Der Brexit ist vertagt, ohne dass es neue Positionen für eine Einigung gibt. Dafür ist nicht das britische Austrittsbegehren verantwortlich, sondern die Bedingungen, die Brüssel für einen Austrittsvertrag stellt.

Der erpresserische Hochmut der EU

3. Mai 2019

In Sachen Brexit strotzt Brüssel seit einiger Zeit vor Selbstbewusstsein. Es ist ihr gelungen, die britische Regierung zu veranlassen, um eine Verschiebung des britischen EU-Austritts zu bitten. Und das nicht etwa, um den Vertretern der Europäischen Union Zeit zu geben, ihre Position zu überdenken und bestimmte Bedingungen, sie für einen Austrittsvertrag gestellt hat, zurückzuziehen. Vielmehr hat die EU-Seite die Dinge so hingebogen, dass alle Überlegungen über veränderte Positionen nur bei den Briten liegen. Die EU-Bedingungen sind als unabänderlich etabliert. Kurz gesagt: Brüssel hat in Sachen Brexit ein Diktat etabliert und dünkt sich am längeren Hebel. Es hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass die Briten mürbe gemacht werden können und schließlich den Brexit überhaupt zurückziehen.

Ein Erpressungsversuch

Die Verschiebung des Brexits schafft also keine neue Verhandlungssituation, sondern nur eine Verlängerung der bisherigen Einseitigkeit, die man erpresserisch nennen kann. Von Anfang an hat die Brüsseler Verhandlungsführung – mit einem französischen Chefunterhändler – der britischen Regierung Bedingungen für einen geregelten Austritt gestellt, die praktisch auf seine Annullierung hinauslaufen. Oder, als Alternative, auf eine Selbstaufgabe der Einheit des United Kingdom (Stichwort „Backstop“ für Nordirland). Zugleich hat sich die EU-Kommission geweigert, den für eine intensive sicherheitspolitische Zusammenarbeit notwendigen „Angemessenheitsbeschluss“ zu fassen und riskiert damit eine schwerwiegende Lücke bei der Terrorbekämpfung (siehe der FAZ-Artikel „Wie wollen Sie es Ihren Bürgern erklären“ vom 5.3.2019). Man kann der Regierung May vorhalten, dass sie im Bemühen um einen „Deal“ nicht frühzeitig der Gegenseite rote Linie signalisiert hat, sondern einen völlig einseitigen „Vertragsentwurf“ vom Brüsseler Verhandlungstisch ins britische Unterhaus mitgenommen hat. Aber es ist die EU, die alles getan hat, um Großbritannien in die Enge zu treiben und es als politischen und wirtschaftlichen Krankheitsfall vorzuführen. So handelt ein Zwangskartell gegen abtrünnige Mitglieder. Damit wird deutlich, wie weit sich das heutige „Immer enger vereint“-Europa von dem Geist des Pluralismus entfernt hat, der immer dort zugegen war, wo in modernen Zeiten ein fruchtbares Zusammenwirken gelang. Mit ihrem Vorgehen hat die Europäische Union eine historische Schuld auf sich geladen. Wenn das kollektive Großbritannien-Bashing, das im Augenblick die Öffentlichkeit zudröhnt, vorbei ist und Europa etwas Distanz zu dieser erbärmlichen Episode seiner Geschichte gewonnen hat, wird man erkennen, wie sehr die EU ihre Möglichkeiten in der heutigen Welt überschätzt und verkennt.

Das Freihandels-Anliegen Großbritanniens

Die britische Regierung hat sich verpflichtet, das Brexit-Referendum umzusetzen und dazu insbesondere den Austritt des Vereinigten Königreichs aus dem EU-Binnenmarkt zu vollziehen. Sie vollziehen diesen Schritt nicht, weil sie weniger Warenaustausch wollen, sondern wegen der Zusatzbedingungen, die mit der Zugehörigkeit zum Binnenmarkt (auch im Fall einer Zollunion) verbunden sind. Diese Zusatzbedingungen erschweren unnötig den Außenhandel. So lässt die EU bei Nicht-Mitgliedern wie der Schweiz oder Norwegen den freien Warenverkehr nur zu, wenn gleichzeitig ein freier Personenverkehr, Kapitalverkehr und Dienstleistungsverkehr akzeptiert wird. Dies Junktim wurde sofort nach dem Brexit-Votum noch vor dem Beginn von Verhandlungen verkündet, unter anderem von der deutschen Bundeskanzlerin. Zugleich wird der Zugang zum EU-Binnenmarkt stark durch sogenannte nicht-tarifäre Handelsbeschränkungen (technische Standards, Umwelt- und Sozialnormen) erschwert. Hier nimmt die EU auch auf die Regionalpolitik und Industriepolitik Einfluss, indem sie bestimmte Entwicklungspolitiken als unzulässige, andere diskriminierende Subventionen nicht zulässt. Das ist etwas, was auch die Brexit-Anhänger der Labour Party umtreibt, die sich mit der Deindustrialisierung ganzer Regionen nicht abgefunden haben. Das Interesse der britischen Seite war es also, den Marktzugang zum EU-Markt möglichst zu erhalten, aber über Migration, Kapitalverkehr, Regionalpolitik oder Umweltpolitik selbst zu entscheiden – und auch eigene Handelsabkommen mit Drittländern frei zu gestalten. Das ist vernünftiges Interesse. Auch ein Interesse, das andere EU-Mitgliedsländer zu einer inneren Lockerung des EU-Systems motivieren könnte.

Handels-Pluralismus oder Weltmacht-Traum?

In einem Artikel, der die Überschrift „Der Traum vom `Globalen Britannien´“ trägt, schreibt der FAZ-Wirtschaftsjournalist Marcus Theurer zum Konflikt zwischen der EU und Großbritannien zunächst, dass die Handelspolitik eine „komplexe und trockene Materie“ sei, für die sich „normalerweise nur die Fachleute interessieren“. Aber das, was er von einer Grundsatzrede Theresa Mays im Januar 2017 zitiert, ist gar nicht so komplex. „Ich will uns nicht weiter an die gemeinsamen Außenzölle (binden)“, hatte sie erklärt. Für ein solches Loslösungs-Anliegen gibt es eigentlich eine recht einleuchtende Begründung: Die Interessen-Abstimmung zwischen den EU-Mitgliedsländern und ihren sehr unterschiedlichen Güterinteressen und regionalen Beziehungen ist umständlich und blockadeanfällig. Sie führt zu einem kleinsten gemeinsamen Nenner, der niemand wirklich nütze. Eine Vielfalt von Außenhandelsabkommen ist demgegenüber sachdienlicher. Das ist ein Argument, das sich auch andere EU-Mitglieder zu eigen machen könnten. Spanien hat starke Verbindungen in Lateinamerika und auch mit Marokko – es ist also bereit, den dortigen Handelspartner weiter entgegenzukommen als es EU-Länder im Norden, Osten oder in der Mitte sind. Umgekehrt gilt das gleiche für die Handelsverbindungen von mittel- und osteuropäischen Ländern (darunter auch Deutschland und Österreich) mit Russland und seiner regionalen Einflusszone. Es gibt aber auch den Fall, das hegemoniale Handelsübergriffe abgewehrt werden müssen und es Länder gibt, die Abwehr- und Schutzmaßnahmen blockieren, weil sie (noch) vorteilhafte Geschäfte mit dem Hegemon machen. Das ist heute aktuell gegenüber China der Fall, und Deutschland gehört hier zu den Ländern, die den Aufbau einer Abwehrfront verzögern. Alle diese Unterschiede in Richtung und Gewichtung machen deutlich, dass eine Einheits-Außenhandelspolitik für Europa ein zu starres Korsett ist.

Hängt alles von der „Größe des eigenen Marktes“ ab?

Was aber schreibt der FAZ-Wirtschaftsjournalist? Er sieht beim Brexit eine alte britische Weltmacht-Hoffnung am Werk, die im Alleingang mächtiger sein will als die EU. Das, so Theurer, sei jedoch eine Illusion. Es führt dabei ein Argument an, das rechtzweischneidig ist, weil es gegen die (angeblichen) Weltmacht-Hoffnungen Großbritannien spricht, aber nicht gegen solche Hoffnungen der EU. Es ist das Größen-Argument: Demnach kann das kleine Großbritannien nicht so gute Abkommen erzielen wie die große EU-Gemeinschaft. Er zitiert Thomas Sampson von der London School of Economics (LSE): „Traditionell hängt die Verhandlungsmacht in solchen Gesprächen von der Größe des eigenen Marktes ab.“ Solche Größenargumente bilden ja auch die Grundlage, auf der sich die EU am längeren Verhandlungshebel gegenüber dem UK dünkt.

Das Größenargument ist nun freilich ein allzu simples Argument, das im Außenhandel insbesondere die Logik der komparativen Vorteile, die schon im 19. Jahrhundert der britische Ökonom Ricardo nachwies, völlig ignoriert. Nach dieser Logik muss ein Land entscheiden, welche Güter es mit seinen Kapazitäten am effizientesten selber herstellt und welche Güter es von außen hinzukauft – der Außenhandelt funktioniert also nach der Make-or-Buy-Alternative. Als Lieferanten für das Hinzukaufen können ganz unterschiedliche Länder in Frage kommen: wohlhabende oder arme, starke oder schwache, große oder kleine. Doch der LSE-Ökonom sieht den Außenhandel nur als ein simples Machtspiel („Verhandlungsmacht“), also im Licht einer kruden Polit-Theorie, und gar nicht als ökonomische Frage des effizienten Ressourceneinsatzes. Deshalb geht er, jedenfalls soweit ihn Theurer zitiert, auch überhaupt nicht auf das Schlüsselargument der Brexiter ein: Dass in der großen Einheit EU die spezifischen Ressourcen der einzelnen Länder gar nicht genügend Berücksichtigung finden und der Einigungszwang auf eine gemeinsame Position von 28 Ländern die Außenhandelsmöglichkeiten insgesamt verengt. Dieser Pluralismus hat also eine eigene rationale Grundlage und muss sich der Macht der Größe, die typischerweise Kartelle pochen, nicht beugen.

Nicht Großbritannien, sondern die EU träumt den Weltmacht-Traum

Zur Begründung des Brexits ist es also überhaupt nicht nötig, irgendeinen Weltmachttraum vom „globalen Britannien“ zu träumen, wie die Überschrift des FAZ-Artikels den Lesern weismachen will. Es geht um die Fähigkeit zur Anpassung an die spezifischen Fähigkeiten des eigenen Landes und der jeweilen Partnerländer. Wenn jemand irgendeinen „globalen Traum“ verfolgt und damit die eigene kartellförmige Blockbildung legitimiert, ist es die EU. Immerhin zitiert der FAZ-Artikel am Ende den Ökonomen Shanker Singham, der eine Befreiung Großbritanniens vom gesamten Regelwerk des europäischen Handelsblocks empfiehlt, und der bei Außenhandelsabkommen vorschlägt, auf die Anerkennung der Standards des jeweils anderen Seite zu setzen statt auf die Formulierung einheitlicher, gemeinsamer Standards. Für den mündigen Verbraucher reicht es, den jeweiligen Produktstandard auszuweisen („hergestellt nach xy-Standard“) und die Kaufentscheidung ihm zu überlassen. Doch solche Überlegungen gehen in dem Gesamttenor des Artikels völlig unter. Dort regiert die plumpe Unterstellung britischer Großmannssucht.

Ein Einheitsmaß für die Entwicklungspolitik im Innern der EU-Länder

Aus einem linken Blickwinkel, der in diesem Fall durchaus etwas Richtiges sieht, schreibt Chris Pickerton in „Le Monde Diplomatique“ (Februar 2019):

„Jedwede Regionalpolitik, die etwa die Wirtschaft in Süditalien, in Nordfrankreich oder in den ehemaligen Waliser Bergbauregionen wiederbeleben will, würde gegen die EU-Richtlinien über staatliche Beihilfen verstoßen. Diese dürfen nur bewilligt werden, wenn sie nicht den `freien und unverfälschten Wettbewerb´ einschränken…Nach den Unionsverträgen dürfen die Mitgliedsstaaten zwar zu bestimmten Zwecken investieren, etwa zur Entwicklung benachteiligter Regionen oder in den Umweltschutz. Das gilt jedoch nicht für die Wiederbelebung wirtschaftlich `stagnierender Regionen´. Obwohl solche Förderung der Sinn jeder Regionalpolitik ist, greift hier das Diskriminierungsverbot.“ (alle anderen Regionen in der EU würden dann „diskriminiert“, GH).

Auch hier wird deutlich, wie rigide und unflexibel eine EU-weite Einheitsregel ist. Der Sinn oder Unsinn von regionalen Investitionen kann gar nicht über einen so großen Kamm geschert werden, sondern ist nur im Einzelfall und im Maßstab der Mittel und der Solidarnormen des jeweiligen Nationalstaats zu entscheiden. Eventuell ist auch die Bildung einer Vertragsgemeinschaft von Nachbarregionen in ähnlicher Lage sinnvoll, zum Beispiel von Ländern in den Alpen oder von Anrainern eines Mittelmeerufers. Auf jeden Fall sollten solche Entwicklungsmaßnahmen zeitlich begrenzt und durch den Wechsel der politischen Mehrheiten korrigierbar sein. An diesen Anforderungen gemessen wird die ganze Schwerfälligkeit der EU deutlich, die die Freiheit politischer Entscheidungen durch die Gitterstäbe eines übergeordneten bürokratischen Richtlinien-Gefängnisses ersetzt.

Der Brexit hat Zukunft

Es wird im gegenwärtigen Europa-Wahlkampf vielfach behauptet, die Anhänger hätten „keine Zukunft“ anzubieten. Das wird dann gerne Bildern junger Leute bebildert – als wäre das Jung-Sein schon ein Argument für die Haltbarkeit von Zukunftshoffnungen. Betrachtet man diese Haltbarkeit kann man mit guten Gründen zu dem Schluss kommen, dass der Brexit mehr Zukunft bietet als der Einheitsverband EU. Der Brexit ist nicht nur für Großbritannien vernünftig, sondern er ist es auch als einer allgemeineren Hinsicht. Der Brexit fügt sich in eine pluralistische Neuordnung des Welthandels und der Weltwirtschaft – in eine Ordnungsidee, die den unterschiedlichen Gegebenheiten der Länder dieser Welt besser gerecht wird als die Ordnungsidee einiger weniger „Groß-Wirtschaftsräume“, die dann zu kartellartigen oder gar imperialen Machtstrukturen führen. Der Brexit hat Zukunft, weil er den Besonderheiten dieser Welt und damit überhaupt der realen Welt mehr Einfluss verschafft. Schon jetzt wird mancher Brite froh sein, dass er bald die kollektive CO2-Hysterie auf dem Kontinent nicht mehr mittragen muss.

Wie man in Brüssel einen möglichst schmerzvollen Brexit fabriziert

Gerade weil der Brexit gute Gründe auf seiner Seite hat, wird eine so einseitige und feindliche Kampagne gegen ihn geführt – obwohl es sich doch eigentlich um ein schlichtes Austrittsbegehren handelt. Aber in einer verdächtigen Einmütigkeit wird die Krise zur „britischen Krise“ erklärt. Dabei ist die EU-Seite auch ganz handfest bemüht, den Austritt für die Briten in der Praxis möglichst unerträglich zu machen. Am 26. Januar erschien in der FAZ ein Artikel unter der Überschrift „Nicht `unnötig´ auf Briten zugehen“. Darin wird von einem internen Papier des EU-Ministerrats berichtet, das den EU-Mitgliedstaaten vorgeben will, wie sie im Fall eines vertragslosen Ausscheidens Großbritanniens ihre Notfallplanungen gestalten sollen. Im Papier heißt es: „Notfallplanungen dürfen weder die Vorteile einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union spiegeln noch den Bedingungen der im Austrittsvertrag vorgesehenen Übergangsperiode entsprechen.“ Sie sollen zeitlich klar begrenzt sein, jederzeit widerrufen werden können und auch nicht die Form von Abkommen mit den Briten haben, sondern nur einseitig „gewährt“ werden. Hier herrscht eine Tonlage nach Gutsherrenart, bei der der unbotmäßige Knecht möglichst schmerzhaft und demütigend vom Hof gejagt wird. Dieser Tenor ist auch in einem weiteren Papier des Ministerrats zum Luftverkehr zu vernehmen, wo es ausdrücklich heißt, dass „unnötige Zugeständnisse“ an die Briten ausgeschlossen sind. Man wird sehen, ob die EU wirklich zu einer Grenzblockade gegen britische Güter und Bürger schreitet. Ein solcher Schritt, der fatal an die napoleonische Kontinentalsperre erinnert, könnte sich als Bumerang erweisen, denn er würde alsbald in den verschiedenen Ländern des Kontinents den Ehrgeiz wecken, die Sperre zu brechen.

Die wirklichen Härten nicht verschweigen

Es wäre allerdings falsch, die Kosten und Mühen, die der Austritt aus der Europäischen Union für Großbritannien – ganz unabhängig vom Verhalten der EU – bedeuten wird, zu verschweigen. Es wird nicht nur kurzfristige Versorgungsschwierigkeiten geben, sondern auch mittelfristige Umstellungsschwierigkeiten. Betriebe, Standorte, Belegschaften und Wertschöpfungsketten müssen erst neu aufgebaut werden – die Deindustrialisierung auf der Insel ist schon sehr fortgeschritten. Ja, den Briten stehen harte Monate und auch Jahre bevor. Da kommt es darauf an, ob diese Kosten und Mühen sinnlos sind, oder ob sie zu neuen Ufern führen. Wenn hinter einer Durstrecke wirklich eine tragfähige, neue Ordnung zu erwarten ist, kann eine Nation – die Briten haben das schon bewiesen – große Lasten tragen.

(erschienen bei „Tichys Einblick“ am 5.4.2019 und in der obigen, etwas veränderten Form bei „Die Achse des Guten“ am 7.5.2019)