zum Ordnung von Welt und Leben.

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Die Bedeutung der englischen Traditionslinie der Moderne – Thomas Manns Äußerungen in der Zeit des ersten Weltkriegs lassen sich einer Strömung zuordnen, die sich damals gern „Konservative Revolution“ nannte. Sie beschwor die alten konservativen Ideale, die oft aus der Romantik und deren Abwehr gegen die französische Revolution herrührten. Diese deutsch-französische Gegenüberstellung ist eine schlechte Konstellation: Weil sie das englische Element, dass im 19. Jahrhundert ebenso gemäßigt wie produktiv war, ausblendet. Dabei gab es im 19. Jahrhundert viele Deutsche (so zum Beispiel Hegel) als auch viele Franzosen (so zum Beispiel Tocqueville), die sich von England anregen ließen. Auch Hermann Baumgartens Streitschrift „Der deutsche Liberalismus – Eine Selbstkritik“ (1866), die den preußisch-kleindeutschen Weg zur Einheit verteidigte, war englisch inspiriert.

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Die Verantwortung der 68er – So viel Ernst sollte man der 68er Bewegung entgegenbringen, dass man sie nicht bloß als eine spätpubertäre Jugendbewegung versteht und heute als eine Art Kultur-Event verkauft. Man sollte sie für ihre geistige Fracht zur Verantwortung ziehen und die Akteure sollten sich über diese Fracht, die sie selber mitgeführt haben und vielleicht weiter mitführen Rechenschaft ablegen. Zugleich ist wichtig, die 68er-Bewegung an dem schon erreichten Stand und den anstehenden Aufgaben der Bundesrepublik in den 1960er Jahren zu messen. Hier tritt das Zerstörungswerk der 68er hervor: Sie haben das gerade erst neu Erreichte wieder aufgekündigt und die Fortsetzung des allmählichen Aufbaus einer deutschen modernen Normalität abgebrochen.

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Der Geist der Moderne (I) – Noch wichtiger aber ist, im heutigen Nachdenken über 1968 an die Aufgaben zu erinnern, die damals liegen geblieben sind: die geistige Grundlegung des modernen Deutschland ist unvollendet. „Geistige Grundlegung“ bedeutet dabei nicht, sich auf die Suche nach einem neuen geistigen Kern, einem Ideenkomplex, einem Wertekanon zu begeben, der dann als Garant über dem realen Tun schwebt. Wenn man die Verführbarkeit des Geistes kennt, wird man überhaupt skeptisch gegenüber jedem Vorschlag, Krisen dadurch überwinden, dass man „eine andere Mentalität“ entwickelt. Man wird skeptisch gegenüber der Vorstellung, zuerst müssen sich etwas „im Kopf“ ändern, bevor man die Realität ändern könnte.

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Der Geist der Moderne (II) – Es geht um eine bessere rationale Begründung der modernen Staatlichkeit und Ökonomie. Hier klafft auch heute in Deutschland eine riesige Lücke. Man muss sich nur das Gestammel anhören, das aus den Reihen der regierenden Großen Koalition – und insbesondere aus dem Mund der Kanzlerin – zu hören ist, wenn etwa das Gewaltmonopol des Staates durchgesetzt werden muss. Wenn auf deutschen Straßen neuerdings von Migranten Juden überfallen werden, flüchten sich die Regierenden in Formeln wie „mehr Bildung“ (also erstmal werden die Angriffe nicht gewaltsam zurückgeschlagen) oder „die Fluchtursachen bekämpfen“ (also erstmal Afrika entwickeln). Wenn es um Umwelt- oder Sozialstandards geht, stellt die Profitabilität der Unternehmen keine kritische Grenze der Belastungen dar. Es zählt nur das schlichte allgemeine „gut leben“. Mit anderen Worten: Die beiden großen Volksparteien tun sind geistig nicht in der Lage, den hoheitlichen Staat und die kapitalgeführte Marktwirtschaft zu legitimieren.

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Der Geist der Moderne (III) – Exakt an diesen beiden Fronten gab es in der Geschichte der Bundesrepublik schon in den 50er erhebliche Fortschritte: die Wehrhaftigkeit des Staates wurde Verfassungsgrundsatz und die Politik Adenauers trug eine gemäßigte, aber im Kern unbeirrbare Handschrift der deutschen Selbstbehauptung. Ebenso wurde unter der Ägide Ludwig Erhardts die Marktwirtschaft gegen alle planwirtschaftlichen Versuchungen durchgesetzt und setzte sich auch im Godesberger Programm bei der SPD durch. Aber es gab auch gewisse Halbheiten. Das Verfassungsverständnis enthielt ein starkes Misstrauen gegen den Staat und betonte den Schutz der „Zivilgesellschaft“ vor dem Staat bisweilen stärker als den Schutzauftrag des Staates gegenüber der Gesellschaft. Und die Begründung der Marktwirtschaft betonte stark den sozialen Ausgleich („soziale Marktwirtschaft“), und vernachlässigte die Aufgabe, die Rolle und Legitimität des Kapitals in einer modernen, industriellen Marktwirtschaft zu erklären. Exakt an diesen Stellen liegen heute die Einfallstore für Fehlentwicklungen in Deutschland.

Weil es hier keine geistige Schärfe gibt, herrscht ein flaches Management von Problemen, ein opportunistisches Durchlavieren, ein Spielen auf Zeit – und eine Debatte, die eher um  die schnelle Verteilung von Sympathie und Antipathie (um „hell“ und „dunkel“) bemüht ist, als um die Aufklärung der realen Wirkungszusammenhängen. Die herrschenden Eliten haben sich in einer Ruhe-Zone des Wohlmeinens eingerichtet.

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Zum Schluss noch einmal nach Osnabrück – Die Stadt Osnabrück führt seit einiger Zeit das Label „Friedensstadt“. Das soll auf die Tatsache anspielen, dass in Osnabrück (und dem benachbarten Münster) der Westfälische Frieden geschlossen wurde, der den 30jährigen Krieg beendete. Doch merkwürdig: Der konkrete Gehalt, der sich mit diesem Friedensschluss verbindet und der seine epochale Bedeutung ausmacht, spielt bei diesem Markenzeichen nicht die geringste Rolle: Die sogenannte „westfälische Ordnung“ vertraute den Frieden einem Nebeneinander souveräner Einzelstaaten an – einem Nebeneinander, das heute im Zeichen der „Global Gouvernance“ für überholt erklärt wird. Eigentlich stände es Osnabrück gut an, wenn es sich auch im konkreten Sinn zum westfälischen Frieden bekennen würde und die guten Gründe, die auch heute noch für das Ordnungsprinzip sprechen, das diesem Frieden zugrunde liegt.

 

Lektüren

Götz Aly (2008), Unser Kampf: 1968 – Ein irritierter Blick zurück. Frankfurt/M. 2008

Hermann Baumgarten (1866/1974), Der deutsche Liberalismus – eine Selbstkritik. Frankfurt/M.-Berlin-Wien 1974

Ernst Fraenkel (1940/1974), Der Doppelstaat. Frankfurt/M-Köln 1974

Thomas Mann (1914), Gedanken im Kriege. (In: Die neue Rundschau, Bd. 25, 1914)

Thomas Mann (1918/1983), Betrachtungen eines Unpolitischen. Frankfurt 1983

Helmuth Plessner (1935/1959), Die verspätete Nation. Über die Verführbarkeit bürgerlichen Geistes. (In: H.Plessner, Gesammelte Schriften, Band VI). Frankfurt/M. 2003

Helmuth Plessner (1960), Analyse des deutschen Selbstbewusstseins (ebd. 2003)

Helmuth Plessner (1964), Ein Volk der Dichter und Denker? (ebd. 2003)

Helmuth Plessner (1967), Wie muss der deutsche Nation-Begriff aussehen (ebd. 2003)

Joachim Radkau (1989), Technik in Deutschland. Frankfurt/M. 1989)

Helmut Schelsky (1977), Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen. München 1977

Heinrich August Winkler (2000), Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 1933-1990. 2 Bände. München 2000