Es genügt nicht, die Maßlosigkeit von „Weltkrisen“ und „Weltrettungen“ anzuprangern. Es gibt eine weitere Aufgabe der Aufklärung: Wir müssen begreifen, dass in der gegenwärtigen Periode der Neuzeit große Innovationssprünge nicht zu erwarten sind.  

Das Maß des Veränderbaren

31. August 2020

Die Neigung, begrenzte Probleme ins Grundsätzliche zu steigern, kann dort gedeihen, wo die erreichte Differenzierung und Komplexität eines Landes nicht mehr erfasst und geachtet wird. Das kann man in der Corona-Krise sehen, und das lässt sich auch bei den anderen politischen „Großthemen“ der letzten Jahre und Jahrzehnte beobachten: Ein singuläres Ereignis (der Fukushima-Unfall) führte in Deutschland zum Kernenergie-Ausstieg. In der Schuldenkrise wurde die Griechenland-Rettung ohne Grund zu einer Frage von „Krieg oder Frieden“ überhöht. Angesichts des zunehmenden Einwanderungsdrucks an der Süd-Grenze Europas wurde der gesamte Süden zu einem Fluchtgebiet erklärt, in dem ein Überleben nicht mehr möglich sei. Aus einem begrenzten Klimawandel wurde eine akute Weltklimakrise gemacht, die einen Verzicht auf alle fossilen Energieträger erforderlich machen sollte – ohne Rücksicht auf deren tragende Rolle in Produktion, Verkehr und Alltagsleben.
Und nun der Anti-Rassismus: Aus der komplexen Entstehungsgeschichte der Neuzeit, bei der Europa und Nordamerika eine wesentliche Rolle spielten, will die Anti-Rassismus-Kampagne eine reine Unterdrückungs- und Ausbeutungsgeschichte machen. Man will die Namen der Personen und Nationen, die den Weg in die Neuzeit bahnten, aus Geschichtsbüchern und von Straßenschildern löschen. Damit wird überhaupt die langsame Entwicklungskraft der Geschichte aus dem Bewusstsein der Menschen getilgt – um an ihre Stelle eine „Zukunftspolitik“ zu setzen: Diese Zukunft wird einfach neu „erfunden“ oder „geschaffen“ – von einer Art „Schöpferklasse“, die die wunderbare Fähigkeit hat, alle bisherige Geschichte zu beenden und die Weltgeschichte ganz neu beginnen zu lassen.
Wer überall nur Rassismus sieht, will von realen Entwicklungsständen und -aufgaben nichts wissen. Er will auch von den Entwicklungsunterschieden in der Welt nichts wissen. Um diese Ignoranz zu verdecken (auch vor sich selber) hat er sich ein Beschwörungs-Wort zurechtgelegt, an das er ganz fest glaubt: die „große Transformation“. 

Über das „Homeoffice“ und die Bedeutung von „Präsenz“

Zum Schöpfungs-Wahn der Gegenwart gehört nicht nur Verkennung der Komplexität der bisher entwickelten Welt, sondern auch eine erstaunliche Naivität der „ganz neuen“ Lösungen. Ein Beispiel dafür ist das „Home-Office“, das – angesichts der Corona-Epidemie, aber auch weit darüber hinaus – zum Grundelement einer neuen, weniger krisenanfälligen Arbeits- und Bildungsorganisation werden soll. Digitale Informations- und Kommunikationssysteme sollen dabei eine Schlüsselrolle haben. Zur Erinnerung: Das Schlüsselelement, das bisher die Geschichte der Neuzeit mit ihren wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Errungenschaften begleitet hat, war die „Präsenz“ der gegenständlichen Menschen in einer gegenständlichen Welt. Diese Präsenz war die Grundlage für die Aufwertung von Arbeit und industriellem Kapital, für eine weltbezogene Forschung und Bildung, für ein fest eingerichteten Staatswesen zur Sicherung von Gewaltmonopol, technischer Infrastruktur und Sozialfonds. Erst die massenhafte Präsenz von Bürgertum und Arbeiterschaft machte auch eine wirklich repräsentative Demokratie unverzichtbar.
Allerdings ist es nicht ganz leicht, die Wirkungsweise von Präsenz zu erklären. Sie wirkt oft mit unsichtbarer Hand auf subtile Weise, und man merkt ihre Bedeutung erst, wenn sie fehlt. So stellt man jetzt, wo der Schulunterricht auf „Homeoffice“ und mediale, digitalisierte Vermittlung umgestellt wurde, fest, was dadurch alles im Bildungsprozess fehlt. So ist es kein Wunder, dass es eine heftige Diskussion über „Digitalisierung“ und „Präsenz“ gibt, nicht nur im Bildungswesen, sondern auch in der Büro- und Fabrikorganisation. Und natürlich gibt es unüberhörbare Einsprüche aus den verschiedensten kulturellen Aktivitäten – Musik, Theater, Ausstellungen, Kino, Sport, Gastronomie, Tourismus. Sie alle verweisen darauf, dass die entwickelten Präsenz-Formen kultureller Erfahrungen und Ereignisse nicht durch die medialen Reproduktionen ersetzt werden können.
Wer behauptet, die aktuelle Krise würde der Digitalisierung der Welt „definitiv“ zum Durchbruch verhelfen, verrät eine sehr naive, simple Vorstellung von der bereits gewachsenen modernen Welt. Die „großen Lösungen“, die im Namen einer ganz neuen technischen Welt vorgeschlagen werden, kommen dabei recht alten Lösungen sehr nah. Sie sind eine neo-autoritäre Kombination von „zu klein“ und „zu groß“: Das „Homeoffice“ lässt die Hausarbeit wieder aufleben und damit den „Kleinbürger“, während die Vernetzung die Tendenz hat, die meisten Fäden bei einigen wenigen Machtpositionen zusammenlaufen zu lassen. Die Corona-Krise hat gezeigt, wie leicht es war, einige wenige Bestimmer als „Sender“ zu installieren, während die anderen auf das Zuhören und „Zusammenhalten“ verwiesen waren.
Dagegen gibt es aufklärerischen Widerspruch, zum Beispiel zur Situation an den Schulen. In einem Leitartikel in der FAZ vom 29.8.2020 vertritt Heike Schmoll unter der Überschrift „vormoderne Verhältnisse“ eine völlig entgegengesetzte Sicht der durch den Corona-Ausnahmezustand veränderten Schule:
„Corona hat die Schule in nahezu vormoderne Verhältnisse zurückversetzt. Das ist die ebenso ernüchternde wie zutreffende Bilanz des Berliner Bildungshistorikers Heinz-Elmar Tenorth, der alle Errungenschaften der vergangenen 200 Jahre aufgelöst sieht: die universale Beschulung, die einheitliche Form von Schule und Unterricht, sowie von individuellem Lernen im sozialen Kontext. Stattdessen wurden die Nachteile und Vorzüge der sozialen Herkunft wie in feudalen Verhältnissen wieder erzeugt, als Unterricht Recht und Pflicht der Eltern war, die für private Beschulung oder einen Hauslehrer sorgen konnten.“  

Der Mythos der rasenden Innovation

Am 13. August erhielt ich eine Einladung zu einem „Webtalk“ der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung mit dem Titel „Aus Krisen für die Zukunft lernen – Corona als Katalysator für Innovation und Digitalisierung“. Im begleitenden Text heißt es:
„Während der vergangenen Monate haben sich zahlreiche Prozesse in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik in einem rasanten Tempo gewandelt. Eine Rückkehr zum Status quo ante Corona erscheint in vielen Lebensbereichen nunmehr undenkbar. So sind beispielsweise die im beruflichen und privaten Leben eingesetzten digitalen Instrumente inzwischen zum festen Bestandteil unseres Alltags geworden. In dieser Veranstaltung wollen wir uns auf die während der Corona-Pandemie gewonnenen Fertigkeiten und Erfahrungen fokussieren.“
Dieser Beitrag, und andere mehr, haben mir klar gemacht, dass es nicht nur eine leichtsinnige Abschreibung der gewachsenen Bestände von Wirtschaft, Kultur und Staat gibt, sondern auch einen leichtfertigen Glauben an einen ständigen und sich immer weiter beschleunigenden technischen Fortschritt. Man tut so, als gäbe es eine Art „Innovations-Automatismus“ der Moderne, der ständig immer neue und grundlegende Innovationen ausspukt. Man müsse nur mutig die sogenannten „alten Industrien“ einreißen und Platz für das neue schaffen.
Wenn man das, was die Verantwortlichen der Friedrich-Naumann-Stiftung da aufgeschrieben, ernst nimmt, dann müsste man geradezu begeistert über den Lock down sein. Wer einen Betrieb hat, wo viele Leute in geschlossenen Räumen zusammenarbeiten müssen (die Großschlachtereien sind nur ein Beispiel), sollte das als „alte Industrie“ schließen? Sollen unsere Lebensmittel nur noch handwerklich hergestellt werden? Wer ein großes Geschäft, Restaurant, Hotel, Club, Stadion hat, dessen Auslastung durch die Corona-Auflagen extrem erschwert wird, sind das alles Auslaufmodelle? Sollen wir zu Hause bleiben und die Welterfahrung fertig verpackt dorthin geliefert bekommen? Kein Zurück zum „Status quo ante“ muss man so übersetzen: Bloß nicht zurück zu den umständlichen Zeiten, wo man sich an andere Orte bewegen musste und sich alle möglichen, nicht vorhersehbaren Erfahrungen aussetzen musste.
Aus den Sätzen, mit denen die Leute von der Friedrich-Naumann-Stiftung die Zukunfts-Debatte orientieren (neudeutsch „framen“) wollen, kann man sehen, dass es heute offenbar eine Tendenz im Liberalismus gibt, die ihn zur Verabschiedung des bürgerlichen Daseins führen. Es gibt also nicht nur eine technokratische Linke, die das Bürgertum und die Industrie-Arbeiter im Zuge der „wissenschaftlich-technischen Revolution“ auf eine bloß ausführende Rolle reduzieren wollen. Sondern es gibt inzwischen offenbar auch einen technokratischen Liberalismus, der sich als Vertreter der Digitalisierungs-Milieus sieht, die eifrig an einer schleichenden Enteignung und Verdrängung von Bürgertum und Arbeiterschaft arbeiten.

Zur modernen Welt gehören langsame Entwicklungsperioden

So zwingt die aktuelle Krise dazu, die Komplexität der modernen Welt besser zu verstehen. Zu dieser Komplexität gehört, dass es in der Moderne kein gleichförmiges oder sich ständig beschleunigendes Tempo der Innovationen gibt. Das gilt für die institutionelle Ordnung, für die wirtschaftliche Landschaft mit ihren Unternehmen und Märkten, für die technische und wissenschaftliche Entwicklung. Gerade die Technikgeschichte zeigt, dass sich in der Moderne Perioden, in denen sich große Umwälzungen und grundlegende Neuerungen häufen, mit Perioden abwechseln, in denen es keine großen Sprünge bei Techniken, Produkten und Branchen gibt. Es gibt Phasen, in denen es große Entdeckungen von Neuland gibt – neue,Ressourcen, neue Handlungsmöglichkeiten, neue Produktivitätsgewinne. Die Jahre des „Wirtschaftswunders“, die es in den ersten drei Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg in vielen Ländern gab, sind dafür ein Beispiel. Aber es gibt auch längere Phasen, in denen die Zeit solche Fortschritte nicht hergibt. In dieser Phase sind nur relativ kleine Lösungen zu haben. Und hier kommt ein wichtiger Punkt: Diese Jahre der Langsamkeit (relativer Stagnation) sind keine schlimmen Jahre, denn das erreichte Niveau kann ja fortgeführt werden. Allein die Wiederholung dieses Niveaus ist schon eine große, täglich aufs Neue erbrachte Leistung. Ein Land und seine Bürger können auch auf diese Perioden der modernen Geschichte stolz sein. Sie müssen sich aber über diese Grundbedingung ihrer Zeit im Klaren sein. Das heißt, sie dürfen nicht leichtsinnig herkömmliche Produkte, Herstellungsverfahren, Betriebe abschreiben – denn sie dürfen nicht erwarten, dass Innovationen, die an ihre Stelle treten könnten, sich automatisch einstellen. Auch darf die Führung eines Landes nicht glauben, dass sie die Innovationen erzwingen kann, indem sie den Menschen ihre bisherigen Mittel wegnimmt und ihnen so den Boden unter den Füßen wegzieht. Im Gegenteil muss in solchen Perioden „das Alte“ besonders sorgfältig gehütet werden.
Das hat eine wirtschaftspolitische Konsequenz: Man muss in Zeiten, in denen die Produktivität der Wirtschaft keine großen Fortschritte macht, die Lasten, die man ihr in starken Wachstumsphasen aufgebürdet hat, wieder abnehmen. Es geht dabei nicht nur um Steuern und Bürokratie (im Sinne von Dokumentationspflichten), sondern um Sozial- und Umweltauflagen, die die Produktivität der Betriebe belasten und herkömmliche Arbeitsformen dann überlasten. Oft werden solche Auflagen benutzt, um technologische Neuerungen zu erzwingen („Produktivitätspeitsche“). Das mag in manchen Perioden funktionieren, wenn die entsprechenden Innovationen erreichbar sind. Wenn das nicht der Fall ist, wirken die Auflagen ruinös.
Deshalb ist es so wichtig, dass sich jedes Land wirklich mit seiner Lage und der Eigenart der Entwicklungsperiode, in der sich die moderne Welt als Ganzes oder einzelne Weltregionen befinden, befasst.  

Warum man davon ausgehen sollte, dass unsere Zeit eine „langsame Zeit“ ist

Vieles spricht dafür, dass Deutschland (und viele andere Länder) sich seit einiger Zeit in einer solchen Phase der Moderne befinden. Die Produktivitätsfortschritte sind gering, viele Branchen sind in ihren Produkten und Herstellungsverfahren weit ausgereift, zum Beispiel beim Automobil mit Verbrennungsmotor. Aber das bedeutet nicht, dass die Leistungen dieses Automobils deshalb weniger wertvoll und irgendwie „langweilig“ wären. Man muss sich nur von zu hohen Erwartungen frei machen.
Insgesamt kommt es darauf an, dass sich Deutschland von falschen Erwartungen an den Gang der Welt und seine Rolle befreitet. Dazu gehört auch, dass im politischen Wettbewerb nicht immer wieder versucht wird, mit großen Aufbrüchen und Geländegewinnen zur Macht zu kommen. Die Opposition gegen den herrschenden Mainstream wird nur erfolgreich sein können, wenn sie ein anderes Bild unserer Lage entfaltet. Wenn sie eine Kraft in der Ernüchterung dieser Nation wird. Das ist eine eigenständige, erklärende Aufgabe, die sich nicht aus der Polemik gegen die Regierung ableiten lässt.
Das „Programm“, das hier als Ausweg anvisiert wird, ist kein radikales Programm. Es versucht nicht, den Extremismus der „größten Krisen“ und der „größten Lösungen“ noch zu überbieten. Wenn man wieder an der gewachsenen Kontinuität der Moderne anknüpfen will, sollte man die angeblichen drohenden Katastrophen entdramatisieren. Man sollte aber auch die angeblich griffbereiten „großen Lösungen“ entdramatisieren. Je näher die vielzitierten „Innovationen“ betrachtet werden, umso mehr zeigen sie ihre Grenzen. Auch deshalb gibt es in diesem Herbst 2020 ein Gefühl der Aussichtslosigkeit und Vergeblichkeit. Die Menschen sehen das immer häufigere Versagen bei Alltagsaufgaben, und es regt sich der Verdacht, dass die Regierenden sich mit den falschen Dingen befassen. Nicht selten löst das Versagen Erstaunen und Erschrecken aus. Oft sieht man auch resigniertes Schulterzucken. Aufbruchstimmung sieht anders aus. Wir befinden uns in einer Zeit der Ernüchterung, die in Deutschland jetzt stattfindet und die längere Zeit dauern kann.
Zu dieser Ernüchterung trägt aber auch das „langsame“ Merkmal unserer Zeit bei, das nicht von den Regierenden verursacht wurde, und das auch bei einem Regierungswechsel fortbestehen wird. Es hat mit dem Gang der modernen Entwicklung selber zu tun.

◊◊◊

Aber jetzt, angesichts einer Regierung, die mit der Idee liebäugelt, die Corona-Stilllegungen als „Chance“ zu verbuchen und als „Transformations-Peitsche“ zu benutzen, ist es besonders wichtig, dass das Land den ganzen Ernst seiner Lage übersieht. Angesichts des Fehlens eines großen Auswegs müssen alle Zusatzkosten, Auflagen und Stilllegungen, die in den vergangenen, ertragreichen Jahren beschlossen wurden, auf den Prüfstand. Sie passen nur für ein Land, das einen „großen Sprung“ nach vorn vor sich hat. Sie passen nicht für Deutschland.

(bisher unveröffentlicht)