25.04.2016

Die Migrationswelle nach Europa ist nicht am Ende. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dieser historisch neuartigen Bewegung ist dringlicher denn je. 

Der große Kurzschluss

Es ist merkwürdig, die „Flüchtlingskrise“ ist schon viele Monate das große Thema, aber bis heute ist nicht geklärt, worin diese Krise eigentlich besteht. Um eine „historische Herausforderung“ soll es sich handeln – aber was ist die historische Eigenart der gegenwärtigen Migrationswelle? Es gibt alle möglichen Versuche, diese Massenbewegung mit anderen historischen Beispielen assoziativ in Verbindung zu bringen, doch die Vergleiche mit Gastarbeitern, Siedler-Migranten oder Weltkriegs-Vertriebenen bleiben oberflächlich. Obendrein bestreiten die Anhänger einer Politik der offenen Tür die Diskussion ganz wesentlich mit Vermutungen über die Gegner dieser Politik: Diese sollen entweder „Rechtsradikale“ oder „ängstliche Bürger“ sein. Sie hätten folglich zur Sache sowieso nichts beizutragen. So kann man die Auseinandersetzung mit dem Gegenstand Migration umgehen. Auch nach dem Knacks der Märzwahlen in Deutschland wird diese Problemverschiebung stramm fortgesetzt.[1]

Kein singuläres Ereignis, sondern ein Jahrhundertproblem

Also zurück zur Sache, zur Eigenart der gegenwärtigen Migrationswelle. Manchmal ist es irgendein Nebensatz, der schlagartig klarmacht, wie optimistisch die Grundannahmen sind, die der Politik der Bundesregierung zugrunde liegen. Jasper von Altenbockum schreibt (FAZ 11.2.16) folgende Sätze, die erklären sollen, warum die Migrationspolitik trotz erheblicher Mängel im Grundansatz auf dem richtigen Kurs ist: „Es ist allerdings realitätsblind, nicht anerkennen zu wollen, dass es sich dabei (bei den Fehlleistungen, GH) um die Nebenwirkungen  der Notmaßnahmen im Angesicht menschlichen Elends und einer Katastrophe handelt, die sich in Syrien und Umgebung abspielt. Souverän ist, wer diesen Ausnahmezustand besser und besser verwaltet, ohne ihn verhängen zu müssen.“ Die Worte „Notmaßnahmen“ und „Ausnahmezustand“ klingen radikal, aber so weit ist es mit dem Ernst dieser Lagebeschreibung nicht her. Sie erweckt den Eindruck, dass hier ein singuläres Ereignis vorliegt. Wie irrig diese Vorstellung ist, zeigt ein Blick auf einige Zahlenverhältnisse. Von Seiten der Regierung steht ja der Satz im Raum, es ginge „nur um 1 Million Flüchtlinge, die unter 500 Millionen EU-Bürgern Platz finden müssen“. Wenn das wirklich so wäre, könnte die deutsche Grenzöffnung als angemessen erscheinen (und die Haltung der Mehrheit der europäischen Staaten als „Schande Europas“). Schauen wir also auf die Zahlenverhältnisse.[2] Wenn man einmal nur den Mittelmeerraum betrachtet und die Anrainer am (europäischen) Nordwestufer und die Anrainer am (arabisch-türkischen-nordafrikanischen) Südostufer zu Gruppen zusammenzieht, haben wir zwischen 1950 und 2025 (Prognose) eine Bevölkerungszunahme von 140 auf 180 Millionen auf der europäischen Seite und eine Zunahme von 75 auf 340 Millionen bei den südlichen und südöstlichen Anrainern. Bei diesen Anrainern gäbe es demnach eine Steigerung um 450%. Hier sind heute ungeheuer große junge Jahrgänge entstanden, fast überall sind 50% der Bevölkerung unter 30 Jahre alt. Die Arbeitsmärkte bieten nicht annähernd die Möglichkeit, sie aufzunehmen – man müsste das Doppelte der chinesischen Wachstumszahlen erreichen. Die Behauptung von der „1 Million Flüchtlinge“ ist also grob ignorant.

Auch die Verbuchung von „500 Millionen“ auf europäischer Seite ist irrig Von der EU-Bevölkerung entfallen 45,8% auf die östliche und südliche Peripherie, mit relativ armen, wachstumsschwachen und überschuldeten Volkswirtschaften. Einen Eindruck der großen Disparitäten im Innern Europas gibt ein Vergleich der Mindestlöhne (Stand Januar 2016): Luxemburg 11,12 Euro, Frankreich 9,67 Euro, Deutschland 8,50 Euro, Spanien 3,97 Euro, Griechenland 3,35 Euro, Polen 2,55 Euro, Ungarn 2,06 Euro, Bulgarien 1,25 Euro. Ein weiterer wichtiger Indikator sind die Arbeitslosenzahlen, besonders der 15-24-Jährigen: In Griechenland liegen sie bei 48,6 %, in Spanien bei 46,0 %, in Italien bei 37,9%.  Es ist der blanke Hohn, wenn man einem Land wie Spanien mangelnde europäische Solidarität vorhält, weil es zu seiner eigenen Jugendarbeitslosigkeit nicht noch weitere Zehntausende Migranten  aufnehmen will – die zudem aus der gleichen prekären Altersstufe kommen. Solche Disparitäten zeigen, dass das Bild eines „europäischen Wohlstandsraums von 500 Millionen EU-Bürgern“ eine Fiktion ist. Das reflektieren auch die Migrationsbewegungen selber: Sie richten sich keineswegs auf diesen Gesamtraum, sondern nur selektiv auf einige prosperierende Länder.[3]

Die Migrationswelle ist kein singuläres Ereignis, sondern Teil eines längeren sozialen Prozesses. Ihr Ausgangspunkt ist eine fundamentale Schieflage zwischen der demographischen Entwicklung und den wirtschaftlichen Möglichkeiten. Eine riesige soziale Last hängt über großen Teilen der Welt. Im Schatten dieser Last finden dann verschiedene Entwurzelungen statt: Zunächst die Migration vom Land in die Stadt, von kleineren Städten in Megastädte; dort ist der Eintritt in neue Klientelsysteme und religiöse Erlösungsbewegungen zu beobachten, dann der Übergang zu sozialen Unruhen und Bürgerkriegen; schließlich findet eine neue („zweite“) Migration statt, nach Europa und anderen Weltregionen des Wohlstands. Es verketten sich also mehrere Fehlentwicklungen.

Sieht man es so, rücken die verschiedenen Krisen, die in der arabischen Welt und in Afrika seit den 1980er Jahren stattgefunden haben, näher zusammen. Man sieht einen sozialhistorischen Prozess der Entwurzelung: Eine riesige Generation ohne Existenzgrundlage gerät in eine sich selbst verstärkende Bewegung, mit zerstörerischen Wirkungen für die Herkunftsländer, für die Zielländer und für die Migranten selbst. Die jungen Männer, die in Syrien schließlich den Bürgerkrieg gewählt haben, gibt es auch in Nordafrika. Und wir müssen davon ausgehen, dass im weiteren südlichen und östlichen Hinterland des Mittelmeerraums (Subsahara-Afrika, Mittlerer Osten Asiens) ähnliche Ungleichgewichte in noch größeren Dimensionen bestehen.[4] Viele in der Entwicklungspolitik Engagierte hatten eine Weile gedacht, die wirtschaftlichen und demographischen Einseitigkeiten würden mit der Bildung unabhängiger Staaten schnell überwunden. Doch es ist anders gekommen. Auch die „Arabellion“, die diese Hoffnung noch einmal aufkeimen ließ, hat keinen realitätstauglichen Weg eröffnet.

Zugleich ist auch „Europa“ eine trügerische Größe, denn es wird durch weltweite Entwicklungstrends in seiner führenden Rolle relativiert. So ist der Anteil der Länder der Europäischen Union am weltweiten Bruttoinlandsprodukt von 23,4% (2004) auf 18,4% (2014) gefallen. Europas Möglichkeiten werden also tendenziell nicht größer sondern kleiner. Diese Realität wird sehr konkret im Mittelmeerraum sichtbar. Die Konkurrenz der aufstrebenden asiatischen Staaten hat in besonderer Weise die Leichtindustrien (Textilien, Lederwaren, Spielzeug, Möbel, Glas, Keramik, Lebensmittel, Haushaltsgeräte, Kleinwagen, etc.) getroffen, die in den meisten mediterranen Ländern entscheidende Stützen des Wachstumsmodells waren. Heute ist in den Containerhäfen des Mittelmeers die Ersetzung eigener Industrien durch asiatische Importe mit Händen zu greifen.

So wird insgesamt das fundamentale Missverhältnis zwischen einer neuen Massenmigration und den Möglichkeiten Europas sichtbar: Es ist eine strategischer Holzweg, wenn Europa die Krise von Weltregionen, deren Bevölkerung die europäische um ein Vielfaches übertrifft, auffangen soll. Die demographisch-wirtschaftliche Schieflage ist kurz- und mittelfristig von keiner Macht der Welt zu beseitigen. Zwar gibt es ein allmähliches Sinken der Geburtenraten, das durchaus beträchtlich ist. Wir müssen also nicht von einem „ewigen Entwicklungsproblem“ sprechen und biologisch-naturräumliche Konstanten bemühen. Aber wir müssen von einem zivilisatorischen und institutionellen Jahrhundertproblem ausgehen.

Die Lösung „Migration“ ist ein Entwicklungs-Kurzschluss

Das ist ein viel ernsteres Lagebild, als es der Begriff „Flüchtlingskrise“ fassen kann. Aber auch der Begriff „Wirtschaftsmigration“ erfasst den Ernst der Lage nicht. Denn die Hauptgruppe der gegenwärtigen Migrationswelle ist weder mit der Generation der Gastarbeiter vergleichbar, noch mit den europäischen Siedler-Migranten früherer Jahrhunderte, noch mit den „Neue Nomaden“ globaler Dienstleistungsberufe.[5] Die Mehrzahl der Migranten bringt keine wirtschaftlichen Fähigkeiten und produktiven Interessen mit, die mit den Arbeitsmöglichkeiten im Zielland korrespondieren. Weder richten sie sich auf unbebautes Land noch auf offene Stellen in der Wirtschaft des Ziellandes. Sie bringen keine Erfahrung und keine Motivation für dauerhafte, entbehrungsreiche Aufbauprozesse mit. Sie sind eher von dem schon fertigen Wohlstand angezogen, und hoffen darauf, sich durch Migration Zugang zu diesem fertigen Wohlstand zu verschaffen.

Die Massenmigration der Gegenwart führt also keinen produktiven Überschuss mit sich, sondern ist Reflex auf eine Negativerfahrung: auf die kurz- und mittelfristige Aussichtslosigkeit bei der eigener Entwicklung des eigenen Landes. Zugleich ist sie Reflex auf den „Lockruf des Goldes“, d.h. des fertigen Wohlstands der reichen Länder. Dieser Wohlstand erscheint, vermittelt durch die heutigen Kommunikationsmedien, viel greifbarer.

Diese Konstellation, die man – in dieser Größenordnung – als historisches Novum einstufen muss, veranlasst große Bevölkerungsteile, ihre Landesbindung aufzulösen und sich in Migranten zu verwandeln – ohne eine neue starke Bindung an ein bestimmtes anderes Land ins Auge zu fassen. Die Entwurzelung wird zu ihrem primären Merkmal. Sie werden in einem viel fundamentaleren Sinn zu Migranten, zu einer Bevölkerungsgruppe im „Dazwischen“. Das ist etwas historisch Neues. Wir tun uns noch schwer, dies Novum angemessen zu beschreiben und zu verstehen.[6]

Wir müssen noch einmal tiefgreifender mit dem „Migrieren“ beschäftigen. Worin besteht der Akt des Migrierens als solcher? Was bedeutet es, wenn die Entwicklungskrise eines Landes oder einer Weltregion durch diesen Akt zu lösen versucht wird? Für sich genommen ist das Migrieren nicht mehr als eine Ortsveränderung, die  Besetzung einer anderen Raumstelle. Das ist eigentlich ein recht trivialer Akt – wenn man es einmal mit der Komplexität vergleicht, die die wirtschaftliche, rechtsstaatliche, kulturelle Entwicklung einer Familie, eines Betriebs, einer Stadt, eines Staatswesens bedeutet. Während Entwicklung ein innerer, vertiefender, entfaltender Vorgang ist, ist die Ortsveränderung durch Migration ein äußerlicher Vorgang. Wer versucht, durch Migration Entwicklungsanstrengungen zu ersetzen, ersetzt die Entwicklung von innen durch den äußerlichen Zugriff auf etwas schon Entwickeltes.

Dies Merkmal der Äußerlichkeit ist bei der gegenwärtigen Migrationswelle besonders stark ausgeprägt. Denn hier spielen die produktiven Ressourcen des Herkommens genauso wenig eine Rolle wie die Teilnahme an den Arbeitsprozessen des Ziellandes. Die Prekarität der Ausgangslage und die schnelle Vorteilsnahme als Zielpunkt bestimmen einen Gesamtprozess, der vor allem ein „kurzer Prozess“ ist.

Die Kennzeichnung „kurzer Prozess“ liegt auch nahe, wenn man die Rolle der Kommunikationsmedien hinzunimmt. Die gegenwärtige Migrationsbewegung vollzieht sich auf einer hochmobilen, aber inhaltlich radikal geschrumpften Wissensbasis, wenn man die Info-Welt der Migranten mit der Komplexität von Erfahrungswissen, professionellem Fachwissen, öffentlich-politischem Wissen vergleicht. Das gilt erst recht, wenn man die globale Schrumpfsprache, die den Vergleich zwischen der Herkunfts-Realität und dem Zielland vermittelt, mit der Komplexität einer nationalen Muttersprache vergleicht. Auch die direkt übermittelten Bilder können diese Sprache in ihrer Aussagekraft nicht ersetzen – die Realitätsnähe, die sie suggerieren, täuscht.[7]

Wenn also eine globale Migration zum Entwicklungsersatz der Länder wird, kann man von einem Kurzschluss sprechen. Von einem großen, entwicklungspolitischen und entwicklungshistorischen Kurzschluss. Er schließt unterschiedliche Entwicklungsniveaus räumlich und zeitlich kurz.

Als individueller Akt oder als Handlung kleinerer Gruppen ist die Migration vom schlechteren zum besseren Standort kein größeres Problem. Aber wenn man sich dies Migrieren einmal als Weltmodell vorstellt, wird deutlich: Es ist nicht verallgemeinerbar. Es kann als allgemeines Entwicklungsmodell nicht funktionieren. Die jetzige, global aufgeheizte Migrationswelle bietet keinen Ausweg für die Weltregionen mit schwierigen Bedingungen. Zugleich führt sie auch zu einer Übernutzung der günstigeren Weltregionen und wirft diese zurück. Und auch den Migrierenden, die an dieser Welle beteiligt sind, bringt sie keine wirkliche Weiterentwicklung.[8]

Man muss hier auch – in einem begrifflich-präzisen Sinn – von einer Tragödie sprechen. Im klassischen tragischen Szenario gibt es eine heillose Verkettung, die durch keine Handlung aufgelöst werden kann. Es gibt keinen Ausweg, der nicht wiederum zu erheblichen Verlusten (und zum Scheitern der Erwartungen) führt. Diejenigen, die sich der heutigen Migrationswelle anschließen, treten in einen tragischen Prozess ein. Es gibt auf diesem Weg keine Lösung. Es gibt aber auch keine Schuld. Diese Kategorie ist hier unangebracht, weil es vom Standpunkt der jeweiligen Akteure durchaus naheliegend und verständlich ist, dass sie so handeln und nicht anders. In der gegenwärtigen Migrationswelle macht es – so wenig wie in der klassischen Tragödie – eine Unterscheidung zwischen Gut und Böse zu treffen und mit dem Schuld-Schema zu arbeiten.

Und doch gilt: Auch dort, wo keine Schuld zugeordnet werden kann und man die Menschen verstehen kann, kann ihr Handeln doch falsch sein. Deshalb kann es in bestimmten historischen Situationen erforderlich sein, die härtesten Abwehrmaßnahmen gegen Gefahren zu treffen und damit auch Menschen zu treffen, denen man nichts Böses vorwerfen kann.

Die Legitimität der Zurückweisung

Das ist die Problematik, vor die Europa jetzt gestellt ist. Natürlich gilt nach wie vor, dass es eine zahlenmäßig begrenzte Zuwanderung und einzelne Rettungsmaßnahmen bei Katastrophen und Krieg geben muss, aber es wäre eine (Selbst-)Täuschung von historischen Ausmaßen, wenn man so tut, als sei diese Migrationswelle in ihrem Hauptteil durch eine Einwanderungspolitik aufzufangen. Sie muss zurückgewiesen werden.

Das Wort „Zurückweisung“ ist angemessen, weil es keine schmerzfreie Lösung gibt. Das ist Konsequenz der tragischen Situation. Denn die Europäer können nicht erwarten, dass die Migranten sich davon überzeugen lassen, von ihrem Vorhaben abzulassen. Die Europäer haben nicht die Mittel für ein in dieser Hinsicht überzeugendes Angebot. Denn der Standpunkt der Migrierenden hat seine eigene Rationalität, die weder durch materielle Fördermittel (Geld), noch durch geistige Fördermittel (Bildung, Gespräche) gewendet werden kann. Die Lebensbedingungen und –aussichten der Menschen sind so, dass selbst hohe Risiken auf den Migrationsrouten als das kleinere Übel erscheinen. Inzwischen hat die Migrationsbewegung auch eine sich selbst verstärkenden Dynamik bekommen, die nicht durch schlichte Stoppschilder zum Stehen zu bringen ist.

„Zurückweisen“ bedeutet, dass dieser Weg gewaltsam versperrt werden muss – dass hier also das staatliche Gewaltmonopol gefragt ist, insbesondere die Landesgrenzen als Teil dieses Gewaltmonopols. Europa steht vor einer Situation, in der es zwar keinen Krieg gibt, in der aber doch seine Wehrhaftigkeit gefragt ist. Diese Wehrhaftigkeit ist Teil des Rechts, denn das Recht kann nicht darauf vertrauen, in jeder Situation die Beteiligten, die mit ihren Ansprüchen und Zielen nicht zum Zug kommen, zu überzeugen und zum freiwilligen Verzicht zu bewegen. Wenn es so ist, schlägt die Stunde der Wehrhaftigkeit. Das ist jetzt bei der Migrationswelle der Fall und es bedeutet einen schweren Fehler, wenn die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Eliten sich nicht dazu entscheiden können, dies offen auszusprechen und danach zu handeln. Es ist ein historisches Versagen, auch wenn es sich darauf beruft, dabei humanitäre und daher „gute“ Ziele zu verfolgen.

Wer jetzt eine Politik der strikten, eindeutigen Begrenzung fordert, kann sich darauf berufen, dass seine abweisende Haltung in einem übergreifenden Gesamtinteresse ist. Sie ist nicht bloß ein egoistischer Akt, sondern kann eine Handlungsmaxime im Sinne von Kants Imperativ für sich in Anspruch nehmen.[9] Die Entwicklungskrise im Nahen und Mittleren Osten und in weiten Teilen Afrikas lässt sich nicht durch eine große Bevölkerungsumsiedlung nach Europa auflösen. Im Gegenteil würde ein solcher weltgeographischer Kurzschluss die jungen Staaten entvölkern und sie jener Kräfte berauben, die eigentlich die Garanten ihrer Unabhängigkeit sind. Ein solcher großer Kurzschluss würde auch Europa seiner hohen rechtlichen und materiellen Standards berauben, auch seiner eigenen, weiterreichenden Zukunftsprojekte. Er würde die mühsam errungenen, höheren Freiheitsgrade in Europa gefährden. Beide Seiten können sich nur weiterentwickeln, wenn sie sich im Wesentlichen nebeneinander entwickeln – was einen gegenseitigen Pendelverkehr und begrenzte Einwanderungskontingente einschließt. Wer für eine Politik der Einhegung der Migrationswelle eintritt, tut das nicht aus einer plötzlich erwachenden Fremdenfeindlichkeit, sondern weil ein friedlicher Weltausgleich nicht zur Verfügung steht. Kein großes „Zusammen“ hilft hier weiter.[10]

Diese Anforderung des Zurückweisens erwischt Europa sichtlich auf dem falschen Fuß. Es hatte sich mental auf die Rolle eines offenen Zivilkontinents eingestellt (und das gilt für Deutschland in besonderem Maße). Die Europäer sind zu einem großen Teil in ihren politischen Reflexen nicht auf Wehrhaftigkeit vorbereitet und das fängt schon bei der Anforderung an, Gewalt-Bilder beim eigenen Grenzschutz zu ertragen.

Die Grenz-Maßnahmen selber sind dabei noch nicht einmal die größte Herausforderung. Schwerer fällt es den Europäern, diese Härte offen und ehrlich zu praktizieren, und nicht um ihre Konsequenzen herumzureden. Eine redliche Politik muss aussprechen, dass trotz erheblicher Hilfsprogramme mehrere Generationen von Menschen in der Nachbarschaft Europas kaum mehr als ein Überleben erhoffen können. Das Problem fundamentaler Entwicklungs-Ungleichheiten wird uns dies ganze Jahrhundert begleiten. Dabei geht es nicht nur um Lebensstandard im engeren Sinn, sondern um politisch-rechtliche, wirtschaftlich-technische, sozio-kulturelle und religiöse Ungleichheiten. Es geht um eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen (wie es Historiker nennen) und um einen redlichen Umgang mit dieser Situation. Diese Aufgabe der Redlichkeit wird von einer Politik umgangen, die immer nur das Humanitäre beschwört. In dieser Hinsicht ist besonders die deutsche Politik ein unrühmliches Beispiel.

Ja, es geht um Europa. Es geht um den spezifischen Beitrag, den das neuzeitliche Europa in die Weltgeschichte eingebracht hat: die Erkenntnis, dass Entwicklung nur als innere Entfaltung unabhängiger Länder gelingt. Wenn wir nicht mehr in Lage sind, dafür zu kämpfen, haben wir unsere Seele aufgegeben.

 

Aus einem Interview

In einem Interview mit der Berliner Zeitung (20.4.2016) hat die amerikanische Soziologin Saskia Sassen folgendes gesagt: „Wir erleben den Beginn einer neuen Epoche. Die von mir beschriebenen Flüchtlingsgruppen sind Indikatoren für einen Prozess, der sich bald ausweiten wird. Sie entstehen aufgrund von sehr schwierigen Bedingungen in den Herkunftsregionen. Wen diese Migrationsströme aufkommen, können sie gegebenenfalls auch überwältigend werden – für das bestehende System der Flüchtlingspolitik, für die Gegenden, , in denen die Menschen ankommen. Und für die Männer, Frauen und Kinder selbst, die diese Ströme konstituieren.“

Frau Sassen positioniert sich eher auf der linksliberalen Seite des politischen Spektrums. Prompt wird ihr von der Journalistin der Berliner Zeitung die Frage gestellt: „Ein Flüchtlingsstrom, der Deutschland überflutet – mit diesem Szenario machen rechtspopulistische Gruppen hierzulande Stimmung gegen Flüchtlinge. Ich bin erstaunt, ähnliche Argumente von Ihnen zu hören zu bekommen.“

Darauf Saskia Sassen: „Entschuldigung, aber wenn man sich die Zahlen anschaut, sind die jenseits solcher politischen Debatten. Wir rechnen zurzeit mit 80 Millionen aus ihrer Heimat vertriebenen Menschen weltweit, das ist die höchste Zahl seit dem Zweiten Weltkrieg. Damit müssen wir uns ernsthaft beschäftigen.“

 

 

(veröffentlicht auf der Webside des Deutschen Arbeitgeber Verbandes am 2. und 9.5.16)

 


[1] Als Beispiel kann hier das Magazin „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, herausgegeben von der Bundeszentrale für Politische Bildung) dienen. Im Editorial des Themenhefts „Zufluchtsgesellschaft Deutschland“ findet sich folgende Verarbeitung der Silvesterereignisse von Köln: „Mit den Übergriffen in der Kölner Silvesternacht schienen sich Annahmen über `die Flüchtlinge´, vor allem über männliche Muslime, zu bestätigen, wurde gar `Staatsversagen´ angesichts des hilflos erscheinenden Agierens der Sicherheitskräfte zu einer Diagnose. In den Diskussionen, die dann folgten, zeigte sich erneut ein strukturelles Problem (nicht nur) in der gesellschaftlichen Mitte: Rassismus. Ihn gilt es zu bearbeiten, um die Debatte um Identität und Zugehörigkeit voranzubringen.“ Nicht die Migration, sondern der „Rassismus“ soll also das Thema sein.

[2] Ich beziehe mich im Folgenden auf eine größere französische Studie, die schon relativ früh die Entwicklungsproblematik im Mittelmeerraum dargestellt hat:  M.Grenon/M.Battisse, Avenirs du Bassin Méditerranéen, Paris 1988

[3] Vgl. „Wohlstand ist für Flüchtlinge wichtiger als Schutz“ (Artikel erschienen in der FAZ v. 10.3.2016)

[4] In den ersten drei Monaten dieses Jahres sind 80% mehr Migranten in Italien angekommen als im gleichen Zeitraum des Jahres 2015.  Sie kommen vorwiegend aus der afrikanischen Subsahara-Zone (vgl. FAZ, 7.4.2016)

[5] Die Ähnlichkeiten bleiben oberflächlich und sind zu generalisierend. Am Ende entsteht das Bild, dass „wir alle irgendwie Migranten sind“ (und die heutige Welt überhaupt auf Migration gebaut ist).

[6] Man kann deshalb heute manche Publikation, die noch vor einem anderen Hintergrund verfasst wurde und einwanderungsoptimistisch ist, mit Gewinn lesen – inbesondere, wenn sie auf die Selbsthilfekräfte der Migranten setzt (z.B. Doug Saunders, Arrival City – Die neue Völkerwanderung, 2011). Man kann dann erkennen, wie sehr sich das heutige Szenario von dem Szenario unterscheidet, das solche Publikationen noch vor wenigen Jahren beschrieben.

[7] Der Philosoph Hermann Lübbe spricht generell von einer Tendenz zur „Schrumpfung der Gegenwart“, in der die länger dauernden Herstellungs- und Entwicklungsprozesse nicht mehr präsent sind.

[8] Die Überlegungen dieses Beitrags stimmen in vieler Hinsicht mit der Analyse überein, die Paul Collier vorgelegt hat (Paul Collier, Exodus – Warum wir Einwanderung neu regeln müssen). Das Buch, das im englischen Original 2013 erschienen ist und damit noch vor der Erfahrung der Migrationswelle liegt, geht noch von einem Grundtypus des „Einwanderers“ aus und sieht Gefahren vor allem bei einer zu großen Einwanderer-Zahl. Ich bin hingegen zu dem Schluss gekommen, dass hier ein qualitativ neuer Typus des Migranten vorliegt, dessen Entwurzelung ihn von jeder Herkunft und jedem Ziel losgelöst hat.

[9] Vgl. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, § 7: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“

[10] Das hier bestehende Entwicklungsproblem lässt sich also nicht in der gleichen Weise lösen, wie es sich im kleineren Maßstab zwischen einzelnen Regionen im Inneren eines Nationalstaates lösen lässt.