12.04.2016

Das Zusammenwirken von Global-Aktivisten und Global-Eliten führt nicht zu einer offeneren Welt, sondern in eine Welt schrankenloser und zugleich exklusiver Macht. 

Idomeni und die neuen Weltbürger

Es war einmal eine Lichtgestalt: der Mensch, der überall zu Hause ist, der den ganzen Erdkreis mit seinem Wissen überblickt und mit seinem guten Willen zu gestalten weiß; aufmerksam für alles Fremde und gewandt im Auftreten. Die Rede ist vom „Weltbürger“. Der kosmopolitische Geist schien sich wohltuend von allem engstirnigen, provinziellen, muffigen Geist abzuheben. Auf ihn wurden große Hoffnungen gesetzt, wenn internationale Konflikte drohten. Mehr noch, er sollte solche Konflikte schon im Ansatz unmöglich machen: Wenn alle Weltbürger sind, gibt es keine Kriege mehr. Der Abstand, der den Weltbürger von den Niederungen der Realpolitik trennte, schien sein besonderer Vorzug zu sein. Der Weltbürger war Idealist und er war stolz darauf.

Wer in diesen Tagen nach Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze blickt, sieht freilich ein anderes Weltbürgertum am Werk. Es geht erstaunlich gewalttätig zu. Da werden Migranten von internationalen „Aktivisten“ zum gewaltsamen Grenzdurchbruch aufgefordert und auf Flugblättern mit detaillierten versorgt. Die vordersten Linien der Grenzstürmer sind mit Steinen bewaffnet und erklären vor laufenden Kameras, dass sie bereit sind, auf Leben und Tod zu kämpfen. Dahinter ist eine ganze Logistik aus Helfern aufgebaut: Man versorgt das Durchbruchsunternehmen in PKWs mit Lebensmitteln, Schutzkleidung, Werkzeug und anderen Hilfsmitteln zum Niederreißen der Grenzzäune. Anwälte und politische Sprecher stehen bereit, um den Aktionen Schutz und Deckung zu geben. Und um die Verantwortung von den Angreifern auf die Verteidiger der Grenze abzuschieben. Sogenannte Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs), die im Namen des „Flüchtlingsschutzes“ auftreten, tun so, als gäbe es hier nur das Rechtsgut der Freizügigkeit, vor dem jeder Grenzzaun zu weichen hat.

Und noch eine Gruppe ist zur Stelle, die sich mit bemerkenswerter Einseitigkeit positioniert: die Medien-Weltbürger. Es genügt ein Blick auf das Bildmaterial, das uns aus Idomeni erreicht, um zu erkennen, dass 95% der Bilder aus der Perspektive der Grenzstürmer aufgenommen sind – so als würde nur dieser Standpunkt die authentische Wahrheit von Idomeni liefern. Weder die Vertreter der Behörden mazedonischer oder griechischer Seite noch die Grenzpolizisten haben in den Medien eine Stimme.

Die Eskalation, die an diesem Grenzpunkt stattfindet, ist kein Spontanereignis. Für die Aktivisten eines neuen Kosmopolitismus ist Idomeni eine Soll-Bruchstelle. Hier soll ein exemplarischer Sieg über die Grenzen dieser Welt erfochten werden. Es wird so getan, als sei dieser Ort der Notausgang aus einer Katastrophe, aber in Wirklichkeit soll er der Aufmarschplatz für eine Weltrevolution sein. Die Migranten dienen als Stoßtrupp. Dass sie bis hierhin gelangt sind, ist nicht nur das Werk von ein paar profitgeilen Schleppern, sondern von einem politischen Schleppermilieu. Die neuen Weltbürger wollen nicht für ein Ideal werben, wie der ältere Kosmopolitismus es tat. Sie fühlen sich überlegen, sie sehen sich als Vertreter eines unaufhaltsamen Trends. Und es sind die Grenzen ihrer europäischen Herkunftsländer, die sie zerstören wollen.

Diese neue Konstellation sollte man in ihrer ganzen Tragweite erkennen: Der weltbürgerliche Anspruch ist wieder da, aber diesmal mit einem Machtanspruch, der imperiale Züge trägt. Die edle Figur des Weltbürgers zeigt auf einmal ein hässliches Gesicht. Wo er jetzt zur Tat schreitet, wird die Welt zur Tabula rasa. Die Enteignung der Völker marschiert. Und die politische Führung Europas hat sich auf ihren jüngsten Gipfeln noch nicht einmal durchringen können, die Verteidigung des exemplarischen Grenzpostens Idomeni ausdrücklich zu bekräftigen.

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Sollbruchstelle Idomeni – In dem Flugblatt, das dem ersten Durchbruchsversuch an der Grenze vorausging (unterschrieben mit „Kommando Norbert Blüm“), war ein regelrechtes Drei-Punkte-Programm: „1. Der Zaun, der vor Ihnen steht, soll Sie in die Irre führen, damit Sie glauben, die Grenze sei geschlossen. Der Zaun endet fünf Kilometer von hier. Danach gibt es keinen Zaun, der sie daran hindern könnte, nach Mazedonien zu reisen. Sie können hier rübergehen (schauen Sie auf die Karte). 2. Wenn Sie sich in kleinen Gruppen bewegen, werden Sie von der mazedonischen Polizei oder der Armee festgenommen und nach Griechenland zurückgebracht. 3. Wenn Sie aber zu Tausenden versuchen gleichzeitig über die Grenze zu kommen, wird die Polizei Sie nicht stoppen können. Lasst uns alle um 14.00 Uhr im Camp (von Idomeni) treffen. Bitte schauen Sie auf die Karte, um den Weg zum Treffpunkt zu sehen.“ Es wird also mit Kalkül zur Massengewalt gegen ein benachbartes Land aufgerufen. Auch wenn keine Schusswaffen mitgeführt werden, kann man das als kriegerische Handlungen einstufen. Gewiss ist diese Aktion nicht repräsentativ für die kuriose Mischung von „Helfern“, die sich inzwischen in Idomeni gesammelt haben. Aber sie alle tragen auf ihre Weise dazu bei, die Belagerung der Grenze zu verstärken und zu verlängern. Auch derjenige, der humanitäre Hilfe leistet, ist verantwortlich dafür, welchen Ort er wählt.

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Mister Sutherland – Wir verabschieden uns nun von den Grenzstürmern und schauen in höhere Gefilde der Gesellschaft. Ganz oben, innerhalb der Führungskräfte, hat sich schon seit etlichen Jahren ein Sonder-Milieu gebildet, das weltumspannende Ambitionen und ein erstaunliches Maß an Verachtung für das eigene Herkommen hat. Am 21.6.2012 berichtete die BBC über das Statement eines Mannes namens Peter Sutherland vor dem britischen House of Lords. Thema war die Migrationspolitik. Mr. Sutherland wird mit dem Ratschlag zitiert, die Europäische Union solle alle Anstrengungen unternehmen, um die Homogenität ihrer Mitgliedsstaaten zu unterminieren. Er sagt wörtlich „unterminieren“ („Do its best to undermine homogeneity“). Er befürwortet also eine Aushebelung der bestehenden Staatsvölker durch die EU und beschreibt dies als Weg zu einer neuen Prosperität Europas. Sutherlands Vision hat mit der herkömmlichen ergänzenden Einwanderungspolitik nichts zu tun. In einem Vortrag vor der London School of Economics (LSE) hat er prognostiziert, dass in Zukunft „nicht Staaten Migranten auswählen würden, sondern Migranten Staaten“. Die Migration macht also das Gesetz, sie usurpiert die Position des Souveräns. Mr. Sutherlands Projekt ist ein Enteignungs-Projekt.

Spricht hier nur ein verrückter Professor? Oh nein. Peter Sutherland war europäischer Wettbewerbskommissar unter Jacques Delors (1985-1989). Er war unter anderem Aufsichtsratschef bei Goldmann Sachs und British Petrol, Generaldirektor der Welthandelsorganisation WTO und UN-Sonderbeauftragter für Migration unter Kofi Annan. Gegenwärtig leitet er – unter anderem – die Internationale Katholische Migrationskommission. Ein Mann für viele Aufgaben, immer auf jenem Global-Level, wo die Grenzen zwischen Politik, Wirtschaft und Kultur ebenso verschwimmen wie die Grenzen zwischen Staaten.

In Sutherlands Projekt gibt es allerdings einen logischen Bruch: Eine grenzüberschreitende Migration ersetzt nicht Homogenität durch Heterogenität, sondern durch eine erweiterte Homogenität. Sie vermischt alles mit allem. Sie rührt in allen Nationen den gleichen globalen Bevölkerungsbrei an. Eine Welt voller Weltbürger ist daher eine ziemlich monotone Veranstaltung. Überhaupt ist die Bewegung von einem Ort zum anderen, der Standort-Wechsel, für sich genommen eine sehr triviale Handlung – wenn man sie mit der Herstellung von Gegenständen und dem Aufbau von Zivilisationen vergleicht. So sind die Makroformeln, mit denen Sutherland Prosperität verspricht, bei näherem Hinsehen banale Formeln, die an Scharlatanerie grenzen. Eine solche Scharlatanerie war dem älteren Weltbürgertum fremd, weil es gar nicht an ein weltweites Durchregieren dachte. Der Weltbürger alter Schule blieb im Grunde ein Reisender zwischen den Welten. Er zehrte von den dort im historisch-langsamen Zeitmaß entwickelten Kulturen, Nationalökonomien und Territorialstaaten. Er bewegte sich auch nicht in einem geschlossenen Milieu und konnte sich deshalb nicht einbilden, dass dies Milieu schon die ganze Welt sei. Der Weltbürger alter Schule blieb eine Ausnahme und war sich dessen bewußt. Das machte ihn erträglich.

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Madame Lagarde – Vor kurzem hat Christine Lagarde einen Vortrag an der Frankfurter Universität (vgl. FAZ vom 6.April) gehalten, der sich mit der internationalen Wirtschaftslage und Finanzpolitik beschäftigte. Zunächst allerdings überbrachte sie der deutschen Bundeskanzlerin folgendes Lob für ihre Migrationspolitik: „Ich kann aus erster Hand den Respekt bezeugen, den Deutschland rund um die Welt für seinen tief humanistischen Ansatz in der Flüchtlingskrise erworben hat.“ Madame Lagarde sagte „aus erster Hand“ und „rund um die Welt“. Mit wem hat sie da eigentlich gesprochen? Wer ist Frau Lagarde, dass sie beanspruchen kann, mit dem ganzen Weltkreis im vertrauten Gespräch zu sein? Diese Sprechweise erinnert an den früher gebräuchlichen Ausdruck „Tout Paris“ („Ganz Paris“). Wenn es damals hieß, „Tout Paris“ sei auf einer Veranstaltung zugegen gewesen, sollte damit zum Ausdruck gebracht werden, dass es ein paar hundert Leute gab, die in Frankreich politisch, wirtschaftlich und kulturell maßgebend waren. Sollte das heute im Weltmaßstab gelten? Sollen wir uns so die Globalisierung vorstellen?

Madame Lagarde jedenfalls gehört, als Generaldirektorin des Internationalen Währungsfonds (IWF), zu einem Rund-um-die-Welt-Milieu, das mit Makro-Formeln die Entwicklung eines jeden Landes maßgeblich zu beeinflussen glaubt. Es ist deshalb nicht überraschend, dass sie die Geldpolitik der EZB positiv bewertet: „Die Negativzinsen sind insgesamt vorteilhaft“. Aber da diese Politik offenbar keine Wirkung zeigt, fordert Lagarde nun zusätzliche Wachstumsimpulse durch die Staatshaushalte, was in den meisten Fällen auf zusätzliche Schulden hinausläuft. Wie selbstverständlich bewegen sich IWF und EZB auf dem Kurs zu einem weltweiten, auf Dauer gestellten Keynsianismus.

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Außenpolitischer Schlamassel – Es ist in diesen Tagen viel von „Zwickmühlen“ die Rede, in die die deutsche Politik geraten ist. Da hat sie der Türkei die Schlüsselgewalt für die Migrationssteuerung übergeben und dann erscheint im Fernsehen eine abfällige Satire über den türkischen Präsidenten. Nun muss die deutsche Regierung einerseits den Türken bei Laune halten, und andererseits muss sie den Eindruck erwecken, sie sei die treue Verteidigerin der Meinungsfreiheit in Deutschland. So etwas nennt man einen Schlamassel.

Und noch eine zweite Zwickmühle ist gebaut, sozusagen in direkter Nachbarschaft zur ersten – am anderen Ufer der Ägäis, in Griechenland. Die Bundesregierung hat einen dreistelligen Milliardenbetrag in die „Rettung“ Griechenlands investiert. Der Erfolg ist ausgeblieben. Nun hat der IWF den deutschen (und europäischen) Rettern folgende Alternative vorgesetzt: Entweder Ihr erlasst den Griechen einen Teil ihrer Schulden oder wir steigen aus den Rettungsprogrammen für das Land aus. Für Deutschland heißt das: Entweder es wird noch teurer oder es muss das Scheitern der bisherigen Rettungskoalition eingestanden werden. Zudem ist Griechenland ein zweiter Schlüsselstaat im Migrationsabkommen zwischen der EU und der Türkei. Bei einer griechischen Staatskrise ist dies Abkommen nicht umsetzbar. Auch da steckt die deutsche Politik in einem hoffnungslosen Schlamassel.

Und man könnte noch eine außenpolitische Zwickmühle anfügen, die ebenfalls in der gleichen Region droht. Es wird immer deutlicher, dass die Krise in Syrien nicht gegen die amtierende Regierung Assad und gegen Russland zu lösen ist, sondern nur mit ihnen. Aber Deutschland hat sich, vor allem durch eine Alles-oder-Nichts-Politik in der Ukraine, in einen strategischen Konflikt mit Russland begeben. Sie kann nicht beides schaffen: eine Grundvertrauen zwischen allen Beteiligten, das für eine syrische Lösung gebraucht wird, und eine einseitige Annäherung der Ukraine an die EU, die einen Grundkonflikt mit Russland immer weiter nährt.

Kaum dass die deutsche Politik die Ära einer neuen, aktiveren Außenpolitik ausgerufen hat, steckt man im Schlamassel. Natürlich könnte man sagen, dass das daran liegt, dass die Welt so schlimm ist. „Die Welt ist aus den Fugen“, ist eine beliebte Generalformel dieser Tage. Aber vielleicht hat es auch etwas mit den überhöhten Ansprüchen der deutschen Außenpolitik zu tun. Sind es nicht allzu hohe, grundsätzliche, kosmopolitische Ansprüche, die in die Zwickmühlen hineinführen? Kommt man wirklich im europäischen Südosten deshalb nicht weiter, weil alle „zu egoistisch“ sind, also zu wenig kosmopolitisch denken? Oder liegt es nicht daran, dass man zu viel kosmopolitisch denkt und damit das Handeln erschwert? Für die Reduzierung der Migrationswelle hat das kleine europäische Teilbündnis auf dem Balkan jedenfalls mehr bewirkt als der große „europäische Weg“ Merkels und Junckers.

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Eine postnationale Welt? – In einer Essaysammlung des Sozialphilosophen Jürgen Habermas, die unter dem Titel „Die postnationale Konstellation“ 1998 erschienen ist, findet sich folgende Passage (Seite 89): „Eine Regulierung der entfesselten Weltgesellschaft erfordert Politiken, die Lasten umverteilen. Das wird nur auf der Grundlage einer bisher fehlenden weltbürgerlichen Solidarität möglich sein, die allerdings eine schwächere Bindungsqualität haben würde als die innerhalb von Nationalstaaten gewachsene staatsbürgerliche Solidarität. Die Weltbevölkerung ist objektiv längst zu einer unfreiwilligen Risikogemeinschaft zusammengeschlossen worden. Nicht ganz unplausibel ist deshalb die Erwartung, dass sich unter diesem Druck jener große, historisch folgenreiche Abstraktionsschub vom lokalen und dynastischen zum nationalen und demokratischen Bewusstsein fortsetzt.“ Habermas sieht hier eine neue „weltbürgerliche Solidarität“ aufkommen. Tatsächlich sind Klima, Schulden oder Migration ja weltweite Themen. Die Frage ist, ob sie sich politisch in einer weltweiten Einheitsform bearbeiten lassen. Habermas bezeichnet diese Einheitsform zwar als „abstrakt“, aber er sieht sie als Teil eines (positiven) welthistorischen Trends zu immer größeren Einheiten. Und hier finden wir auch jene „Aktivisten“ wieder, die am Zaun von Idomeni rütteln: „Institutionelle Innovationen kommen in Gesellschaften, deren politische Eliten überhaupt zu einer solchen Initiative fähig sind, nicht zustande, wenn sie nicht Resonanz und Abstützung in den vorgängig reformierten Wertorientierungen ihrer Bevölkerungen finden. Deshalb sind die ersten Adressaten eines solchen `Projektes´ nicht Regierungen, sondern soziale Bewegungen und Nicht-Regierungsorganisationen, also die aktive Mitglieder einer nationale Grenzen überschreitenden Zivilgesellschaft.“ (Habermas in der gleichen Passage). Zwei Sonder-Milieus – Global-Eliten und Global-Aktivisten – sollen eine neue Welt bringen, die mit der Eigenschaft glänzt, „abstrakt“ zu sein. Ziemlich gruselig, diese Aussicht. Liegt da nicht der Gedanke nahe, dass die Überwindung der Nationen kein fortschrittliches Projekt ist, sondern zurückführt in die alte Welt der Imperien und der geschlossenen Herrscherkreise?

(veröffentlicht am 16.4.2016 in meiner Kolumne auf „Tichys Einblick“)