Niemand sollte glauben, die Italiener würden reumütig auf den Weg des europäischen Immer-Enger-Vereint zurückkehren. 

Europa motiviert nicht mehr: Italiens neues Selbstbewusstsein

27.Mai 2018

Das Vorhaben, in Italien eine Regierung aus den Parteien „Lega“ und „Fünf Sterne“ zu bilden, hat sogleich die Warner auf den Plan gerufen. Eine völlig irreale Plattform sei das, eine Gefährdung des Euro-Raums und folglich überhaupt eine „Gefahr für Europa“. Andere haben die Erwartung geäußert, dass eine solche Regierung alsbald ihren Zauber verlieren würde und dann alles wieder auf den normalen „guten Weg“ zurückkehren würde. Diese Reaktionen haben also nichts anderes zu bieten als ein Weiter-So. Sie haben nichts Eigenes zu bieten, das die Schieflage Italiens wieder ins Lot bringen könnte. Sie gehen also im Grunde davon aus, dass diese Schieflage unendlich dehnbar ist – mit immer weiteren Industrieverlusten, neuen Haushaltsdefiziten und höheren Schulden. Der Rest, so will es diese Sichtweise der Dinge, ist Psychologie. Es darf keinen Vertrauensschock geben. Die Dehnung der Schieflage muss deshalb ohne Ruck, ohne Plötzlichkeit, möglichst geräuschlos geschehen. „Vertrauen ist alles“ – das ist im Grunde auch die Botschaft, die überall in Europa nun schon seit Jahren verkündet wird. Auf dies Weiter-So läuft die offizielle Kritik an den „unseriösen Italienern“ hinaus. Seriöses hat sie nicht zu bieten.

Gewiss waren einige Versprechungen und Forderungen der geplanten Regierung (weniger Steuern, frühere Renteneintritte, Schuldenerlass) illusorisch. Aber die Mehrheit, die hinter dieser Regierungsbildung stand, enthält noch ein zweites Element: die Selbständigkeit. Man will nicht – wie es beim Tsipras-Griechenland der Fall war – noch tiefer in die EU-Töpfe greifen, sondern man will es stärker auf eigene Faust versuchen. Man will die Kontrolle über den Außenhandel, die Währung und die Zuwanderung wiedergewinnen. Und weil dies ein echtes Motiv der Wähler ist, kann man davon ausgehen, dass es zu einem Konflikt zwischen den beiden Elementen – materielle Zugewinne und Selbständigkeit – kommen wird. Das wird eine Stunde der Wahrheit sein: Wird der drohende Verlust von materiellen Vorteilen dazu führen, dass die Italiener ihre Selbstachtung aufgeben und reumütig in die Arme des EU-Systems zurückkehren? Oder wird umgekehrt die neue Eigenständigkeit, von der die Italiener sich jetzt ein bisschen genommen haben, dazu führen, dass sie damit auch Einschnitte hinnehmen und Durststrecken aushalten?

Warum das „Weiter So“ in Italien nicht mehr zieht

Auf jeden Fall sollte man die neuen Mehrheitsverhältnisse in Italien ernst nehmen und sie nicht nur als „Umsturz in die Bequemlichkeit“ ansehen (so die Überschrift eines Artikels von Klaus Georg Koch im FAZ-Feuilleton am 24.5.2018). Es gibt eine Grundstimmung, die das Weiter-So nicht mehr will, nicht mehr erträgt und ihr die Legitimation entzogen hat. Tatsächlich kann es auf den ersten Blick so erscheinen, als wäre diese Mehrheit eine besonders egoistische und rücksichtslose Mehrheit. Doch die Rechnung dieser neuen Mehrheit geht anders: Sie sieht ihr Land schon jetzt am Tropf von fremden Zuwendungen und fühlt sich damit enteignet. Ihr geht es nicht nur um den täglichen materiellen Unterhalt. Sie will nicht nur versorgt werden. Die Aussicht, auch in den nächsten Jahrzehnten von EZB-Gnaden und deutscher Prosperität ihr Leben zu fristen, macht sie nicht satt. Das lohnt nicht die wirtschaftlichen Anstrengungen des Erwerbslebens. Es lohnt auch nicht die Teilnahme am politischen Leben eines eigenen, demokratischen Staatswesens.

Hier liegen die verdeckten moralischen Kosten der europäischen Rettungspolitik: Sie legt die Quellen, aus denen die Bürger ihre Würde und Selbstachtung schöpfen, still. Sie ist nicht nur materiell aussichtslos und nur ein „Kaufen von Zeit“ (Wolfgang Streeck), sondern sie zerstört auch die Ressourcen der Eigenverantwortung – und damit die Würde der Freiheit. Deshalb ist nicht zu erwarten, dass Italien wieder zur Normalität des europäischen Immer-Enger-Vereint zurückkehren wird. In Italien sind nun Kräfte und Leidenschaften freigesetzt, die über das heutige EU-System hinausweisen.

Die Entwertung der tätigen Freiheit

Die EU-Skepsis der Italiener erscheint auf den ersten Blick – wenn man die zinsdämpfenden Wirkungen der EZB-Politik in einem hochverschuldeten Land betrachtet – als völlig widersinnig. Im Beitrag von Frank Schaeffler (Tichys Einblick Online 24.5.2018) sind die Zahlen der Schieflage genannt. Da ist eine zunehmende Verschuldung: 1989 waren es 500 Milliarden Euro, und der italienische Staat musste einen Zinssatz von 14 Prozent anbieten, um die Anleihen an den Finanzmärkten platzieren zu können. Inzwischen sind die Schulden auf 2.300 Milliarden Euro gewachsen, aber der Staat kann diese immens erhöhten Schulden zu einem Zinssatz von nur rund 2 Prozent finanzieren. Dieser günstige Zinssatz liegt nicht an der Stärke der Realwirtschaft. Die italienische Industrieproduktion hat sein 2007 um beinahe ein Viertel abgenommen. Die Automobilproduktion ist auf den Stand der frühen 1960er Jahre zurückgefallen. 1989 wurden in Italien noch fast 2 Millionen Fahrzeuge hergestellt, während es heute nicht einmal 800000 sind. Die Schuldenentwicklung ist krass und wird nur durch die EZB-Politik des billigen Geldes und durch Anleiheankäufe der Zentralbanken in ihren Folgen gedämpft. In solch einer Situation sollte man eigentlich eine politische Stimmungslage erwarten, die besonders vorsichtig mit Alleingängen ist.

Aber das ist nicht der Fall. Es muss also noch etwas Anderes im Spiel sein. Ist es völlige Blindheit gegenüber den Realitäten? Mit solchen Urteilen über eine Nation, die immerhin die drittgrößte Volkswirtschaft der EU ist und die geschichtlich – auch in der Neuzeit – zu den größeren Nationen gehört, sollte man vorsichtig sein. Aber zu den Realitäten einer Nation gehört eben mehr als der platte utilitaristische Materialismus. Es gibt eine Würde jeder freiheitlichen Nation, die es nicht endlos erträgt, ständig an realem Gewicht zu verlieren und immer mehr von der Gunst einer höheren, fremden Hand abhängig zu sein. Es gibt also einen moralisch-politischen Faktor, von dem es abhängt, ob man wirklich von Freiheit sprechen kann und die Bürger auch den Entscheidungsspielraum haben, um sie zu praktizieren. Ich bin mit den italienischen Verhältnissen nicht sehr eng vertraut, aber das, was ich in den letzten Wochen in den Medien an Stimmen gehört habe – und zwar quer durch ganz Italien – zeigt deutlich, dass die Hängepartie einer Daseinsweise auf Pump nicht mehr ertragen wird. Dass sie die Kräfte der Selbstachtung geweckt hat, die eine Nation ausmachen. Es geht hier nicht um eine physische Verelendung, um Hunger und Obdachlosigkeit, sondern um eine „moralische“ Verelendung. Dies Europa der permanenten Rettungspolitik macht nicht mehr satt. Weil es einem Land wie Italien keine aktive Rolle bieten kann, auf die die Bürger ihre Würde gründen können.

Der italienische Zorn

So ist ein italienischer Zorn entstanden, dem das Element der Hilfsappelle in Richtung EU weitgehend fehlt. Im Vergleich zur griechischen Krise ist hier der Ruf nach „europäischer Solidarität“ viel schwächer. Man sucht vielmehr nach Mitteln der Selbsthilfe. Vielleicht ist die Idee einer Art Zweitwährung für den Binnenmarkt („Mini-BOTs“) ja unausgegoren, aber sie schielt nicht auf die EU-Töpfe. Es gibt auch einen bemerkenswerten neuen Konsens für eine italienische Politik der Migrationsbegrenzung an der Südgrenze, die sich nicht mit dem „Durchwinken“ der Massenmigration nach Norden aus der Affäre ziehen will.

Aber das offizielle Europa – deutsche Politiker und Medien vorneweg – hat sich darauf verständigt, diesem patriotischen Zorn seine moralische Qualität abzusprechen. Man spricht ihm rundweg jede bürgerliche Qualität ab. Alle Anliegen, die eine selbstverantwortete Freiheit Italiens zum Ziel haben, werden als „antieuropäisch“ gar nicht erst zur politischen Erwägung zugelassen. Und dann, nachdem man dies große Durchstreichen besorgt hat, kann man die Leute als bequeme, geldgierige Egoisten abstempeln.

Umso wichtiger ist es, die Vernunft hervorzuheben, die dieser neuen Stimmungslage zu Grunde liegt. Es geht in Italien nicht darum, das ein blühendes, reiches Land seine Früchte egoistisch für sich behalten will. Vielmehr befindet sich das Land in einer fundamentalen Krise und lebt über seine Verhältnisse. Es steht also vor substantiellen und schmerzhaften Einschnitten. Es ist im Interesse einer neuen Regierung, dass es den Ernst der Lage Italiens betont. Und dass es die Schwere der Korrektur unterstreicht und nicht so tut, als sei alles ein Kinderspiel. Denn der Wert des nationalen Eigensinns tritt nicht dort hervor, wo die Aufgaben leicht sind, sondern dort, wo sie schwer sind. Wo es keine leichten „Aufbrüche“ zu etwas ganz Neuem gibt, sondern wo ein längerer, verlustreicher Anpassungsprozess bewältigt werden muss.

Existenz und Eigensinn

Wenn ein Land in einer existenziellen Krise steckt, ist das Modell „Einschnitte von eigener Hand“ besser als das Modell „Retten von höherer Hand“. In einem Essay über die Reformkrise in Frankreich (erschienen am 17.7.2014 in der Tageszeitung „Die Welt“) habe ich auf diese institutionelle Logik schon hingewiesen:

„Die Grundfrage lautet also, wie ein Land eine Durststrecke ohne vorhersagbares Ziel aushält, und hier gibt es ein gutes – zumindest ein bedenkenswertes – Argument zu Gunsten der Freiheit: Wenn man einen großen Verlust hinnehmen muss, ist es besser, ihn aus eigener Einsicht und in selbstständigen Schritten einzugehen. Eine Durststrecke kann dann als Werk der Selbstbehauptung bewältigt werden und so zu einer Quelle der Selbstachtung werden. Denn die Krise bleibt dann nicht eine Geschichte von fremder, höherer Hand, sondern wird zu „meiner“ oder „unserer“ Geschichte. Sie wird Eigentum einer Nation und gehört fortan zu ihren Beständen. Wenn es also wirklich hart auf hart geht, ist Souveränität eine moralische und realpolitische Ressource. Man darf sie allerdings nicht als pompöse Alleinherrschaft oder selbstgewisse Autarkie verstehen, sondern als nüchterne Zuordnungsregel, die ganz praktisch eindeutige Verantwortungen herstellt. Erst durch die Institution der Souveränität wird Verantwortungsethik politisch umsetzbar.“

Ein italienischer Weg aus der Krise wird von den Bürgern nicht gewählt, weil die Sanierungsaufgabe leicht wäre, sondern weil sie schwer ist. Und weil diese Anstrengung nur dann akzeptiert werden kann, wenn es sich um das eigene Werk der Bürger handelt – und ihnen damit zur Ehre gereicht. Gerade in solchen historischen Momenten macht der begrenzte, demokratisch-dichte Rahmen der Nation seinen Sinn – weil er sowohl die Bürde als auch die Würde der Verantwortung eindeutig zuordnet. Große Reiche und Staatenbünde (wie die EU) mit ihren langen Hebeln und Transfer-Wegen können diesen Grad der Verbindlichkeit nicht erreichen.

Kulturkrise oder institutionelle Krise?

Es geht hier also nicht darum, die italienische Krise einer besonderen „Kultur“ oder „Mentalität“ zuzuschreiben, und auch nicht darum, einem „Nord-Süd-Konflikt“ das Wort zu reden. Vielmehr geht es um eine gesamteuropäische institutionelle Fehlentwicklung: Das EU-System scheitert, wenn es um tiefere Einschnitte und härtere Sanierungsmaßnahmen geht, weil es die Nationen als Organe einer selbstverantworteten Freiheit entwertet. Die italienische Krise zeigt, welche Motivationslücke die heutige Europäische Union dadurch hat. Sie zeigt aber auch, dass es schon neue Kräfte gibt, die sich dem nicht mehr fügen.

Damit werden nun aber die praktischen Fragen zum eigentlichen Prüfstein. Es ist lebenswichtig für eine neue Regierung, dass sie wirklich die Elemente der wirtschaftlichen Selbstverantwortung und der Wiederherstellung der Grenzhoheit in den Vordergrund stellt – und nicht schnelle materielle Zugewinne verspricht oder sich in allgemeine Gesinnungs-Appelle flüchtet. Eine Mehrheit der Italiener erwartet, dass die Möglichkeiten, die das Land zur Stärkung seines (relativ großen) Binnenmarktes, zum Schutz seiner industriellen Fähigkeiten und zur Migrationsbegrenzung hat, wirklich erprobt werden.

 

(erschienen in meiner Kolumne bei „Tichys Einblick“ am 29.5.2018)