Großbritannien scheidet aus der EU aus, und das ist ein guter Start in die 2020er Jahre. Für immer mehr Länder wird die Selbstbehauptung zur vorrangigen Aufgabe werden.

Die Rehabilitierung der Nationen

24.Januar 2020

Der Austritt Großbritanniens aus der EU ist nun Realität. Die Briten haben diesen Schritt mit einem eindeutigen Votum bei den Unterhauswahlen im Dezember 2019 ermöglicht. Mit diesem Votum wurde das Ergebnis des Referendums von 2016 bekräftigt und die Mehrheit dafür verstärkt. Was hat man damals nicht alles geschrieben über die Täuschungen und Stimmungen des Augenblicks, die damals angeblich den Ausschlag gegeben hätten. Es wurde der Eindruck erweckt, dass die Briten schon am Tag nach dem Referendum ihr Votum bereut hätten, und es seitdem im Vereinigten Königreich eine Mehrheit gegen den Austritt gäbe. Doch nun ist alles anders. Es zeigt sich, dass das Anliegen des Brexits sehr viel ernster zu nehmen ist, und dass es durchaus gewichtige Gründe für diesen Schritt gibt – und nicht nur Ressentiments „gegen Brüssel“. Was hat die Briten zu ihrem Votum bewogen? Es muss mehr im Spiel sein als einzelne Gruppeninteressen – es muss ein Grundmotiv geben, das mehr oder weniger klar ausgedrückt wird, das aber überall mitschwingt. Dies Motiv muss recht stark sein, denn es hat ja in den dreieinhalb Jahren seit dem Brexit-Referendum wahrlich nicht an Gegenwind und Chaos gefehlt – und trotzdem sind die Briten nicht brav in den Schoss der EU zurückgekehrt.
Sie sind auch nicht der Versuchung erlegen, ihr gesamtbritisches Anliegen in ein linkes Klassenkampf-Begehren umdeuten zu lassen und sich gegen „die Reichen“, gegen die Unternehmen und gegen die britische Regierung, die von der Tory-Partei geführt wird, zu wenden. Ein solches Umlenken hat unseligerweise die Labour-Party versucht, und sie hat dabei einen erheblichen Teil ihrer Stammwählerschaft verloren. Das ist bemerkenswert, denn die vorhergehenden Tory-Regierungen waren recht rücksichtslos mit den ärmeren Schichten und Regionen – mit ihren Industrien und ihrer Arbeitskraft – umgegangen. Aber das Anliegen des Brexits scheint die politischen Orientierungslinien verändert zu haben. In der Auseinandersetzung mit dem anonymen Verwaltungsregime der EU scheinen die konservativen Kräfte ihr Land und seine inneren Kräfte neu entdeckt zu haben. Eine gewisse politische Erwärmung scheint stattgefunden zu haben, die von Corbyns kaltem Linkskurs völlig verfehlt wurde.
Die Brexit-Losung des „Taking back control“ wurde erst in dem Moment wirklich griffig, als deutlich wurde, dass die Wiedergewinnung der Souveränität die Möglichkeit eröffnet, viel stärker die Besonderheiten und inneren Kräfte Großbritanniens zur Geltung zu bringen. In der britischen Politiktradition gibt es den „One-Nation“-Konservativismus, der insbesondere in kritischen Situationen manche Feuerprobe bestanden hat. An diese Tradition knüpft Boris Johnson jetzt an, der in einiger Hinsicht an Churchill erinnert und doch keine bloße Kopie von ihm ist. Mit dem Austritt aus der EU hat dieser zupackende und zugleich lebenswarme Konservativismus seine Mission aber noch nicht erfüllt. Er muss sich jetzt im Land bewähren.

Das nationale Motiv

Es ist offensichtlich, dass die Briten nicht aus der EU ausscheiden, weil sie nun vor allem Weltpolitik auf eigene Faust betreiben wollen. Das nationale Motiv ist elementarer und begrenzter. Es zielt vor allem auf die innere Entwicklung. Die Briten wollen sich dem Zugriff der EU entziehen, um ihre eigenen Ressourcen und Errungenschaften besser zur Geltung zu bringen. Und das „besser“ meint inzwischen auch ein „überhaupt“: Es geht um existenzielle Ressourcen und Errungenschaften. Das Grundmotiv, das dem Brexit-Votum seine bemerkenswerte Stabilität gibt, ist also die Selbstbehauptung. Dieser Lebensnerv der Briten, der zwischenzeitlich eher eingeschlafen war, ist durch ein zunehmend engmaschiger werdendes EU-Regierungssystem, wieder geweckt worden. Dabei sind die Bürger des United Kingdom durchaus welterfahren und zählen zu ihren Ressourcen auch ihre Außenbeziehungen. Sie sind nicht befangen durch einen engen, gemütlich-sentimentalen Horizont, den man oft – fälschlicherweise – den Bewohnern von Inseln unterstellt. Vielmehr haben sie nüchtern abgewogen, in welchem räumlich-institutionellen Rahmen ihre Selbstbehauptung am besten gelingen kann. Und eine beträchtliche Mehrheit hat die Zukunft in einem nationalen, territorial begrenzten Verfassungsstaat gegenüber der Zukunft im politischen Großraum-Gebilde EU vorgezogen. In dieser Alternative besteht der sachliche Kern der ganzen Auseinandersetzung.
Das „Selbst“ der Selbstbehauptung ist nicht nur eine subjektive Angelegenheit von Bewusstsein und Willen. Zum „Selbst“ gehört nicht nur ein Kopf, sondern auch ein Land. Nur dadurch wird die Selbstbehauptung zur Souveränität – zu einer gegenständlichen und messbaren Größe. Deshalb werden durch den Brexit räumlich-institutionelle Fragen aufgeworfen.      

Wenn Größe auf Kosten von Selbstbehauptung geht

Das Argument der Größe klingt zunächst sehr einleuchtend. Man spricht von den „Skaleneffekten“ großer Einheiten, die sowohl bei Produktionsbetrieben als auch bei Infrastrukturen große Serien und viele Nutzer kostengünstig bewältigen können. Große Einheiten sollen auch größere Verhandlungsmacht und politische Durchsetzungskraft haben. Die EU nimmt für sich in Anspruch, die angemessene und unumgängliche Größe zu bilden, um angesichts der Globalisierung nicht „herumgestoßen“ zu werden. Man müsse sich in der heutigen Welt in der Größenordnung von den USA und China bewegen, um nicht auf verlorenem Posten zu stehen. Das ist ein sehr grobes Alles-oder-Nichts-Raster, das zu der Größen-Vielfalt der heutigen Staatenwelt nicht recht passt.
Und es gibt auch einen prinzipiellen Grund, der dem Primat der größeren Einheit entgegensteht. Denn im Innenleben dieser Einheiten ist ein hoher Preis zu zahlen: Man kann nicht mehr den jeweils besonderen Bedingungen Rechnung tragen, an denen die Existenz der verschiedenen Länder hängt. Das gilt für die natürlichen Bedingungen wie für die geschichtlich errungenen Bedingungen. Man muss Ungleiches gleich behandeln. Man kann keine unterschiedlichen Prioritäten setzen. Das macht die großen Einheiten nicht nur monoton, sondern auch unfähig zu starken Bindungen. Da die Einheitsnormen immer bestimmten Standorten eher entgegenkommen als anderen, für dies zu Auslese und Brachlegung. Eine belastungsfähige Schicksals-Gemeinschaft, die schwere politische Entscheidungen fällen kann, kann so nicht entstehen.  
So wird die Selbstbehauptung, die die großen Einheiten fördern sollen, zur Farce. Denn das „Selbst“ wird in dem gleichen Augenblick, in dem es äußerlich scheinbar gefördert wird, von innen aufgelöst. Und das „Behaupten“ wird in dem Moment, wo scheinbar besonders hoch aufgerichtet wird, in der Realität unterminiert. So laufen die Großraumgebilde Gefahr, zu weitgehend entleerten Hüllen und zu Mächten ohne Unterbau zu werden.  

Eine Abwägungsentscheidung

Man muss gar nicht bestreiten, dass es Gründe gibt, die für politische Großraum-Gebilde sprechen, aber es gibt eben auch sehr gewichtige Gegengründe. Wenn die Selbstbehauptung im Rahmen eines solchen Gebildes für ein Land auf Kosten seiner Substanz geht, verliert die Zugehörigkeit zu diesem Gebilde seinen Sinn. Denn dann entzieht das Großgebilde dem Land ja das, was es angeblich besser schützt. Dieser Zustand ist erreicht, wenn existenzielle Entwicklungs-Bedingungen und wesentliche Errungenschaften eines Landes gefährdet und zerstört werden. Beide Seiten, Gründe und Gegengründe, sind also gegeneinander abzuwägen.

Die britische Entscheidung ist kein Sonderfall

In Großbritannien ist eine Mehrheit der Bürger zu dem Schluss gelangt, dass die Selbstbehauptung des Landes im Großraum-System „Europäische Union“ mehr Schaden nimmt als gewinnt. Diese Erkenntnis ist nicht über Nacht gekommen, sondern steht am Ende eines Abwägungsprozesses, der schon vor etlichen Jahren begonnen hat. Dabei spielte die zunehmende Dichte der EU-Festlegungen (bei dem Sozial- und Umweltnormen, bei der Regional- und Infrastrukturpolitik, bei Massenmigration und Grenzkrise, bei Schuldenkrise und Finanzpolitik) eine Rolle. Sie hemmten, wo man Grenzen setzen wollte (bei der Zuwanderung), und sie hemmten auch, wo man fördern wollte (wenn eine Region nicht ins EU-Förderprofil passte. Man sah auch mit Sorge, dass europäische Institutionen (EU-Kommission, EZB, EuGH, Europa-Parlament) zunehmend nach eigenem Ermessen ihre Kompetenzen ausweiteten, ohne im System auf Gegenkräfte zu stoßen. Und schließlich sah man auch, dass die Erträge dieser Europäisierung in keinem Verhältnis zu Aufwand und Kosten standen. Das alles ist keine britische Schrulle, sondern auch anderswo nachvollziehbar. Es wäre daher vernünftig, wenn an vielen Orten in Europa ein solcher Abwägungsprozess beginnen würde. Damit wäre eine erste kritische Distanz zu dem scheinbar alternativlosen Immer-enger-vereint-Europa gewonnen. Auch wenn diese Abwägung nicht sofort zu einer Austrittswelle führen wird, so würde mit ihr doch schon ein neues Selbstbewusstsein der Nationen entstehen.

Das Abwägungs-Tabu

Die meisten Kommentare, die hierzulande angesichts des Brexits erschienen, wollen diesen Schritt zu einer nüchternen Abwägung zwischen einem politischem Großraum-System und einer pluralistischen Ordnung begrenzter Nationalstaaten nicht gehen. Sie fürchten sichtlich die Ausstrahlung des britischen Beispiels und möchten die ordnungspolitische Diskussion von vornherein auf eine europäische Großraumlösung festlegen. Stefan Kornelius schreibt in der Süddeutschen Zeitung (am 21./22.12.2019): „Die zentrale Abwägung beim Brexit heißt: Wie kann ein politisch, militärisch und wirtschaftlich so bedeutendes Land wie Großbritannien an Europa gebunden werden, ohne dass die restliche Union vom separatistischen Virus angesteckt wird?“ Hier geht es nicht um die Sachfragen, die die britische Entscheidung motiviert hat und die sich auch für andere Länder stellen. Der SZ-Journalist möchte solche kritischen Fragen als „separatistischen Virus“ unter Quarantäne stellen. Und am Ende des Artikels droht er den Briten unverhohlen mit einer Volkswirtschaft „in Trümmern“, um dann zu fordern, dass Boris Johnson von der Formel „Take back control“ Abschied nehmen soll – als wäre diese Formel sein persönliches Eigentum und nicht ein demokratisch begründetes politisches Gemeingut. Kornelius schreibt wörtlich: „…die Rückkehr der Kontrollmacht auf die Insel ist ein hohles Versprechen. Wer wirklich mächtig sein will in Europa, der muss die Kontrolle teilen“. Mit dieser „geteilten Kontrolle“ würde das Zentrum des politischen Geschehens wieder auf endlose Gesprächsrunden in Brüssel verlagert, und Großbritannien wäre von neuem den Machtmechanismen des EU-Systems ausgeliefert.

Das Tabu wird nicht halten

Umso erfreulicher ist es, dass man in deutschen Zeitungen auch Kommentare findet, die die nationale Souveränität Großbritanniens als neue Geschäftsgrundlage akzeptieren. Philip Plickert schrieb in seinem Kommentar im Wirtschaftsteil der FAZ (am 14.12.2019):
„Nun kehren sie der `immer engeren Union´ den Rücken und wollen lieber als unabhängige Nation mit globalem Horizont ihr Glück suchen. Das Brexit-Votum war zum Gutteil motiviert von dem Wunsch, die eigene Souveränität nicht in einem europäischen Superstaat aufzugeben. Großbritannien kann auch eigenständig erfolgreich sein.“    
Und nichts liegt Thomas Kielinger in seinem Kommentar in der „Welt am Sonntag“ (am 15.12.2019) ferner als den Briten irgendeine Krankheit (einen „Virus“) anzudichten:  
„Die Briten gehen unängstlicher und mit größerer Zuversicht nach vorn als der Deutsche mit seinen hunderterlei Zweifeln. Robinson auf seiner Insel lebt nicht nach einem `Gesamtkonzept´, sondern nach dem täglichen `Versuch und Irrtum´. Unter einer Bedingung: Souveränität. Die glaubt man in der EU nicht geborgen, daher der Abschied von Brüssel.“

(erschienen am 27.1.2020 in meiner Kolumne bei „Tichys Einblick online“)