Wenn im Namen einer vagen „Schutzbedürftigkeit“ alles stillgestellt wird, kann von Freiheit nicht mehr die Rede sein. Die wuchernde Corona-Politik kennt keine Selbstständigkeit der Gesellschaft mehr.

Sicherheit gegen Freiheit? – Das ist ein schlechter Tausch!

17. Dezember 2020

Ohne Zweifel ist der Schutz der Bürger die grundlegende Aufgabe, die den Staat als besondere Institution, ausgestattet mit Durchgriffsrechten und Zwangsmitteln, legitimiert. In der Ära der Moderne gibt es zwei Formeln, die dies Geben und Nehmen zwischen der Gesellschaft und dem Staat auf einen kurzen Begriff bringen. Die eine lautet „Schutz gegen Gehorsam“, die andere „Sicherheit gegen Freiheit“. Aber zwischen diesen beiden Formeln gibt es einen gewaltigen Unterschied: Im ersten Fall geht man von bestimmten Schutzleistungen des Staates aus, und verlangt vom Bürger, dass er sich dem Gewaltmonopol des Staates fügt, dass er durch Steuern oder Pflichtdienste zu ihrer Durchführung beiträgt. Das ist oft hart, aber es ist auch begrenzt. „Gehorsam“ ist ein unsympatisches Wort, aber es hat den Vorzug, dass der Gehorsam bestimmte Tätigkeiten des Staates voraussetzt und auf sie beschränkt ist. Der Staat muss liefern, die Gesellschaft muss höchstens dazu beitragen, aber sie muss nicht ihre ganze Selbsttätigkeit in die Waagschale werfen. Genau das ist bei der zweiten Formel „Sicherheit gegen Freiheit“ der Fall. Hier muss ein allgemeiner Zustand – die Sicherheit – mit einer Veränderung der allgemeinen Daseinsweise der Gesellschaft bezahlt werden. Hier wird also ein umfassendes Abhängigkeitsverhältnis begründet, bei dem Staat und Gesellschaft ihre jeweilige Eigenart und Eigenständigkeit verlieren und alles zu einem klebrigen „Wir“ verschwimmt: „Wir alle sind verantwortlich“ lautet eine beliebte Formel unserer Gegenwart, und es wird suggeriert, das sei eine besonders demokratische Formel. Aber eine Demokratie braucht den Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft, damit eine selbständige Willensbildung zu entschiedenem Handeln führen kann. Selbstbewusste Bürger verlangen konkrete Schutzleistungen des Staates, wie die Verfolgung und Bestrafung von Verbrechen und Terror. Wie den Schutz bei Katastrophen, Armut oder Krankheit. Wie die Aufrechterhaltung der Infrastrukturen. Dafür sind sie auch bereit, den Weg frei zu machen und etwas zu geben – aber sie würden nicht ihr selbst gestaltetes, bürgerliches Dasein insgesamt weggeben.  

Was „Corona“ über die heutige Politik verrät

Der Gegensatz dieser beiden politischen Grundformeln ist in der Corona-Politik dieser Tage überdeutlich. Unübersehbar folgt die Corona-Politik der Regierenden der Formel „Sicherheit gegen Freiheit“, wenn sie auf steigende Todeszahlen mit einer pauschalen Einschränkung des wirtschaftlichen, kulturellen und öffentlichen Lebens („Lockdown“) antwortet. Indem sie die allgemeinen Infektionszahlen zur Schlüsselgröße macht (obwohl die Gefahr eines schweren Krankheitsverlaufs bei alten Menschen 500 mal größer ist als bei der Gesamtbevölkerung), stellt sie die Weichen hin zu einer Einschränkung der gesamten Gesellschaft. Und dadurch verursacht sie zusätzliche Zerstörungen und verschärft die Krise.  
Und zugleich gibt es ein eklatantes Versagen dort, wo wirklich ein entschiedenes Durchgreifen gefordert ist, für das der Staat – und nur er – die Legitimation und die Mittel hat. Dies Versagen wird insbesondere in den Alten- und Pflegeheimen sichtbar, wo sich die am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen befinden. Die rapide gestiegene Zahl der Corona-Toten geht weitgehend auf diesen Bereich zurück. Hier findet wirklich ein Kampf auf Leben und Tod gegen das Virus statt. Und hier kann die Formel „Schutz gegen Gehorsam“ als kritischer Maßstab gelten: Was ist dort geschehen, wo der Staat selbst unmittelbar zu schützendem Handeln aufgerufen war und ist? Die Bilanz ist verheerend. Obwohl es vorhersehbar war, dass die zweite Corona-Welle gerade hier viele Opfer fordern könnte, ließ man die Dinge über das ganze Sommerhalbjahr schleifen. Weil man auf die „Gesellschaftssteuerung“ fixiert war, und der Gestus des „Warnens und Mahnens“ den Eitelkeiten und Bequemlichkeiten der Macht entgegenkam.
Wo hingegen die direkte Konfrontation mit dem Virus gefordert ist, ziehen sich die Politiker zurück und haben Angst vor den Härten und bösen Bildern, die hier entstehen könnten. Das ist zum Beispiel beim Schutz bestimmter Objekte und sozialer Gruppen der Fall. Hier muss sich der Staat direkt vor sie stellen, muss Schutzmittel (Masken, Zäune, Wächter) auffahren. Vor allem muss er am Bett der Erkrankten die heilenden oder pflegenden Maßnahmen unmittelbar sicherstellen. Das sind auf der einen Seite Sachmittel, für die eine Sicherheitsreserve angelegt werden muss. Aber noch wichtiger (und schwieriger) ist die Herstellung von Bedingungen, die mehr Menschen dazu veranlassen, den Pflegeberuf zu ergreifen. Hier ist seit Jahren und Jahrzehnten ein zunehmender Notstand bekannt („Pflegenotstand“). aber die Politik schiebt dies heikle Thema seit langem vor sich her.  

Die Freiheitskosten der Politik des billigen Geldes

Die Politik nach dem Prinzip „Sicherheit gegen Freiheit“ ist aber auch deshalb verführerisch, weil man heutzutage bei einem Lockdown kurzfristig suggerieren kann, dass das Opfer der Bürger gar nicht so groß ist. Das liegt am Geld. Die Politik hat ein scheinbar grenzenloses und leicht zu bedienendes Mittel der Geldbeschaffung zur Verfügung: die Gelddruckmaschine der Zentralbanken. So hat die Politik immense Finanzprogramme aufgelegt, die in ihrer Höhe nur mit den Kriegsschulden früherer Zeit vergleichbar sind. Doch damit verschiebt sie die Freiheitskosten für die Sicherheit nur in die Zukunft. Die Schulden lasten auf der Freiheit späterer Generationen.

Die Freiheitslosten der heutigen Gesundheitspolitik

Diese verdeckten Freiheitskosten einer zunehmenden Sicherheitsbedürftigkeit gibt es nicht für die Corona-Pandemie. Sie bestimmen die Entwicklung im gesamten Gesundheits- und Pflegebereich. Hier hat sich die Politik auf wohlklingende und teure Verbesserungen konzentriert, während man die drängenden, harten Probleme liegen ließ. Auch der heutige Bundesgesundheitsminister hat eine extrem teure Reform auf den Weg gebracht: Pflegebedürftige im Heim sollen in Zukunft höchstens noch monatlich 700 Euro für die eigentlichen Pflegekosten zuzahlen, und dieser Eigenanteil soll nach drei Jahren auch noch entfallen und von der Pflegekasse übernommen werden. Das bedeutet eine Art Vollkasko für die Pflegekosten, und das angesichts eines rasch wachsenden Pflegebedarfs wegen der Alterung der Bevölkerung.
Die Kosten (und damit die Verantwortung) werden immer weiter „sozialisiert“: zunächst in die Pflegekasse, und dann, wenn dieser auf Beiträgen beruhende Fonds nicht reicht, in die Staatskasse (an die Allgemeinheit der Steuerzahler). Das wissenschaftliche Institut der Privaten Krankenversicherungen hat berechnet (FAZ, 14. Oktober), dass diese Reform zusammen mit den zu erwartenden Lohnerhöhungen auf Mehrkosten von 16,1 Mrd. Euro bis 2030 für den Steuerzahler hinauslaufen würde – wenn die Beitragssätze zur Pflegeversicherung konstant gehalten werden sollen. Insgesamt würden sich die erforderlichen Steuerzuschüsse für die Pflege dann von 2021 bis 2030 auf 109 Mrd. Euro summieren.
Zu noch höheren Freiheitskosten der sozialen Sicherheit kommt man, wenn man die sogenannte „Nachhaltigkeitslücke“ berechnet. Bei dieser Berechnung wird nicht nur die offen ausgewiesene Verschuldung von Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialversicherungen berücksichtigt, sondern auch die zukünftige Deckungslücke, die bei etablierten Leistungen dadurch entsteht, dass die aktuell geltenden Steuern und Sozialbeiträge zu ihrer Finanzierung nicht reichen. Nach Berechnungen des Forschungszentrums Generationenverträge der Universität Freiburg (Bernd Raffelhüschen) betrug diese Lücke vor Corona 11,9 Billionen Euro und wird nach der zweiten Corona- Welle auf voraussichtlich 13,8 Billionen Euro anwachsen – das sind 401,2 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts (vgl. FAZ 10.November).
Diese Entwicklung ist ein Indiz, dass in der heutigen Politik insgesamt das konkrete Gegenüber von Staat und Gesellschaft – also der Tausch „Schutz gegen Gehorsam“ – weitgehend aufgelöst ist, und dass der Weg nun in eine stark zunehmende „Sicherheitsbedürftigkeit“ führt, die mit immer umfassenderen Eingriffen in die Selbständigkeit und Freiheit der Gesellschaft bezahlt werden muss.

Kann die Corona-Krise zu einem Wendepunkt werden?

In der heillosen Corona-Krisen-Politik wird diese, schon länger dauernde Entwicklung schlagartig überdeutlich. Aber deshalb könnte die Corona-Krise auch einen Wendepunkt markieren, an dem unübersehbar wird, dass diese Entwicklung nicht mehr weitergehen kann. Sie hat ihre Mittel erschöpft. Schon jetzt ist eigentlich klar, dass eine zukunftsfähige Lösung von Pandemie-Krisen immer auf einer Differenzierung zwischen den am stärksten gefährdeten Gruppen und Orten einerseits und den minderschweren Gefahren für die Allgemeinheit beruhen muss. Dass also nicht eine pauschale Lockdown-Politik das Zukunftsmodell ist, sondern eine Verbindung von striktem Eingreifen an einigen Punkten und einem „Leben mit dem Virus“ für den größeren Teil der Gesellschaft. Also keine „Gesellschaftsteuerung“, wie wir sie jetzt erleben, die für die gefährdeten Gruppen zu wenig ist, und für die Allgemeinheit der zu viel.
Nun könnte man einwenden: Es gibt doch die Impfung. Ist das nicht die „große Lösung“, die das Virus definitiv besiegt und aus der Welt schafft. Dann erübrigt sich doch das Differenzieren zwischen hartem Schutz und Tolerierung kleinerer Gefahren. Das ist eine theoretische Möglichkeit, aber praktisch ist es fraglich, ob im Corona-Fall die Impfung wirklich so einen glatten Sieg bringen wird.
Und erst recht ist das fraglich, wenn man bedenkt, dass immer wieder neue Viren auftauchen werden, eventuell sogar in schnellerer Folge. Dann ist es fraglich, ob die Impflösung in jedem Fall funktioniert – und wie lange es dauert, bis jeweils ein sicherer Impfstoff gefunden ist. Auf jeden Fall wird immer wieder neu die Situation auftreten, dass die Menschen über Monate oder Jahre mit einem schwer einzuschätzenden Virus konfrontiert sind. Dann kann man nicht jedes Mal die gesamte Gesellschaft stilllegen. Drei solche heillosen Krisen wie jetzt hintereinander? Unvorstellbar! Die Wertschöpfung der Wirtschaft, die Kultureinrichtungen, das öffentliche Leben, eine Welt verantwortungsfähiger Staaten – alles wäre ruiniert. Im Grunde denken auch viele Anhänger der jetzigen Corona-Politik, dass sie sich nicht wiederholen darf.

(erschienen in meiner Kolumne bei „Tichys Einblick online“ am 18.12.2020)