Die Konsumkritik irrt: Ohne die tägliche Gütervielfalt wäre das Glück des Lebens gar nicht greifbar. Der Konsum lehrt uns, die Welt zu lieben.
(Aus dem Archiv)

Der Zauber der Dinge

19.5.2011

Zwei gegensätzliche Botschaften sind hierzulande in diesen Tagen zu hören. Auf der einen Seite wird mit Zufriedenheit gemeldet, dass die Wirtschaft boomt und dabei die Binnennachfrage eine bedeutende Rolle spielt. Wirtschaft und Politik freuen sich über die Kauffreude der Deutschen. Aber zugleich ist von einer großen Wende die Rede, die im Land stattfinden soll. Eine neue „Kultur des Weniger“ predigt die grüne Synoden-Vorsitzende der Evangelischen Kirche und auch die Regierung betreibt Gesetzesvorhaben, die die Energie, den Verkehr, die Wohnungen und das Essen teurer machen werden. Eine recht doppelbödige Buchführung ist hier im Spiel. Zur Finanzierung der ökologischen und sozialen Förderprogramme verbucht man gerne das hohe Wirtschaftswachstum und im gleichen Atemzug kritisiert man dieses Wachstum und möchte von der Herkunft des Geldes nichts wissen, das man da gerade für die nächsten Jahrzehnte verplant.

Hier zeigt sich, dass unsere Konsumgesellschaft mit sich selber nicht im Reinen ist. Der Zwiespalt ist sogar größer geworden. Die Konsumkritik hat in bürgerlichen Kreisen Anhänger gewonnen. Aber auch der Konsum hat neue Stärken entwickelt. Er hat ein Terrain erobert, mit dem er vor ein paar Jahrzehnten noch völlig unvereinbar schien: das öffentliche Leben. Lange Zeit galten Konsumgüter als etwas, das man im „Warenkorb“ nach Hause brachte und dort im engsten Kreis verzehrte. So hatte der Konsum zwischenzeitlich einen spießigen, egoistischen Beiklang bekommen. Er erschien als asoziale Sofa-Veranstaltung, die zur Verödung unsere Städte beitrug. Wie sehr hat sich seitdem das Straßenbild gewandelt und wie wichtig war dabei ein gewachsener Umkreis von Konsumgütern: Man isst und trinkt (auch den „Cafe to go“); man zeigt Mode und Körperschmuck; man telefoniert, treibt Sport, schreibt auf dem Laptop und trägt ganze Stadtrucksäcke mit sich herum; Plätze, Parks und Privatgärten sind wieder zu größeren Treffpunkten geworden. Sogar die kalten Bahnhofspassagen hat die neue Konsumgesellschaft wieder belebt.

Nun behaupten die Kritiker an der „westlichen Konsumkultur“ genau das Gegenteil. Sie zeichnen das Bild von einem zerstörerischen System, das die natürliche Ressourcen aufzehrt und am Ende die Menschen doch mit leeren Händen dastehen lässt. Stimmt das? Die Konsumkritik befasst sich eigentlich gar nicht mit dem, was beim Konsumieren geschieht. Das Wort „Verbrauch“ führt hier in die Irre, denn es suggeriert, dass es nur um ein Vernichten der Dinge geht. Da hat das französische „consommer“ schon einen anderen, fast feierlichen Klang: Man hält sich bei den Dingen auf und präsentiert mit ihnen. Im 18. Jahrhundert war es eine schmale Oberschicht, die so ihre Zivilisiertheit zelebrierte. Mit der Entwicklung der Marktwirtschaft wurde dies Privileg aufgehoben, der industrielle Kapitalismus demokratisierte den Konsum. Die Bekleidung war dabei sein Pionierfeld. Um 1800 gab eine Arbeiterfamilie 94% ihrer Einkünfte für Nahrung und Wohnung aus (44% allein für Brot), für den Posten „Kleidung und Sonstiges“ blieben 6%. 100 Jahre später war das schon anders, wie der Boom der großen Kaufhäuser zeigte, die zunächst vor allem Textilien und Mode verkauften. Das 20. Jahrhundert brachte dann den Schritt zur allgemeinen Konsumgesellschaft mit einer Vielzahl von Branchen. Dabei war das typische Konsumgut zunächst ein Standardgut in großer Serie; dann setzte mit den 80er Jahren eine Differenzierung ein und die Güterwelt explodierte geradezu. Aus einem Einzelgut wie der Uhr oder dem Kaffee wurden ganze Uhren- oder Kaffeewelten – man muss nur auf die unzähligen Fachzeitschriften in den Bahnhofsbuchhandlungen schauen. Und überall gibt es Menschen, die sich in einer Spezialität bis ins kleinste auskennen. Noch mehr Menschen haben „ihre Dinge“, die sie immer wieder bewusst wählen. An ihnen haben sie ihren Geschmack gebildet, mit ihnen wurde das Leben greifbar. Der Konsum eröffnet den Menschen Türen zur Welt. Gewiss ist jedes einzelne Konsumstück vergänglich, aber das Konsumieren hinterlässt einen kulturellen Gewinn. Es setzt jene zusätzlichen Farben und Formen frei, die auf der Erde zunächst nur verschlossen vorkommen. Die Kunstwelt des Konsums ist daher reicher als die naturnahe „grüne“ Umwelt. Sie ist auch menschlicher. Der Genuss der Konsumgüter lehrt uns, die verdeckten Gaben der Erde zu entdecken und zu entwickeln. Die Güter sind zwar ungleich verteilt, aber sie sind doch leichter zugänglich als die sehr exklusiven „postmateriellen Werte“.

Es ist wahr, der Konsum hat etwas Frivoles. Fast immer kann ein biederer Kritiker hier „Überflüssiges“ entdecken, nicht nur beim Cabrio oder beim zehnten Paar Schuhe, sondern auch beim Glas Bier im großen Gartenlokal, das für den Berliner Arbeiter von 1900 der Inbegriff von Luxus war. Richtig nachhaltig ist der Konsum nie und – schlimmer noch – er bedeutet ein Stück Entfremdung des Menschen. Die Kritik spricht gerne vom „blinden“ Konsum, bei dem der „Fetisch“ Ware die Macht übernehme. Das ist maßlos übertrieben. Denn das Frivole des Konsums ist nur eine kleine Entfremdung des Menschen, die mit seiner Freiheit gut verträglich ist. Außerdem: Wer den Geschmack der Dinge zu schätzen weiß, kann auch die Industrie schätzen, die zur Herstellung der Dinge notwendig ist.  So führt der Konsum zum Wert der Arbeit. Eine Welt ohne Konsum wäre eine Welt, in der auch die Arbeit gering geschätzt würde. Die „Kultur des Weniger“, die heute von den Konsumkritikern vorgeschlagen wird, würde einen Menschen erzeugen, der mehr um sich selbst kreisen müsste. Die große Geste des Konsumverzichts ist daher nicht so heroisch, wie sie vielfach auftritt. Die edle Armut kann eine recht banale Bequemlichkeit verbergen – und ein Ego, das ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass es immer grundversorgt und in netter Wohnlage untergebracht ist. Gewiss kann es dazu kommen, dass ein Land über seine Verhältnisse gelebt hat und sich einschränken muss. Aber nie darf es das mit der Begründung tun, der Konsum sei sowieso überflüssig und kulturell minderwertig. Denn dann würde dies Land ein wichtiges Motiv für seinen Fleiß, seine Neugier und seinen Unternehmensgeist zerstören. Es würde seine vita activa aufgeben.

Nein, die Deutschen sollten sich nicht gleich wieder für ihre neue Kauffreude schämen. Kein Land muss sich für die immense Güterwelt der modernen Zivilisation schämen. Ohne sie wäre unser Planet nicht reicher, sondern ärmer. Jeder Lebensweg hat sein Maggi oder Miracoli, jede Demokratie hat ihre Renaults oder Volkswagen, an denen ein neues Stück Freiheit hing. Auch in Tunis, Kairo oder Damaskus haben die Demonstranten jetzt ihre großen und kleinen Güter, mit denen sie die Freiheit träumen.

 

(Manuskript vom 19.5.2011, erschienen als Essay in der Tageszeitung DIE WELT vom 21.5.2011)