5. Mai 2020

Ist Deutschland auf dem Weg zurück in die Normalität? Geht es langsam, aber sicher in die richtige Richtung? Ist die „schrittweise Lockerung“ das richtige Verfahren, um aus dem Ausnahmezustand herauszukommen? Nein, dreimal Nein. Denn der Beschluss, der eine bespiellose Stilllegung des Landes bewirkte und wesentliche Teile des Grundgesetzes außer Kraft setzte, geht auf eine Prioritätsentscheidung zurück: Angesichts der Corona-Pandemie sollte der Schutz von Leib und Leiben absoluten Vorrang haben. Demgegenüber sollten alle anderen Rechte und Errungenschaften des Landes zurückstehen. Die Stilllegung des wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Lebens geht auf diese Priorität der „Lebensrettung“ zurück. „Leben“ wurde damit auf das physische Überleben reduziert.
Um diese in der Geschichte der Bundesrepublik einmalige Stilllegung zu beenden, muss deshalb die Prioritätsentscheidung „Lebensrettung über alles“ zurückgenommen werden. Es muss ausdrücklich von Parlament und Regierung erklärt werden, dass von nun an die verfassungsmäßige Ordnung in Deutschland wieder gilt, und dass jeder sich wieder auf sie berufen kann.
Damit ist nicht gesagt, dass der „Lockdown“-Beschluss von Anfang an falsch war. Angesichts einer zunächst völlig ungeklärten Gefährdungslage war er vertretbar. Aber inzwischen ist eine gewisse Einhegung der Gefahr gegeben, während aber nun eine Zerstörung wirtschaftlicher, kultureller und politischer Errungenschaften Deutschlands drohen. Wir haben also eine neue Lage, die Priorität muss ab sofort auf der Sicherung der – von der Verfassung geschützten – Normalität der Bundesrepublik liegen. Das bedeutet nicht, dass es überhaupt keine Schutzmaßnahmen gegen das Virus mehr geben soll. Aber diese Maßnahmen müssen sich nun einfügen in die Normalität dieses Landes. Sie dürfen nicht mit einer generellen „Gefährlichkeit“ oder „Ungewissheit“ der Lage begründet werden, sondern müssen als einzelne Maßnahmen ihre Effizienz nachweisen und auf die regionale, örtliche Lage zugeschnitten sein.
Überhaupt ist eine „schrittweise“ Beendigung eines Ausnahmezustands ein Widerspruch in sich. Auch im Kriegsfall oder im Fall großer Naturkatstrophen kann der Ausnahmezustand nur beendet werden, wenn die Prioritätsentscheidung, die ihm zugrunde liegt, ohne Wenn und Aber aufgehoben wird. Geschieht das nicht, könnte jedem Schritt zum Normalbetrieb sofort wieder der Boden entzogen werden – schon die vage Beschwörung, dass „der Sieg“ noch nicht erreicht sei, dass neue Gefahren und verheerende Rückfälle drohen, würde dafür genügen. Genau das erleben wir gegenwärtig: Kaum wird eine größere Freigabe vorgeschlagen, spricht jemand den Keulensatz „Die Zahl der Toten könnte wieder steigen“. Und schon herrscht betretenes Schweigen.

◊◊◊

Es gibt gegenwärtig so etwas wie eine schleichende Verlängerung des Ausnahmezustandes. Seit einigen Wochen ist zu beobachten, wie die anfänglichen Kriterien, die der Öffentlichkeit ein baldiges Ende der Zwangsstillegung in Aussicht stellten, verändert wurden. Und sie wurden verändert, ohne dies ausdrücklich zu erklären und zu begründen. So wurden zum Beispiel die Kriterien, die ein untragbares Risiko bezeichnen, verwässert: Mitte März hieß es, dass der Ausnahmezustand andauern müsste, solange die Infektionsrate „größer als 1“ ist. Als sie schon im Sinken begriffen war, hieß es, man erwarte noch vor Ostern „die große Infektions-Welle“. Diese ist ausgeblieben. Die Infektionsrate liegt schon seit einiger Zeit unter 1. Doch nun wird eine ganz neue Bedingung für die Rückkehr zur Normalität genannt: Der Ausnahmezustand soll solange dauern, bis ein effizienter und sicherer Impfstoff gefunden ist und die Bevölkerung weitgehend durchgeimpft ist. Damit ist der Ausnahmezustand bis weit ins Jahr 2021 – mindestens – vorprogrammiert. Zugleich wird auch angedeutet, dass das Corvid 19-Virus neben der Lunge auch andere Organe angreifen könnte und daher seine Bedrohlichkeit noch viel größer sei – dass die Lage auf jeden Fall ungewisser sei. Der Präsident des Robert-Koch-Instituts erklärte am 17. April, Deutschland befände sich erst am Anfang der Epidemie, nicht in der Mitte, und schon gar nicht am Ende. So wird die Stabilisierung der Lage, die tatsächlich zu beobachten ist, kleingeredet. Wer sich angestrengt hat, wer Opfer gebracht hat, sieht sich getäuscht: Das Ende des Ausnahmezustandes rückt in eine immer weitere Ferne.   
Und zugleich fällt ein Schweigen auf. Die wirtschaftlichen Verluste werden nicht wirklich ernst genommen. Man nennt Zahlen, man zieht große Vergleiche. Größter Wirtschaftseinbruch seit dem 2. Weltkrieg. Eine niemals zuvor erreichte Zahl von Betrieben und Beschäftigten in Kurzarbeit. Bald drohen Höchstzahlen bei Firmen-Insolvenzen und Arbeitslosen. Die Staatsschulden auf dem Niveau der Schulden nach den beiden Weltkriegen. Aber wird diese Gefahr, die die Fähigkeit zur Wertschöpfung nachhaltig bedroht, wirklich in die Waagschale gelegt? Nein, denn noch streitet man allenfalls darum, ob „die Erholung“ 2021 oder 2022 erfolgt. Alles wird nur als Konjunkturproblem verbucht. Unsere Wirtschaft wird nur als eine Art „Zahlungsstrom“ angesehen, den man zwischenzeitlich auch mit dem Hineinpumpen von zusätzlichem Geld am Laufen halten kann. Dabei gibt es Beispiele genug, wo Länder ihre Industrien dadurch verloren haben, dass sie sie „eine Weile“ stilllegten. Und Gleiches ließe sich natürlich auch von den kulturellen Einrichtungen, von Kunst und Wissenschaft sagen. Auch hier stehen die kreativen Fähigkeiten (und die „aufnehmenden“ Fähigkeiten des Publikums) auf dem Spiel. Und schließlich das politische Leben: Liegt der Demokratie nicht die Grundüberzeugung zu Grunde, dass viele Stimmen und eine lebendiges Hin und Her, der politischen Entscheidungsfindung gut tut – weil es ein Suchverfahren ist und die Wahrheit nicht schon von vornherein feststeht?  

◊◊◊

Vor diesem Hintergrund ist die Leichtigkeit erstaunlich, mit der in Deutschland der Satz „Wir bleiben zu Hause“ die Macht erobert hat. Und erschreckend ist, wie weitgehend Berichte über die Corona-Opfer die Berichte über massenhafte Existenzvernichtungen im wirtschaftlichen und kulturellen Leben in den Hintergrund drängen konnten. In diesem Bereich blieben die Zerstörungen weitgehend abstrakt, ein „Geldproblem“, eine „Privatsache“. Dennoch rumort es nun im Lande, und diese Unruhe wird zunehmen. Die deutsche Öffentlichkeit wird in den nächsten Wochen und Monaten Stück um Stück gewahr werden, dass das dicke Ende der Corona-Krise noch kommt, aber nicht in dem Sinn, dass nun das Virus eine neue Gefährlichkeit zeigen wird. Eher wird deutlich werden, dass man den Normalbetrieb eines Landes nicht ohne immense Opfer und Dauerschäden stilllegen kann. Wir haben schon jetzt mehr als ein konjunkturelles Zwischentief. Bald werden die Konkurse von Betrieben, Läden, Gaststätten nicht mehr die Ausnahme sein. Sie werden das Straßenbild prägen, und die schnell steigenden Arbeitslosenzahlen werden unsere Alltagsgespräche im Bekannten- und Familienkreis bestimmen. Und wer wird dann noch einfach „das Corona-Virus“ für die Opfer haftbar machen, wo doch nicht die Infizierten in den Betrieben fehlen, sondern die politischen Zwangsschließungen den Konkurs herbeiführen.
Dann wird man sich veranlasst sehen, noch einmal neu über den Wert der Normalität nachzudenken. Und mancher, der jetzt noch überzeugt ist, dass die „Entschleunigung“ des Landes und die „Rückbesinnung der Menschen auf sich selbst“ etwas Gutes ist, wird nachdenklich werden.  
Die Texte der April-Ausgabe von „Mein Monat“ befassen sich nicht hauptsächlich mit der Betrachtung der Corona-Pandemie, sondern mit der Bedeutung der Normalität. Sie versuchen zu zeigen, wie komplex und voraussetzungsvoll die Normalität unserer modernen Welt ist. Wie wenig selbstverständlich sie ist, und wie richtig es ist, dass diese Normalität unter dem hohen rechtlichen Schutz der Verfassung steht. Die Texte befassen sich auch mit Gedankengängen, die der Geringschätzung dieser Normalität zugrunde liegen, und die man jetzt in der Corona-Krise häufig hört. Das Raunen über globale „Menschheitskrisen“ und die Beschwörung einer „großen Transformation“ hat in bestimmten sozialen Milieus schon in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten stark zugenommen. Der jetzige, nicht enden wollende Ausnahmezustand, führt drastisch vor Augen, was wir verlieren werden, wenn diese Strömung wirklich in Deutschland (und anderen Ländern) ihre Umbaupläne umsetzen sollten. Die Krise führt ja vor Augen, auf welchem Wege so etwas sich tatsächlich zur Realität werden kann.