Gedanken, Anmerkungen, Beobachtungen

Mein Monat – November/Dezember 2019

18. Dezember 2019

Diese Ausgabe von „Mein Monat“ hat drei sehr unterschiedliche Kapitel. Im ersten Kapitel versuche ich zu diesem Jahresende 2019 ein paar Entwicklungen auf ihren aktuellen Stand zu bringen, ohne dass das eine Jahresrückblick wäre. Das zweite Kapitel ist der neuen Bauernbewegung in Deutschland gewidmet. Das dritte, sehr kurze Kapitel enthält ein paar Gedanken zu Weihnachten. Alle drei Kapitel kann man mit dem Wort „Wahrheiten“ überschreiben. So tritt in der Entwicklung der politischen Dinge der Gegensatz zwischen Fiktion und Realität immer deutlicher hervor. Die Regierenden in Deutschland und der Europäischen Union bilden immer mehr ein Regime der Fiktionen, wenn man zum Beispiel an den „Green New Deal“ denkt, der mit der Gelddruckmaschine das Weltklima retten will. Sie stützen sich auch auf ein Bündnis sozialer Milieus, die existieren können, ohne sich auf die Knappheiten und Anstrengungen der Realwirtschaft einzulassen. Demgegenüber fällt einer Opposition, die diesen Namen verdienen will, die Aufgabe zu, zum Sprecher des wirklichen Lebens zu werden. Das ist durch die wuchtige Demonstration der Bauern, die mit ihren Traktoren in der deutschen Hauptstadt einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben, noch deutlicher geworden. So wird der „Realismus“ zum Kampfbegriff, den sich die oppositionellen Bewegungen gemeinsam auf die Fahne schreiben können. Aber es gibt nicht nur politische Wahrheiten oder wissenschaftliche Wahrheiten. Es gibt auch die weihnachtliche Wahrheit – die Magie, die in der kalten, dunklen Jahreszeit die Welt in ein anderes Licht taucht. Woher aber kommt diese „Weihe“ der Weihnacht? Sie kann nicht einfach von den Menschen fabriziert werden, und ist daher auch keine Fiktion. Sie muss von sich aus zu uns kommen und von uns dankbar empfangen werden.

I. „Die Wahrheit ist auf dem Platz“

Der Fußball-Fan kennt den schönen Satz „Die Wahrheit ist auf dem Platz“. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass der Kampf um den Ball wirklich geführt werden muss, und dass nur der siegt, der mehr Tore nicht nur „erhofft“, „angestrebt“ oder „auf den Weg gebracht“ hat, sondern sie wirklich geschossen hat. Der Fußball-Fan in unserer Zeit weiß aber auch, dass die Fußball-Welt inzwischen von einem ganzen Tross von Betreuern, Berater und Journalisten umgeben ist, die immer wieder den Satz sprechen „Spiele werden im Kopf gewonnen“. Das ist sozusagen die Gegenthese: Hier herrscht die Vorstellung, dass vor einer Handlung erst eine Haltung hergestellt werden muss, die dann auf dem Spielfeld bloß noch „umgesetzt“ werden muss, was aber nach dieser Vorstellung, nur ein nachgeordneter und weniger wichtiger Schritt ist. Der Satz „Die Wahrheit ist auf dem Platz“ vertritt hingegen die Auffassung, dass das technische Können und Wissen des Fußballs aus der Situation auf dem Platz (und ihrer Wiederholung) geboren wurde und bei jedem Spieler dort immer wieder neu gebildet werden muss. Natürlich gibt es auch eine Vorbereitung und Aufstellung der Spieler, aber sie bezieht sich auf den Platz und muss sich dort bewähren.

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Der Satz „Die Wahrheit ist auf dem Platz“ ist in unserer Zeit kein schlechter Leitfaden, um die politischen Lager zu unterscheiden, und um einen kritischen Maßstab für ihre Stärken und Schwächen zu haben. Es wird ja unendlich viel geredet, angekündigt, thematisiert, auf den Weg gebracht – aber es hält dann nicht, was es verspricht. Man verkündet weltbewegende Aufbrüche, Wenden, Rettungen und Transformationen von historischen Ausmaßen; man redet den Leuten ein, dass es sie eine bestimmte Haltung entwickeln müssen: Hoffen, Vertrauen, Mut haben. Aber man muss dann feststellen, dass diese Tugenden mit der größten Hilflosigkeit einhergehen können. Und schlimmer noch: Diejenigen, die diese Tugenden predigen, sind dann die ersten, die sich vom Platz schleichen und vorher noch abkassieren. Wer an die großen Aufbrüche wirklich glaubte, ist dann der Düpierte und muss teuer bezahlen – und das gilt auch für ganze Länder und Nationen.
Doch wem es gelingt, sich von dieser Welt der Fiktionen frei zu machen, wird entdecken, dass es „auf dem Platz“ recht lebendig zugeht, dass es dort mehr Leute gibt als gedacht, und dass er selber auch mehr Kraft hat als gedacht.

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Ich schreibe das am Freitag, dem 13. Dezember, am Morgen, wo Boris Johnson in Großbritannien einen riesigen Wahlsieg errungen hat und damit der Brexit wirklich durch ist. Die Losung der Tories war eine typische Auf-dem-Platz-Losung: „Get Brexit done“. Die Briten haben massiv für dies „done“ gestimmt. Eine starke Mehrheit hatte das endlose Gerede leid. Sie hatte durchschaut, dass man die knappe Mehrheit des Brexit-Referendums in einer endlosen Hängepartie zermürben wollte, um dann das Ergebnis zu revidieren. Das war wie eine Bestätigung der These, dass die EU-Mitgliedschaft zu einer Entmündigung führt. Und so ist die Mehrheit nun größer geworden und niemand kann mehr an dem Willen der Briten zweifeln, das EU-Kapitel zu schließen. Was hatte man nicht alles schon kurz nach Referendum geschrieben – vor allem auch in den deutschen Medien, die in besonderer Weise den Geist der Volkserziehung ausdünsten: Die Briten hätten das Resultat eigentlich gar nicht gewollt, hieß es da. Nie wieder würden sie so abstimmen. Was für eine Ohrfeige klatscht da in die Redaktionsstuben! Und was für eine Ohrfeige ist das auch für die EU! Sie hatte sich ja gerade in den letzten Wochen als die Kraft präsentiert, in der sich alle guten Tendenzen und Kräfte dieser Welt sammeln. Als die einzig gute Macht auf Erden, als die Weltmacht der Herzen! Doch jetzt kündigt mit donnernder Mehrheit eines der politisch erfahrensten Länder Europas der EU die Gefolgschaft. Ja, die Wahrheit ist auf dem Platz. Und diesmal ist sie vom Feinsten.

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Auf anderen Plätzen sind die Dinge noch nicht so weit gekommen. Oft ist es schon ein Fortschritt, wenn die Fiktionen zu bröckeln beginnen, die noch verhindern, dass die politischen Auseinandersetzungen überhaupt um etwas Reales geführt werden. In diesem Sinne könnte man viele Ereignisse aus dem November und Dezember verstehen: Da gibt es das Amtsenthebungs-Verfahren gegen den US-Präsidenten. Das Verfahren hat sichtlich an Schwung verloren, denn die bisherigen Anklagepunkte beziehen sich nicht direkt auf Handlungen, sondern auf subjektive Zwecke, die man Trump bei seinen Gesprächen mit der Regierung der Ukraine unterstellt. Wie man liest, haben von den Demokraten inszenierten Anhörungen die Amerikaner nicht beindrucken können. Nun merken viele, dass die Demokraten gar kein kohärentes und starkes Alternativprogramm für die USA haben.

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In Europa gibt es das auffällige Phänomen, dass es den dezidierten Pro-EU-Regierungen schwerfällt, für ihre Länder starke, glaubhafte und vor allem spezifische Programme zu entwickeln. Die EU schleift alle Besonderheiten und Kanten ab; sie versperrt alle eigenen Wege. Das kann man zum Beispiel in Italien oder Spanien beobachten. So verzehrt die EU allmählich ihren eigenen Unterbau.  

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Aber die „Klimarettung“. Sie ist ja über das Jahr 2019 zu dem großen, weltweiten Mobilisierungsprojekt geworden. Funktioniert hier nicht die Politik der Fiktionen ungebrochen? Nicht ganz, denn auch hier gibt es nun zum Jahresende ein gewisses Bröckeln. Denn man hat still und heimlich eine Verschiebung vorgenommen: Jetzt soll das Umkippen des Weltklimas nicht mehr in wenigen Jahren bevorstehen, sondern es ist auf einmal Zeit bis zum Jahr 2050. Die Begründung dafür ist nicht eine Revision in der Sache, sondern politische Psychologie. Joachim Müller-Jung, dem obersten Klima-Retter der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ hat in der Beilage „Natur und Wissenschaft“ vom 4.12.2019, also im Vorfeld der Madrider Klimakonferenz, einen Artikel mit der Überschrift „Das Jahr, das viel verspricht“ veröffentlicht. Dort heißt es:
„2050 ist nicht nur psychologisch idealer, es ist auch das perfekte klimapolitische Datum. Es lenkt den Blick weg von den Schlachtfeldern um die kurzfristigen Klimaziele. Vorwenigen Tagen hat das Umweltprogramm der Vereinten Nationen den `Emissions Gap Report´ zu den Emissionslücken der kommenden zehn Jahre veröffentlicht. Er lässt erahnen, warum die Frustrationsschwelle politisch erhöht werden soll.“
Damit ist gemeint, das eine signifikante Verringerung der CO2-Emissionen in wenigen Jahren illusionär ist, und daher befürchtet wird, dass die Menschen sagen, dass die Verringerung nicht zu schaffen ist. Oder – das wäre schlimmer für unsere Klima-Retter – dass sie vielleicht feststellen, dass das Klima ja gar nicht gekippt ist. Man verschiebt also die Deadline auf 2050, um die Spannung hochzuhalten und die Welt noch 20 Jahren lang zwischen Hysterie und Hybris hin und her zu treiben. Denn die Begründung für die Verschiebung des Weltuntergangs ist keine Korrektur in der Sache, sondern eine politik-taktische Korrektur. Man sieht hier, wie sehr die Klima-Politik eine Fiktion ist, eine politische „Science fiction“ sozusagen. Und man sieht, wie der erste Überrumpelungs-Effekt der Klima-Kampagne schon schwächer wird. Denn er beruhte ja auf einer ultimativen Dringlichkeit, auf der These von einer unmittelbaren „Notlage“. Jetzt wird dies Ultimatum still und heimlich zurückgeschraubt. So dringlich ist es also doch nicht…

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Von der deutschen Politik sind größere Geländegewinne der Realität gegen die Fiktion nicht zu vermelden. Da gab es die peinliche Luftnummer einer eigenen Syrienpolitik, die nicht mehr zu bieten hatte als eine Gesprächsinitiative. Wenn wir so weiter machen, und das noch mit erhobenem Zeigefinger, dann wird uns nicht nur das Gelächter der anderen Völker gewiss sein, sondern man wird anfangen, uns heftig auflaufen zu lassen. Bei der Auseinandersetzung mit der Massenmigration, bei der immer wieder der Eindruck erweckt wurde, alles sei „auf einem guten Weg“ und „2015 werde sich nicht wiederholen“, haben wir im Laufe des Jahres 2019 gesehen, dass kein Problem wirklich gelöst sind und wir in allen harten Handlungsaufgaben – wie zum Beispiel der Zurückweisung an der Grenze – so hilflos dastehen wie zuvor. Nichts ist gesetzesfest und realitätsfest geregelt. Alles ist auf die Fiktion des guten Willens gebaut. Und dann gibt es noch einen unheimlichen Wiedergänger: die Leistungen des Bildungssystems Bildungspolitik, die in keinem Verhältnis zum Mittelaufwand stehen. Auch hier regiert das Regime der Fiktionen: Trotz immer neuer Reformen bleiben die Probleme hartnäckig immer die gleichen. Das ist ein Indiz dafür, dass die Reformen gar nicht die wirklichen Probleme erfassen, sondern von ihnen ablenken oder sie sogar noch größer machen. In den letzten Jahren lauteten die Schlagworte „Inklusion“ und „Digitalisierung“. Und dann kamen im November 2019 die Ergebnisse der neuen Pisa-Tests: keine Verbesserung. Die Fiktion regiert. Aber man tut überrascht. Das ist erstaunlich, denn es kann doch nicht sein, dass Hunderttausende von Lehrern von dieser Realität, die sie doch täglich erleben, erst durch einen von außen kommenden „Test“ erfahren. So scheint unser Bildungssystem ein in besonderer Weise in Fiktionen verbarrikadiertes System zu sein.
Ein solches verbarrikadiertes System scheint auch die Parteienlandschaft zu sein. Der parteiinterne Diskurs scheint weitgehend in Fiktionen gefangen zu sein, die ständig wiederholt wird. Am diesem Jahresende 2019 haben wir zwei Parteitage (SPD und CDU) gesehen, die so verlaufen sind. Obwohl es für beide Volksparteien allen Anlass gegeben hätte, die eigenen Positionen an der Wahrheit, die „auf dem Platz“ ist, zu überprüfen. Hier wirkt die These vom „Hauptfeind Rechtspopulismus“, die von der Fiktion einer nationalsozialistischen Bedrohung in Deutschland ausgeht, wie eine Mauer gegen die die Realitäten in diesem Land. So hat sich der gesamte regierende Parteienblock CDU/CSU, SPD, FDP, Linke, Grüne von jener Wahrheit abgeschirmt, die nur „auf dem Platz“ zu haben ist.
Auf diesem Platz aber finden sich die Bauern, die um ihre Existenz kämpfen. Und diese Bewegung ist eine der erfreulichen Neuerungen am Ende dieses Jahres.      

 II. Die Wahrheit der Traktoren

Die große Bauern-Demonstration am 26 November in der deutschen Hauptstadt hat vor allem durch ihre physische Wucht und die prosaische Knappheit ihrer Sprache beeindruckt. Den Berlinern sind dabei vor allem die 8600 Traktoren im Gedächtnis geblieben: ihre Größe, ihre gewaltigen Räder, ihre bulligen Motoren, ihre dröhnenden Hupen und ihr Warnleuchten-Gewitter. „Die Trecker muteten martialisch an, fast wie eine erobernde Armee“ schrieb Kolja Zydatiss in einem Artikel auf der „Achse des Guten“ am 27.November. Ja, es war eine physische Gewalt, aber es war eine ruhige, sichere Gewalt, ohne inszenierte Betroffenheit und aggressives Geschrei, wie man es von anderen Demonstrationen kennt. Mit den Bauern trat eine Kraft auf, die eine bestehende und täglich durch Arbeit erneuerte Realität hinter sich wusste. Eine Realität, die in unseren heutigen Großstädten völlig verdrängt ist, und der sie fremd gegenüberstehen. Mit der Traktor-Demonstration, die die Innenstadt und die großen Zufahrtsachsen in Beschlag nahm, bekamen die Berliner wieder einen Eindruck von den Gewichten und Gewalten, die in den Arbeitsprozessen draußen im Lande bewegt werden müssen, damit ihre „Urbanität“  jeden Tag überhaupt auf die Beine kommt. Ja, der Ton war rauh, aber hier war nicht irgendeine demonstrativ-kreischende Wut zu hören, sondern man spürte den festen, unbeirrbaren Zorn von Menschen, die wissen, was sie leisten. Und die sich auch nicht von irgendwelchen rhetorischen Mätzchen beeindrucken lassen.

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Ein neues, großes Bauernlegen – Die Prioritäten, die die Regierung in der Agrarpolitik setzt, und die Umweltschutz-Normen, mit denen sie sie durchsetzt, entziehender konventionellen Landwirtschaft die Ertragsgrundlage – und damit die Arbeits- und Existenzgrundlage. Das sogenannte „Agrarpaket“ der Bundesregierung ist ein Vorgriff auf eine Schwarz-Rot-Grüne „Agrarwende“. Es ist ein Vorgriff auf ein neues Bauernlegen in Deutschland.
Dass dies keine Übertreibung ist, zeigt eine Meldung aus den Niederlanden. Dort haben sich die linksliberalen „Democraten 66“ (D66) mit der Begründung „Klimaschutz“ dafür ausgesprochen, die Viehhaltung zu begrenzen. Ein D66-Sprecher ging so weit, eine Halbierung des Viehbestandes in den Niederlanden zu fordern.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. November bezieht sich auf ein Gespräch mit Markwart von Pentz, Vorstandsmitglied im US-Landmaschinenkonzern John Deere, dem größten Anbieter von Traktoren in Deutschland. Was in Berlin passiere, habe er gesagt, sei eine Riesenschweinerei. Die Regierung wisse nicht mehr, auf welcher Seite sie stehe, und entziehe der Landwirtschaft den Boden. Wegen der restriktiven Normen für eigene Landwirtschaft würden, statt mehr Verbraucherschutz zu bekommen, mehr unkontrollierte Lebensmittel importiert.
Und auch die Lektüre von Kommentaren in regionalen Zeitungen lohnt sich in diesen Tagen. In der „Magdeburger Volksstimme“ vom 27. November stehen folgende Sätze: „Und während der Bauer weiterackert und die günstigsten und besten Lebensmittel seit Menschengedenken für wenig Geld an die Discounter liefert, wird er von Stadtmenschen als Bienenmörder und Tierquäler beschimpft…Ob Energie- oder Agrarwirtschaft: Die Umweltpolitik zerstört Strukturen, ohne neue zu schaffen.“

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Die Wahrheit der Traktoren (I) – Die einfachen Worte, die die demonstrierenden Bauern auf Holzplatten geschrieben haben und am Ladegeschirr ihrer Trecker befestigt haben, sind also wirklich ernst zu nehmen:
„Niemand soll vergessen, Bauern sorgen fürs Essen.“
„Ohne uns wärst Du hungrig, nackt, nüchtern.“
„Belastbare Daten statt belastete Familien“
„Liebe Grüne-Besserwisser: Kauft euch mal ein Stück Land und zeigt, was ihr besser könnt.“

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Die großstädtischen Geschichtenerzähler – Nach der Demonstration der Bauern war in den sogenannten „Leitmedien“ eine bestimmte Reaktion zu beobachten. Sie bestand, genau genommen, aus drei Elementen: Zum Ersten zeigte man „Verständnis“ für die Protestierenden und erweckte den Anschein, auf ihrer Seite zu stehen. Zum Zweiten nahm man dabei eine bestimmte Verschiebung vor: Man behauptete, den Bauern ging es gar nicht so sehr um reale Sachverhalte, sondern vielmehr um ihre „Anerkennung“ und „Mitsprache“. Damit war das Verständnis schon halb zurückgenommen und wurde zum vergifteten Geschenk. So konnte man dann im dritten Element die Katze aus dem Sack lassen und die Unverzichtbarkeit einer „Agrarwende“ behaupten. Die Forderungen der Bauern wurden damit abgewiesen und erledigt.

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Frau Löhr (FAZ) erklärt den Bauern, warum sie demonstrieren – Am 30. November erschien in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ein Leitartikel von Julia Löhr. Der Text trägt die Überschrift „Am Pranger“ und erweckt zunächst den Eindruck, dass er die Kritik an den Bauern als Tierquäler und Klimasünder zurückzuweist. Auch der Hinweis auf die 80 Millionen Menschen, die in Deutschland jeden Tag ernährt werden wollen, fehlt nicht. Aber schon am Anfang findet sich auch ein Satz, der das Anliegen der Bauern verschiebt: „Diesmal geht es ihnen nicht so sehr ums Geld, sondern vor allem um ihren Stolz.“ Damit ist die Auseinandersetzung auf ein Feld verschoben, auf dem es keine harten Restriktionen und Gegensätze gibt – und wo man mitreden kann, ohne von den technischen Anforderungen und dem Stand der Landwirtschaft eine Ahnung zu haben. Im weiteren Verlauf des Leitartikels werden dann Schritt für Schritt die Positionen der Bio-Landwirtschaft und der NGOs untergebracht: Bisher seien nur wenige Verbraucher bereit, die höheren Preise der Bio-Lebensmittel zu zahlen. Das müssten sie ändern. Die verschärften Nitratauflagen beim Wasser seien uneingeschränkt richtig.

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Eine neue Wende-Generation von Bauern wird erfunden – Und dann, gegen Ende des Leitartikels, lässt die Autorin die Katze aus dem Sack und führt „die jüngeren Landwirte“ ins Feld, die angeblich gar nicht auf Seiten der Bauernproteste stehen, sondern bereit sind für die Agrarwende (ohne dass dieser Begriff hier ausdrücklich verwendet wird). Die Passage lautet:
„Es sind vor allem die jüngeren Landwirte, die erkannt haben, dass es so nicht weitergehen kann, dass in einer insgesamt stärker auf Nachhaltigkeit bedachten Gesellschaft auch die Landwirtschaft sich anpassen muss. Sie suchen sich neue Organisationsformen jenseits des traditionellen Bauernverbandes. Und sie umgehen den Preisdruck im Lebensmitteleinzelhandel, indem sie neue Betriebswege erschließen. Viele Nachwuchslandwirte stellen nicht nur auf Bio-Anbau um, sondern interpretieren auch den Hofbegriff neu. Sie holen sich Start-ups aus der Food-Szene auf ihre Höfe und schaffen Orte, die Stadt- und Landmenschen wieder zusammenbringen.“
Hier geschieht eine grobe Irreführung der Leser, die auch nicht vor einer glatten Lüge zurückschreckt: In Wirklichkeit unterscheiden sich die Organisatoren der Bauerndemonstration, insbesondere das Netzwerk „Land schafft Verbindung“, von den offiziellen Bauernverbänden dadurch, dass sie die neuen Belastungen des Agrarpakets strikt ablehnen. Sie sind nicht mehr bereit, die Spirale von immer mehr Auflagen und immer mehr Subventionen mitzumachen. Sie haben erkannt, dass diese Spirale nicht weitergehen kann und zum Ausbluten einer eigenständigen Landwirtschaft und einer freien Bauernschaft führt. Die neuen Netzwerke auf dem Lande sind also Netzwerke des harten Widerstandes – darin sind sie mit den „Gelbwesten“ in Frankreich durchaus vergleichbar.     

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Steh-Party im Hofladen? – Es ist bezeichnend, dass Frau Löhr hier den Bio-Landbau wieder ins Spiel bringt und mit Mode-Worten wie „Start-ups“ und „Food-Szene“ das Problem übertüncht, das sie am Anfang ihres Leitartikels noch erwähnt hatte: die Bio-Produkte sind für die große Mehrheit schlicht unbezahlbar. So ist am Ende des Leitartikels die harte Alltags-Arbeit der Bauern zum Verschwinden gebracht, der Traktor kommt nicht mehr vor. Es redet wieder nur das gehobene, großstädtische Milieu und es führt Selbstgespräche. Die Schwere der landwirtschaftlichen Dinge wird in den leichtfüßigen Small Talk der Steh-Parties verwandelt, die jetzt auch im Hofladen stattfinden sollen. Der urbane Lifestyle der „Kreativen“ soll nun auch das Land in Beschlag nehmen. Und die Milieus der Besserwisser und Besserverdiener haben natürlich kein Problem mit den verschärften Auflagen des Agrarpakets. 

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Ein zweites, fast identisches Beispiel – Im Hauptkommentar der „Berliner Zeitung“ vom 27. November schreibt Marina Kormbaki ganz ähnlich wie Julia Löhr zunächst vom Frust der Bauern, um ihn dann ins Subjektive zu verschieben: „Vor allem aber ist ihr Protest ein Ruf nach Aufmerksamkeit und Anerkennung.“ Und am Ende ihres Kommentars stellt sie sich in der Sache auf die Seite der Regierenden: „Die Maßnahmen sind unumgänglich – die Gesellschaft hat ein Anrecht auf sauberes Trinkwasser und ein intaktes Ökosystem. Doch die Politik hat es versäumt, den Wandel offen zu kommunizieren und die Landwirte frühzeitig wissen zu lassen, dass sie an deren Seite steht.“ Die Autorin hat für die drastische Verschlechterung der Ertragslage der Bauern nur das harmlose Wörtchen „der Wandel“ übrig und will die Bauern damit abspeisen, dass die Regierung ihnen sagt, dass sie „an ihrer Seite steht“. Hier schreibt jemand, der sich weniger für die Arbeitsrealität der Bauern als für die „neuen gesellschaftlichen Ansprüche“ interessiert. Und die sind eben bloß die Ansprüche bestimmter großstädtischer Milieus.  

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Toll, das Kanzleramt wird Zukunfts-Werkstatt – Am Montag den 2. Dezember fand im Kanzleramt eine Versammlung statt, die irreführend als „Agrargipfel“ bezeichnet wurde, obwohl die Vertreter der Bauern unter den geladenen 40 Verbänden und Organisationen (unter anderem Vertreter des Landschafts- und Gartenbaus, von Raiffeisen und Agrarhandel, von Bildungszentren, vom „Evangelischen Jugendwerk in Württemberg oder dem Bund Deutscher Pfadfinder) nur eine Minderheit waren. Dass Merkel die Sache zur Chefsache erklärt hat, bedeutete also nicht eine Konzentration auf das Dringende, sondern eine Erweiterung auf ein weites Feld sozialer Anliegen. Und es bedeutete eine Verschiebung in der Zeit: der Blick sollte in weitere Zukunft schweifen. 

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Das Agrarpaket wird eiskalt durchgezogen – Währenddessen sollten alle Maßnahmen des Agrarpakets, dessen sofortige Aussetzung die Bauerndemonstrationen gefordert hatten, weiterlaufen. Denn es gab keinerlei Zusage einer Überprüfung und Korrektur des Agrarpakets. Das wurde knallhart abgelehnt oder schlicht mit Schweigen übergangen. Die Statements am Ende des „Agrargipfels“ vermieden es, die Ablehnung ausdrücklich und mit lauter Stimme der Öffentlichkeit mitzuteilen. Die Demonstrationen wurden also wie irgendeine beliebige Meinungsäußerung behandelt. So sollte die Sache im Stimmengewirr der „Kommunikation“ begraben werden.
Zu diesem Begräbnis haben die führenden deutschen Medien ganz wesentlich beigetragen. Denn sie haben alles getan, um das Gegenüber von Bauerndemonstration und Regierung wegzuschreiben. In der Berichterstattung über die Bauerndemonstrationen wurde unterschlagen, dass die Bauern ein direktes konkretes Anliegen haben: die Überprüfung und Korrektur des Agrarpakets. Die Ablehnung dieser Änderung wird in den Artikeln nicht – oder nur am Rande – erwähnt. Nie taucht sie in den Überschriften auf. Stattdessen wird so getan, als wären die diversen Gesprächsrunden, Dialog-Veranstaltungen, Zukunfts-Kommissionen und Strategiepapiere das Wichtige und Weiterführende. Damit haben sich die Medien erneut den Titel „Lügenpresse“ verdient – oder präziser ausgedrückt: Sie haben einen Schutzschirm um die Große Koalition und das Kanzleramt gebildet.

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Sie nennen es „Diplomatie“ – In der FAZ vom 3.Dezember wird der Montagsgipfel im Kanzleramt von Jessica von Blazekovic auf Seite 1 kommentiert. Dort heißt es: „Schon oft wurde die Bundeskanzlerin für ihr Verhandlungsgeschick gelobt. Auf dem `Agrargipfel´ war das wieder einmal schön zu beobachten…Doch Merkel ist es gelungen, für so etwas wie einen Waffenstillstand zu sorgen…Die enormen Herausforderungen der Landwirtschaft sind dadurch freilich längst nicht gelöst. Aber allen Konfliktparteien scheint es gut zu tun, dass Merkel das Thema nun zur Chefinnensache erklärt hat.“
Damit endet der Kommentar. Der Bericht auf Seite 2 von derselben Autorin (Überschrift „Bauern-Diplomatie à la Merkel“) enthält einige konfuse Formulierungen. Da ist von einer „Ackerbaustrategie“ die Rede, die die Ministerin Klöckner angekündigt habe, „um Zielkonflikte zwischen Ertragssicherung und Umwelt- sowie Klimaschutz zu vereinbaren“. Man will „Konflikte vereinbaren“? Die Kanzlerin will in einer Gesprächsrunde mit Handelsunternehmen die Lebensmittelpreise „thematisieren“. Wird es dadurch in den Regalen billiger? Die wichtigtuerischen Formulierungen täuschen darüber hinweg, dass hier gar keine festen Vereinbarungen in Aussicht stehen. Das hat mit einer ernsthaften Diplomatie nichts zu tun, sondern klingelt nur mit dem Wort.

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Was den „Gelbwesten“ gelungen ist – An dieser Stelle ist ein Vergleich mit der Bewegung der „Gelbwesten“ in Frankreich interessant. Es ist fast auf den Tag genau ein Jahr her, dass dort die Regierenden gezwungen wurden, die beschlossene Benzin- und Dieselpreis-Erhöhung zurückzunehmen. Das hatten sie vorher strikt abgelehnt, aber die Gelbwesten verschärften ihre Blockaden und ließen sich nicht von ihren Forderungen abbringen. Es bestand also eine klare Gegenüberstellung zweier Positionen, die schließlich zu einer wirklichen Änderung einer politischen Entscheidung führte. In Deutschland wird nun alles getan, um diese Gegenüberstellung wegzureden und damit zu verhindern. Eine stillschweigende Staatsräson scheint hierzulande darin zu bestehen, dass man dem Volk niemals gestattet, dass es direkt eine politische Entscheidung umbiegen kann. Dass man ihm einbleut, dass es politisch immer nur Worte und niemals Taten – mit Muskeln und Traktoren – hervorbringen darf.

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Die Wahrheit der Traktoren (II) – In der Demonstration der Bauern am 26.November 2019 ist daher auch eine weiterführende Wahrheit enthalten – eine Wahrheit über den Weg der Veränderung in diesem Lande. Wenn sich in Deutschland etwas ändern soll, dann kann und wird es nicht im Namen vager Aussichten, sondern im Namen harter Wirklichkeiten geschehen. Von dieser prosaischen Seite werden die Kräfte der Veränderung kommen. Sie werden die Realität auf ihre Fahnen schreiben. Und sie werden diese Realität mit ihrer ganzen physischen Wucht hineintragen in die selbstbezogene Welt der gehobenen, urbanen Sozialmilieus, die Deutschland mit ihren „großen Erzählungen“ in Bann halten wollen.

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Eine Fußnote – Dem Leser ist vielleicht aufgefallen, dass in dieser ungleichen Auseinandersetzung der Gegensatz zwischen Stadt und Land eine wichtige Rolle spielt. Aber es gibt in dieser Auseinandersetzung auch eine merkwürdige Begegnung der Geschlechter. Der Zufall (ist es ein Zufall?) will es, dass hier ein Berufstand, eine Branche und eine Lebenswelt um die Existenz kämpft, in der Männer eine starke Rolle spielen – und auch das Bild der Demonstration stark geprägt haben. Aber die an führender Stelle verantwortlichen Politiker (Klöckner, Schulze, Merkel) sind alles Frauen. Und auch die Berichte und Kommentare, die ich hier zitiert habe, haben Frauen geschrieben (Löhr, Kormbaki, von Blazekovic). Sicher ist meine Artikel-Auswahl nicht wirklich repräsentativ, aber die auffällige Geringschätzung der Ertrags- und Arbeitsprobleme der Bauern ist eine Tatsache. Es ist schon etwas bizarr: Eine Demonstration schwerer Maschinen und zupackender Männer wird von Frauen kommentiert, die sich nur darauf verstehen, über die Dinge zu reden und sie verbal zu bewältigen. Und denen es sichtlich schwerfällt, sich überhaupt eine andere Welt vorzustellen, in der Diesel, Stahl und Muskeln regieren. Man sollte in diese Schieflage nur keine biologischen Gründe hineininterpretieren; plausibler als Gründe erscheinen mir die historisch gewachsenen Unterschiede der Geschlechter – aber das ändert nichts an den verheerenden Folgen dieser Schieflage.

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Auf meiner Homepage www.gerdheld.de finden Sie in der Rubrik „Der Monat“ drei Texte zum Zusammenhang von Ernährung, Umwelt und Landwirtschaft, von denen der erste bereits in meiner Kolumne bei „Tichys Einblick“ erschienen ist, und die die beiden anderen folgen sollen.

III. Gesegnete Weihnachten

Dies ist die November-Dezember Ausgabe von „Mein Monat“ und deshalb hat hier das Politische nicht das letzte Wort. Es ist die Zeit von „Advent“ und „Weihnachten“. Seit meiner Kindheit habe ich diese Zeit, in der der kahle November in den magisch glänzenden Dezember wechselt als etwas Besonderes empfunden, ohne recht die Worte dafür zu finden. Das Gefühl dauert bis heute an und in diesem Sinne bin ich jung geblieben. Vielleicht erscheinen all die weihnachtlichen Orte und Dinge, die Kerzen auf dem Adventskranz, der Adventskalender, die Lichter auf den Straßen und in den Schaufenstern, die Glocken auf dem Weg zur Kirche am Heiligabend, der Geruch des Weihnachtsbaums mit Lametta auf den Zweigen und mit Sternen aus Silberpapier, die elektrische Märklin-Eisenbahn, die nur vom 25. Dezember bis zum Ende der Schulferien Anfang Januar aufgebaut wurde, heute nicht mehr so groß und rätselhaft, wie sie damals vor einem standen, leuchteten, klangen und rochen. Aber sie sind mir mit der Zeit auf eine andere Weise besonders geworden: Ich weiß heute besser, wie wenig selbstverständlich es ist, dass die Welt da ist und dass wir da sind. Dass wir verstehen, dass das alles uns gegeben ist, und dass „Festlichkeit“ nicht ein selbstbezogenes Zelebrieren ist, sondern ein dankbares Zelebrieren.
Als junger Mann habe ich mir noch ziemlich lange die Dinge im Denken so zurechtgelegt, dass Weihnachten nur der Ausdruck eines menschlichen Bedürfnisses ist – und daher psychologisch und soziologisch zu verstehen ist. Demnach sollten die modernen Zeiten bedeuten, dass die Menschen der Welt die Lichter aufsetzen und auch den christlichen Glauben ganz zu ihrem Konstrukt machen. Sind es nicht die Menschen, die Weihnachtsmärkte aufbauen und in ihren Wohnungen Kerzen anzünden? Aber dies Selber-Machen ist eine recht naive und grobe Vorstellung von unserem Handeln und „Erfinden“. Woher nehmen wir denn das Motiv für diesen herausgehobenen Dezemberglanz? Was ließ uns denn den außerordentlichen Reichtum der Weihnachtsdinge „mitten im kalten, dunklen Winter“ entdecken? Ist es also nicht eher umgekehrt: Dass die Dinge uns gefunden haben? Dass da eine Offenbarung stattgefunden hat und weiter stattfindet? Die Fähigkeit zu sehen, dass uns Welt und Leben gegeben ist, und das Vertrauen darauf, dass dies morgen noch weitergeht, kann nicht auf unserem eigenen Mist gewachsen sein. Es muss eine Gabe sein. Ja, indem wir mit Advent und Weihnachten Christi Geburt feiern, feiern wir etwas, das wir empfangen haben: Bei aller Ferne und Dunkelheit, die die Unendlichkeit Gottes umgibt, ist er uns zugewandt. Das ist die religiöse Wahrheit, die Weihnachten wirklich zu einer „geweihten Nacht“ macht.
Es hat einige Zeit gedauert, bis ich diesem feierlichen Grundgefühl, das mich seit meiner Kindheit nie ganz verlassen hat, auch in meinem Denken einen Platz einräumen konnte. Erst dann hat auch das Wort „gesegnet“ für mich einen wirklichen Klang bekommen. Es ist keine leere Grußformel mehr, sondern ein echter, bittender Wunsch.

Ich wünsche uns allen gesegnete Weihnachten und schöne Festtage.

Ihr

Gerd Held