…versucht anhand einiger Zitate zu zeigen, wie wenig die Politik am Ende der Ära Merkel in der Lage ist, solche Grundentscheidungen ins Auge zu fassen.

27.Februar 2020

Das Erbe des Merkelismus: Ein orientierungsloses Land

Es war einmal in deutschen Zeitungskommentaren eine beliebte Formulierung, dass es die besondere Fähigkeit der Bundeskanzlerin sei, „die Dinge vom Ende her“ zu betrachten und zu gestalten. Wenn das wahr wäre, müsste heute, wo die Merkel-Jahre sich dem Ende zuneigen, die Politik auf einem guten Weg sein. Es müsste klare Orientierungslinien geben, die bloß geradewegs weiterzuverfolgen sind. Und es müssten viele Politiker und Parteien zur Verfügung stehen, die dies Erbe mit Begeisterung antreten. Doch die gegenwärtige Lage ist ganz anders. Insbesondere von der CDU scheint am Ende der Merkel-Jahre nicht viel übriggeblieben zu sein. Sie sei in der schwersten Krise seit ihrer Gründung, heißt es. Das spricht nicht gerade dafür, dass hier ein intaktes politisches Erbe und ein solides Vertrauen der wählenden Bürger vor der Übergabe steht. Der Merkelismus hinterlässt eine taumelnde Nation. Eine orientierungslose Nation. Eine Nation, die sich selber nicht über den Weg traut.

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Eine Rede des Bundespräsidenten – Am 23. Januar dieses Jahres hat der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eine Rede beim Holocaust-Forum in Yad Vashem in Israel gehalten. Darin hat er Zweifel daran geäußert, ob die Deutschen dauerhaft die richtigen Lehren aus dem Nationalsozialismus gezogen habe. Steinmeier wörtlich: „Ich wünschte, sagen zu können: Wir Deutsche haben für immer aus der Geschichte gelernt. Aber das kann ich nicht sagen, wenn Hass und Hetze sich ausbreiten.“ Noch nie seit der Gründung der Bundesrepublik ist so etwas von einem hohen Repräsentanten des Staates gesagt worden. Es ist eine Kollektivanklage gegen die Deutschen. Der Bundespräsident beschwört im Angesicht der Holocaust-Gedenkstätte und vor der Weltöffentlichkeit eine neue NS-Stimmung in Deutschland. Was muss in dem Mann vorgehen, dass er all die Anstrengungen der Deutschen, zu den Ursachen dieser finstersten Jahre der deutschen Geschichte vorzustoßen, der Tiefe der Schuld auf die Spur zu kommen und für sie zu büßen, zerreißt wie ein Stück Papier? In seiner Rhetorik häufen sich Formulierungen wie „Deutsche haben…“, „Es waren Deutsche, die…“ Deutsche, Deutsche, Deutsche – es scheint dem Redner darauf anzukommen, diese Identität, die nun einmal die geschichtliche Grundlage ist, auf der wir fortleben, in aller Öffentlichkeit zu vernichten. Als sei nun endlich die wahre und tiefste Ursache von Holocaust, Völkermord und Angriffskrieg gefunden: das Deutsch-Sein. 

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Eine zweite Rede des Bundespräsidenten – Einen Monat später, am 14. Februar, hält Steinmeier eine Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz. Auszüge der Rede sind in der FAZ vom 15.2. abgedruckt. Man fängt an zu lesen und stößt im zweiten Absatz auf folgende Passage: „Ich wünschte, sagen zu können: Wir haben auch als Staatengemeinschaft für immer aus der Geschichte gelernt, nach 1945 und dann nach 1989. Aber wir werden heute Zeugen einer zunehmend destruktiven Dynamik der Weltpolitik. Vom Ziel internationaler Zusammenarbeit zur Schaffung einer friedlicheren Welt entfernen wir uns von Jahr zu Jahr weiter. Die Idee der `Konkurrenz der großen Mächte´ bestimmt nicht nur die Strategiepapiere unserer Tage. Sie prägt auch von neuem die Wirklichkeit rund um die Welt, und Spuren lassen sich verfolgen bis in die endlosen, opferreichen Kriege im Mittleren Osten und in Libyen.“ Von neuem taucht also die Formel „Ich wünschte, sagen zu können“ auf. Steinmeier benutzt dieselbe rhetorische Figur wie in Yad Vashem. Doch diesmal werden nicht die Deutschen auf die Anklagebank gesetzt, sondern die ganze Staatengemeinschaft – insbesondere Russland, China und die USA. Da haben wir die Ambivalenz: Die dramatische Selbstbezichtigung wird nun zur dramatischen Fremdbezichtigung. Nun sind „wir“ nur noch „Zeugen“ eine gefährlich-destruktiven Dynamik der Weltpolitik. Andere sind die Täter. Steinmeier denunziert die „Idee der Konkurrenz der großen Mächte“. Was bietet er dagegen auf? Eine andere Idee? Keineswegs, denn sein Schlüsselsatz in der Rede lautet: „Europa ist der unabdingbare Rahmen für unsere Selbstbehauptung in der Welt.“ Das ist eine Konkurrenz-Vorstellung und zwar eine Vorstellung, bei der die Größe den Ausschlag gibt. Wieso eigentlich braucht Deutschland diesen größeren Rahmen? Anderen Nationen in der Welt gelingt es doch auch, sich ohne ein solches Großraum-Gebilde zu behaupten.

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Die deutsche Rolle in Europa wird zweideutig – Eine Rollenumkehr in Und auch eine europapolitische Ambivalenz wird hier sichtbar: Eine Zeitlang, besonders kurz nach der Wende 1989, hieß es, Deutschland müsse europäisch „eingebunden“ werden, damit es nicht wieder imperiale, kriegerische Ambitionen bekommt. In der Rede von Steinmeier ist von einem Eingebunden-Werden nicht mehr die Rede. Nun heißt die Devise „Deutschland muss das geeinte Europa zusammenhalten“ (so der FAZ-Titel zum Bericht über die Steinmeier-Rede). Deutschland soll nun in der Rolle des Europa-Machers sein, der im Namen des größeren „Rahmens“ auf andere Länder Einfluss nimmt. Wir erinnern uns: Wie lautete das Argument, mit dem man mit allen Mitteln Großbritannien vom Brexit abbringen wollte? Ja, richtig, es hieß: Ihr seid zu klein, um Euch selbst zu behaupten. Ihr seid auf uns, die EU, angewiesen. Und mit dieser typischen Großmacht-Erpressung will man den Briten jetzt ein Handelsabkommen zu den Bedingungen der EU aufzwingen.

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Der bayrische Ministerpräsident Söder spricht – In der FAZ (12.2.2020) erschien ein Interview mit dem bayrischen Ministerpräsidenten Söder (CSU). Dort wird Söder die Frage gestellt „Wie soll es weitergehen, in Deutschland, mit der CDU?“ Er antwortet: „Damit Thüringen nicht zum Fanal für die Schwäche unserer Demokratie wird, braucht es mehr als eine bloße Reparatur: Wir brauchen eine grundlegende Neuaufstellung. Die Union muss in den nächsten Tagen und Wochen ihre grundsätzlichen Linien klären. Es geht nicht darum, nur schnell einen Kanzlerkandidaten zu benennen. Wichtiger ist zu klären, mit welchen programmatischen und geistigen Grundüberzeugungen die Union Deutschland in das nächste Jahrzehnt führen will.“ Das Wort „grundlegende Neuaufstellung“ hört sich vielversprechend an. Doch im Laufe des Gesprächs kassiert Söder alle Hoffnungen auf einen Politikwechsel. Es wird nicht eine einzige politische Entscheidung der letzten Jahre genannt, die CDU und CSU in der nächsten Legislaturperiode überprüfen und gegebenenfalls korrigieren wollen. Die „Neuaufstellung“ scheint eher eine verbale Übung zu sein.
Für eine Partei, die in den letzten beiden Jahrzehnten viele Positionen geräumt hat, und die das Land auf lauter Baustellen gesetzt hat, deren Abschluss in immer weitere Ferne rückt, ist das sehr wenig. Die Leute wollen endlich greifbare Resultate der „Rettungen“ und „Wenden“ sehen. Doch Söder verspricht ein „versöhnendes Konzept für die Zukunft“, wie es an einer Stelle heißt. Er bewegt sich in einem Raum jenseits aller konkreten Positionen. In einem metapolitischen Raum, in dem es keine harten Entscheidungsfragen gibt. Hier kann das Gegensätzlichste „versöhnt“ werden. Söders Neuaufstellung ist eher ein Werbespot, um die größtmögliche Wählerschaft zu erreichen. Und fürs Polit-Marketing hat Söder recht: Es ist unklug, irgendeine Abwendung von Merkels Politik zu signalisieren (weil beim Marketing überhaupt jede Abwendung kontraproduktiv ist).
In der entsprechenden Passage des Interviews sagt Söder: „Wer glaubt, dass ein Anti-Merkel-Wahlkampf zum Erfolg führen könnte, der irrt. Ein Bruch mit der eigenen Vergangenheit führt am Ende immer zum Bruch mit sich selbst. Für die Wähler wird man so nicht attraktiver. Die CDU von heute ist auch eine andere Partei als vor 20 Jahren. Es muss also möglich sein, auf dem bisher Erreichten Neues zu entwickeln, und ein versöhnendes Konzept für die Zukunft zu beschreiben.“ Das ist eine bizarre Argumentation. Denn die eigene Vergangenheit von CDU/CSU reicht ja weiter zurück als bis zu Merkel. Wer nur an Merkel weiter anschließen will, bekräftigt daher den Bruch, den ihre Politik bedeutet: den Bruch der CDU/CSU mit sich selbst. Söders Politik beruht also darauf, die Geschichte und Identität der CDU/CSU vor Merkel als Grundlage zu verneinen – sie sogar völlig zu löschen. Sie wird gar nicht mehr erwähnt. Da steht es: Die CDU/CSU ist „eine andere Partei als vor 20 Jahren“.

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Die FAZ-Redaktion mischt mit – Am 14.Februar, mitten in der CDU-Ratlosigkeit über Kurs und Personal, fand im Berliner „Ballhaus“ eine Veranstaltung mit Friedrich Merz statt. In der FAZ (15.Februar) berichtete Julia Löhr über die Veranstaltung, und zwar durchaus sachlich. Die Bemerkung von Merz, dass es reiner Zufall sei, dass die Sturmtiefs, die gerade über Deutschland ziehen, weibliche Namen tragen, wird von Löhr nicht gleich skandalisiert. Und dem bösen Merz-Wort vom „Gesindel“ der AfD wird der Widerspruch von Alexander Gauland gegenübergestellt. Alles gut also? Aber da ist die merkwürdige Überschrift des FAZ-Artikels. Sie lautet „Ein Land vor unserer Zeit“. Die Überschrift ist in keiner Weise durch den Inhalt des Berichts gedeckt. Es handelt sich um eine Bewertung, die von außen dem Text übergestülpt ist. Wer ein bisschen mit dem Zeitungs-Machen vertraut ist, weiß, dass Überschriften häufig von Redaktionen nachträglich und ohne Rücksprache mit dem Autor eingesetzt werden. Und dann blättert man weiter in derselben FAZ und da taucht sie noch einmal auf, die Formel „Ein Land von gestern“ – in einem Kommentar von Helene Bubrowski. Der Kommentar bezieht sich auch auf die Veranstaltung mit Friedrich Merz, aber der Kommentar behandelt einzig und allein die Bemerkung von Merz über die Frauennamen von Sturmtiefs. Bubrowski erweckt hier den Eindruck, Merz habe sich damit über die Frauen lustig gemacht – was seine Worte überhaupt nicht hergeben. Aber die Autorin verfolgt hier sichtlich ihre eigene Agenda. Sie will Merz (und die gesamte Versammlung im „Ballhaus“) als „Welt von gestern“ präsentieren und damit die CDU an zwei Linien spalten: „Frauen gegen Männer“ und „Neue Welt gegen alte Welt“. Offenbar laufen in der Redaktion der FAZ schon Positionskämpfe um die Parteienlandschaft der Post-Merkel-Ära. Die Formel „Ein Land von gestern“ wird noch häufiger auftauchen. Mit ihr will man allen Versuchen, die Irrwege der Merkeljahre zu korrigieren, ein „gestern“ aufkleben.

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Ein Fazit

Wir befinden uns in einer Übergangszeit. Und in gewisser Weise in einer Generaldebatte – allerdings einer unklaren und eher unbewussten Generaldebatte. In dieser Debatte geht es um mehr als die Krise einzelner Parteien. Es geht darum, ob die Fixierung auf eine „Mitte“, die alle größeren Entscheidungen aus einem übergreifenden Konsens heraus entwickeln will, noch haltbar ist. Deutschland braucht eine politische Mehrheit, die sich was traut. Angesichts der Anpassungszwänge, vor denen dies Land steht, ist es falsch, jegliche Ausübung von Mehrheitsmacht zu tabuisieren. Es gibt Zeiten, in denen Entscheidungspflichten wichtiger sind als die Konsenspflichten. Vor diesen Zeiten steht Deutschland. In diesem Sinne wird es hierzulande „machtpolitischer“ zugehen. Aber diese Machtpolitik wird aus politischer Verantwortung geschehen, und nicht ein Ausdruck von persönlicher Willkür und Machtgier sein.

Dieser Wandel wird wohl nicht sofort eintreten, aber es gibt gute Gründe, dass dies im Laufe des nun beginnenden Jahrzehnts geschehen wird. Auf kurze Sicht muss man zunächst skeptisch sein. Das spürbare Ende der Ära Merkel wird zu einer Übergangszeit führen, in der sich Öffnungen ergeben („windows of opportunity“), um eine andere Politik zu beginnen und dem Bann der „Mitte“ zu entkommen. Aber diese Öffnungen werden klein und kurz sein. Der Mitte-Komplex, zu dem auch die Massenmedien gehören, wird seine Muskeln spielen lassen und mit allen Mitteln versuchen, seine Macht zu behaupten.Deshalb ist auf die kleine Öffnung, die die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen darstellte, sofort eine so unerbittliche und konzertierte Reaktion erfolgt. Je hilfloser die Mitte wird, umso mehr zeigt sie ihr hässliches, aggressives Gesicht. Es ist daher vor allem ein (Selbst-)Ablenkungsmanöver, wenn das politische Geschehen in Deutschland unter die Devise „Hauptschlag gegen die Bedrohung von rechts“ gestellt wird.

Umso wichtiger ist es für die Opposition, die Sach-Probleme und dringenden Entscheidungen des Landes in den Vordergrund zu stellen.