Im international genutzten Straßennetz Deutschlands sind Nutzungsgebühren auf Dauer unentbehrlich. Mit dem Unsinn einer „Infrastrukturabgabe“ hat das nichts zu tun.

Die Maut ist richtig

Der Plan der großen Koalition, für die Straßennutzung in Deutschland eine kostenpflichtige Vignette einzuführen, ist in der öffentlichen Diskussion. Im Augenblick scheinen die Kritiker die Oberhand zu haben. Die Maut sei rechtswidrig, europafeindlich, bürokratisch, finanziell unergiebig oder der Einstieg in eine neue große Zusatzsteuer – alle möglichen Einwände werden vorgetragen. Wieder einmal ist eine Verhinderungsdiskussion angelaufen. Dabei ist von einer schlichten Tatsache gar nicht mehr die Rede: Die gegenwärtige Finanzierung ist ungerecht. Sie behandelt deutsche und ausländische Autofahrer ungleich. Beide zahlen zwar KFZ-Steuern in ihren Ländern und Spritsteuern dort, wo sie tanken, aber ein deutscher Autofahrer zahlt in vielen anderen Ländern zusätzlich Autobahngebühren. Einem ausländischen Autofahrer bleibt dieser Finanzierungsanteil in Deutschland erspart. Dabei geht es gar nicht nur um Deutschland. Jeder, der in Europa aus einem Land ohne Maut in ein Land mit Maut kommt, zahlt dort pro gefahrenem Straßen-Kilometer mehr als umgekehrt derjenige, der aus einem Land mit Straßengebühren in ein Land ohne solche Gebühren kommt. Es findet also ein stiller Transfer statt, eine Art „Europaabgabe“ für einen Teil der Autofahrer, darunter die Deutschen. Indirekt geben das manche Kritiker des Mautprojekts auch zu – wenn sie fordern, man solle hier aus „europapolitischen Gründen“ doch großzügig sein.

Zugleich wird in einigen juristischen Stellungnahmen der Eindruck erweckt, dass das Projekt rechtswidrig  ist. Es sei mit dem Gleichheitsprinzip des EU-Rechts „prinzipiell nicht vereinbar“, wird mit einer Absolutheit behauptet, die keinen Widerspruch zulässt. Wenn nämlich mit der Einführung der Vignette eine Entlastung bei der deutschen KFZ-Steuer eingeführt würde, käme das ausländischen Autofahrern nicht zu Gute. Folglich seien sie nun die Benachteiligten. Wer so argumentiert, schaut nur auf die einzelne Maßnahme und nicht auf das Gesamtergebnis. Er macht damit jeden Versuch, eine bestehende Ungerechtigkeit zu korrigieren, zunichte – denn jede Maßnahme, die eine Schieflage korrigieren will, ist ganz unvermeidlich einseitig. Das „prinzipielle“ Ablehnen des deutschen Projekts zeigt nur, wie rücksichtslos und gefährlich es ist, wenn in europäischen Dingen ein Verwaltungsformalismus zur Macht kommt.

Aber es gibt auch Einwände gegen die Maut, die wirklich erwogen werden müssen, weil es um die zukünftige Finanzierung der deutschen Verkehrsinfrastruktur geht. Dass hier etwas Elementares nicht stimmt, zeigt der Sanierungsstau bei Straßen und Brücken. Seit längerem gibt es eine Finanzierungslücke, die jedes Jahr um einen Milliardenbetrag weiter zunimmt. Deshalb fordern manche Politiker eine Sondersteuer, einen „Infrastruktur-Soli“, der der Notlage mit zusätzlichen Einnahmen abhelfen soll. Schon wieder eine Sondersteuer? Zu Recht sehen das die meisten Autofahrer und Steuerzahler nicht ein. Sie fragen sich, wo denn das Geld bleibt, das über die KFZ-Steuer und verschiedene Verbrauchssteuern beim Sprit eingenommen wird. Und sie haben nun die Maut in Verdacht, dass sie eine verkappte Infrastruktur-Abgabe ist, die angesichts der Milliardenlücke immer weiter steigen wird. Das wäre in der Tat ein politisches Gaunerstück. Aber soll man wegen dieser Gefahr wirklich auf die Maut verzichten? Besser ist es, beide Anliegen – Gerechtigkeit bei der Maut und nachhaltige Finanzierung der Straßen – auseinander zu halten.

Denn bei der Finanzierung der Straßen gibt es eine weitere Tatsache, die gar nicht mehr erwähnt wird: Ein erheblicher Teil der Mittel aus der KFZ- und Spritsteuer wird nicht für Verkehrskosten aufgewendet, sondern fließt schon seit etliche Jahren in den allgemeinen Staatshaushalt, insbesondere in den Sozialhaushalt. Ein Musterbeispiel dafür ist die „Ökosteuer“, die 1999 eingeführt wurde und deren Mittel (pro Jahr etwa 18 Milliarden Euro) vor allem zur Renten-Finanzierung verwendet werden. „Rasen für die Rente“ hieß diese große Geldverschiebung damals im Volksmund. Nichts lag der damaligen rot-grünen Koalition ferner, als das zusätzliche Geld für die Sanierung von Straßen und Brücken zu verwenden. Wenn daher heute Straßen und Brücken marode sind, dann ist das nicht die Folge einer übermäßigen Nutzung durch PKW- und LKW-Fahrer, wie eine verbreitete Legende behauptet. Es ist vielmehr die Folge einer Umverteilung ihrer Steuern in infrastrukturfremde Bereiche. Die Ausgaben, die „soziale Wärme“ signalisieren, haben die „kalten“ investiven Ausgaben, die ihren Nutzen für die Menschen immer nur indirekt zeigen, in den Hintergrund gedrängt. Der Sozialstaat frisst den Infrastrukturstaat. Es läge genau auf dieser Linie, wenn jetzt, nachdem die Große Koalition neue teure Sozialleistungen beschlossen hat, mit dem Hinweis auf die notleidende Infrastruktur wieder an der Steuerschraube gedreht würde. Eine faire und transparente Lösung geht anders: Die im Verkehrsbereich eingezogen Mittel sollten in diesem Bereich ausgegeben werden. Am besten fängt man gleich mit der Umwidmung der Ökosteuer an. Wenn die Politik weitere soziale Umverteilungen vornehmen will, sollte sie sich nicht an Sondergruppen wie den Autofahrern schadlos halten, sondern es bei den Einkommensteuern versuchen. Dann muss sie denen ins Auge blicken, deren Arbeitserträge sie an andere verteilen will.

Bei der Maut geht es um etwas anderes. Sie ist keine Steuer sondern eine Nutzungsabgabe. Bei vielen öffentlichen Einrichtungen ist es gerecht, dass ein Teil der Kosten je nach Nutzung bezahlt wird. Im Straßenverkehr wird dabei ein Teil am verbrauchten Sprit bemessen werden können und ein anderer Teil eben an den benutzten Strecken – insbesondere angesichts des zunehmenden internationalen Verkehrs. Auch die Fahrkarten der Bundesbahn enthalten einen Kostenanteil „Netz“. Gewiss kann man sich vorstellen, dass in Zukunft eine detailliertere Streckengebühr erhoben wird, aber zunächst bringt schon die Vignette ein Stück mehr Gerechtigkeit – wenn sie, wie vorgesehen, tatsächlich mit einer Entlastung bei der KFZ-Steuer einhergeht. Das Mautprojekt hat daher eine ganz andere Wirkung als eine zusätzliche  Infrastrukturabgabe. Wer diese Steuererhöhung verhindern will, hat Recht, aber er sollte nicht ersatzweise die Maut büßen lassen.

 

(Manuskript vom 29.8.2014, erschienen als Essay in der Tageszeitung „Die Welt“ am 3.9.2014)