11.06.2016

Die „EU“ ist nicht die logische Konsequenz des europäischen Einigungsprozesses. Er bedeutet eine problematische Wende, gegen die sich nun ein wachsender Widerstand richtet.

(Erwägungen zum „Brexit“, Teil II)

Europa hat die Farbe gewechselt

Die Volksabstimmung über einen „Brexit“ ist nicht die erste in der jüngeren Geschichte Europas. Schon am 5. Juni 1975, also vor ziemlich genau 41 Jahren konnten die Briten über einen Austritt aus der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), der man 1973 unter Edward Heath beigetreten war, entscheiden. Eine sehr deutliche Mehrheit von 67% der Wähler stimmte damals für den Verbleib in der EWG. Doch damals war die Ausgangssituation etwas. Thomas Kielinger schreibt in der „Welt am Sonntag“ vom 24.1.2016: „Anders als heute fehlte es den Briten damals an nationalem Selbstvertrauen, die Arbeitslosigkeit war hoch, die Wirtschaft schwach, Europa wirkte wie eine Weltmacht der Zukunft, der `fear factor´, die Angst vor Isolation ließ die Menschen für den regierungsplan votieren. Entsprechend standen die Wirtschaftskapitäne fast komplett hinter dem Verbleib in der EWG, auch Massenblätter wie `Daily Mail´ oder der `Daily Express´, beide heute führende Gazetten der Euroskepsis, schworen auf die europäische Zukunft der Insel.“

Etwas hat sich also geändert. Kielinger schaut dabei besonders auf die britische Seite. Großbritannien steht heute stärker und selbstbewusster da als 1975. Das heißt nicht, dass es nicht zahlreiche Probleme gäbe. Aber die Briten haben in den vergangenen Jahrzehnten, angefangen mit der Regierung Thatcher, einschneidende Reformen akzeptiert und erhebliche soziale Konfrontationen durchgestanden. Das ist die britische Seite. Was die europäische Seite betrifft, gibt es ebenfalls eine bedeutende Änderung. Das europäische Gemeinschaftsprojekt hat sich grundlegend gewandelt. Das Europa des Jahres 2016 ist etwas ganz anderes als das Europa von 1975.

Drei Phasen des europäischen Projekts

Die europäische Einigung war kein linearer Prozess, sondern hat fundamentale Wandlungen durchgemacht. Für die Zeit seit dem 2. Weltkrieg kann man drei verschiedene Phasen unterscheiden:

  1. Eine erste Phase, in der die Versöhnung der Nationalstaaten und sektorale Gemeinschaftsbildungen (Montanindustrie) geschahen. Zwar gab es einen schwärmerischen Diskurs über die Vereinigten Staaten von Europa, aber die Stärke dieser Zeit bestand vor allem in einer gegenseitigen, bilateralen Neu- und Wiederentdeckung der Nationen. Hier wurde die deutsch-französische Freundschaft (wieder-)geboren, aber auch die Beziehungen zu Großbritannien, zu den Niederlanden, zu Italien und natürlich zu den USA auf neue Grundlagen gestellt. Es war auch die Zeit der Partnerschaften von Städten, Sportvereinen, Orchestern und vielen anderen Zivileinrichtungen.
  2. Eine zweite Phase, die vor allem die 60er, 70er und 80er Jahre prägte, war multilateral, aber sie beschränkte sich auf eine Begleitung und Gestaltung eines gemeinsamen Marktes. Das europäische Projekt war eine Wirtschaftsgemeinschaft, bei der Harmonisierungen der Normen vorgenommen wurden, ohne dass ein gleiches Anspruchsniveau anvisiert wurden. Auf dieser Basis fanden die Nord-Westerweiterung und die Süd-Erweiterung statt, die EWG wurde zur EG. Sie entwickelte bestimmte Ausgleichsfonds (Agrarfonds, Regionalfonds), aber keinen umfassenden Ausgleich. In dieser Phase war die europäische Ordnungsidee öffnend. Wer für liberale Weltoffenheit war, setzte auf die EG als Türöffner gegen Blockaden und als Verbündeten beim Abbau von Privilegien.
  3. Die dritte (gegenwärtige) Phase begann mit den 90er Jahren und kann als Replik auf die „Wende“ in Osteuropa verstanden werden; insbesondere sollte die Vereinigung Europas auch die deutsche Wiedervereinigung „überholen“. Erst jetzt standen staatliche Kernaufgaben auf der Agenda der europäischen Vergemeinschaftung. Das Thema der sozialen Gleichheit wurde zum neuen Großthema, auch das Thema eines Upgrading ökologischer Normen. Die sogenannte „Lissabon-Strategie“ versuchte eine einheitliche Steuerung von Wissenschafts- und Technologieentwicklung. Die Währungsunion und das Schengen-Abkommen erfassten Aufgaben, die bisher als Insignien der Souveränität galten. Die EU-Kommission und der Europäische Gerichtshof begannen systematisch, durch Verordnungen und Urteile in die Mitgliedsstaaten hineinzuregieren. In dieser Phase begannen dann die Schuldenkrise und die Migrationskrise, die zeigten, dass die neue Integrationsform „EU“ sichtlich überfordert war. In ihrem Rahmen konnten die Krisen nur verschleppt werden.

Die zunehmende Europaskepsis ist eine Antwort auf diese letzte Phase – sie stellt nicht alles in Frage, was seit dem zweiten Weltkrieg geschaffen wurde. Die Tatsache, dass in diesem Juni 2016 ein EU-Austritt Großbritanniens zur realen Möglichkeit geworden ist, gehört dazu. “Die EU ist – anders als 1975 – kein Ziel der Bewunderung und des Neides mehr“, schreibt Thomas Kielinger. Hier spricht nicht eine verwöhnte Klientelgesellschaft, die sich über zu wenig Zuwendung beklagt. Es ist der Widerspruch einer recht unabhängigen, freiheitsliebenden Nation, der sich an den zunehmend illiberalen Tendenzen der europäischen Integration entzündet.

Doch bis heute gibt es keine offene Diskussion über die Richtungsentscheidung, die dem Gebilde „Europäische Union“ zugrunde liegt. Es wird geleugnet, dass in der europäischen Politik eine Wende stattgefunden hat. Die EU wird einfach mit „der“ europäischen Einigung oder gar mit „Europa“ gleichgesetzt. Sie soll das natürliche Ergebnis eines alternativlosen Europaprozesses seit dem 2. Weltkrieg sein. Sie soll alle historischen Errungenschaften des Rechts, des zivilisatorischen Fortschritts, der Aufklärung gleichsam in sich aufgesogen haben. Und derjenige, der das spezifische Konstrukt „EU“ kritisiert, würde folglich anti-europäisch sein.

Die subtilen Veränderungen der Regulierung

Es gibt zwei Typen von Normierungen. Man kann bestimmte Standards vereinheitlichen (harmonisieren), damit Produkte überall passen und anschlussfähig sind. Ein einfaches Beispiel sind die DIN-Normen (oder entsprechender internationaler Normen), die dafür sorgen, dass Papierbögen die gleichen Grundmaße haben, dass Schrauben das gleiche Gewinde haben und Stecker überall in Steckdosen passen. Normierungen können aber auch darin bestehen, dass sie eine bestimmte Mindestgüte eines Produkts vorschreiben. Es muss ein bestimmtes Niveau erreichen, um zugelassen zu werden. Ein Beispiel sind die Baunormen zur Wärmedämmung oder die berühmt gewordenen (und inzwischen geänderten) Vorschriften für die Form einer in der EU zugelassenen Gurke. dieser Stelle wird ein wichtiger Unterschied deutlich: Der erste Typ der Normierung macht die Zusammenarbeit leichter, er erhöht die Anschlussfähigkeit und erleichtert die Teilnahme an Herstellungsprozessen. Er wirkt inklusiv. Der zweite Normierungs-Typ wirkt hingegen exklusiv. Die Niveauerhöhung führt dazu, dass sich der Aufwand und die Kosten erhöhen. Damit können bestimmte Produzenten und Verbraucher vom Markt ausgeschlossen werden, weil sie nicht das nötige Kapital für die Erreichung des Produktniveaus haben oder, als Verbraucher, nicht die nötige Kaufkraft haben. In der Europäischen Union gibt es einen Trend zu diesem zweiten Typ von Normierung, oft unter dem Motto des „Verbraucherschutzes“ und des „Umweltschutzes“. Diese Verschiebung wird oft verdeckt: Die Niveauerhöhung wird in einer Vereinheitlichung verborgen. Man spricht von Harmonisierung und von einem Gewinn an europäischer Einheit, aber tatsächlich erhöht man die Normen und verkleinert den Kreis der Hersteller und Kunden.

Ein anderes Beispiel: Die Information über Produkteigenschaften und die entsprechende Auszeichnung der Produkte ist wichtig für freie Märkte. Ebenso gehört die öffentliche Diskussion über Nützlichkeit oder Schädlichkeit bestimmter Produkte zu einer freien Gesellschaft – man denke an das Rauchen. Doch zeigt gerade dies Beispiel, dass man im Namen des Verbraucherschutzes auch eine Verbraucherbeeinflussung betreiben kann. Man verbietet die Zigarettenwerbung oder zwingt ihr „abschreckende Gegendarstellungen“ auf den Packungen auf. Man vertraut also nicht auf die freie Auseinandersetzung der Meinungen und auf eine unabhängige Öffentlichkeit. Diese Tendenz, die es natürlich auch in den einzelnen Mitgliedsstaaten gibt, hat sich die EU zu Eigen gemacht. Sie erhebt sich als lenkende Hand über Europa und betrachtet die Bürger als Schutzbefohlene, deren Lebensführung gelenkt werden muss. Das Rauchen ist hier nur ein kleines Beispiel. Aber im Glauben, besser als die Bürger zu wissen, was gut für sie ist, ist der umfassende wirtschaftliche und politische Dirigismus schon angelegt.

Diese schützende Bevormundung, die die europäische Politik im Stadium der „EU“ angenommen hat, hat auch Folgen für die Außenbeziehungen Europas. Wenn die Regulierung besonders anspruchsvoll ist, kann es dazu kommen, dass zwei Wirtschaftsräume, die eigentlich recht ähnlich und weit entwickelt sind, sich nicht auf ein umfassendes Handelsabkommen einigen können. Das hohe Niveau wirkt gegenseitig exklusiv. Das kann man jetzt im Verhältnis zwischen der EU und den USA beobachten. Beide Seiten sind nicht wirklich willens, die TTIP-Verhandlungen zum Erfolg zu bringen. Wer geglaubt hat, die EU könne aufgrund ihrer spezifischen Konstruktion hier eine öffnende Rolle spielen, sieht sich getäuscht. Sie ist kein Pionier des Weltmarktes.

Die Grauzone des europäischen Politiksystems

Die Verwandlung des europäischen Projekts zur heutigen Gestalt der „EU“ hat etwas mit einem Spezifikum der europäischen Konstruktion zu tun. In dieser Konstruktion gibt es keine wirkliche Legislative, sondern die gemeinsamen Einrichtungen sind vorrangig administrativer und judikativer Art. Der ehemaliger Verfassungsrichter Dieter Grimm hat dies in dem Buch „Die Zukunft der Verfassung“ (Band II) präzise belegt. So kommt es dazu, dass die EU-Kommission und der Europäische Gerichtshof mit Erfolg versuchen können, ihre Einflussfelder auf eigene Faust auszudehnen. Denn auf der europäischen Ebene bewegen sie sich außerhalb eines staatlichen Rahmens. Sie beanspruchen Gestaltungsrechte, die einer Verfassungsgebung gleichkommen, jedoch ohne die Verpflichtung auf ein Staatswesen.

Grimm´s Verdacht geht nun dahin, dass diese spezifische Konstellation dazu führt, dass die im Rahmen der Nationalstaaten gebildeten sozialen Schutzrechte „neoliberal“ abgebaut werden. Dass die Konstellation also deregulierend wirkt. Aber viel logischer ist, dass die auf europäischer Ebene ungebundenen Mächte der Administration und der Judikative dazu neigen, eigene europaweite Schutzbestände aufzubauen. Dadurch gewinnen sie ein viel größeres Betätigungsfeld als bei einer Deregulierung. Und sie können als Schutzmächte eigene Klientel aufbauen. Da sie nicht einem Parlament gegenüberstehen, das die Steuerzahler vertritt und den Ausgaben Grenzen setzt, werden sie die nationalen Schutzregelungen zu übertreffen suchen.

Und so ist es auch tatsächlich, wenn man die immens gewachsene Interventions-Praxis der EU-Kommission und des Europäischen Gerichtshofs betrachtet. Das europäische Projekt hat sich in der Gestalt „EU“ in eine riesige, omnipräsente Regulationsmaschine verwandelt, und zwar aus sekundären Mächten des modernen Verfassungsstaates. Sie ist eine Sekundärformation, die sich auf nationenübergreifender Ebene gebildet hat. Sie ist substaatlich und suprastaatlich zugleich.

„Taking back control“

Es liegt daher auf der Hand, dass eine Opposition gegen diese ungehemmt wuchernde Regulationsmaschine sich im Namen der Freiheit formieren wird. Ebenso verständlich ist, dass diese Opposition sich auf die Nationen beziehen muss. Diese sind in unserer Zeit der einzig verfügbare Rahmen für eine starke parlamentarische Legislative und für eine republikanisch verfasste Staatlichkeit. In der britischen Austrittskampagne heißt das „Taking back control“.

Aber nicht alle Nationen entwickeln gegenwärtig eine so starke Tendenz der Selbstbehauptung wie Großbritannien. Es gibt auch Nationen, die eine stärkere Neigung haben, im Schatten der EU-Maschine ihr Heil zu suchen. Dabei geht es weniger um den Unterschied zwischen „kleinen“ und „großen“ Nationen, sondern mehr um den Grad, in dem sich bestimmte Nationen an Subventionen und an einen Klientenstatus gewöhnt haben. Der Fall Griechenland, das sich parallel zur Herausbildung des Systems „EU“ zum gescheiterten Staat entwickelt hat, zeigt das. Aber vielleicht noch erhellender ist ein Vergleich Großbritanniens mit der anderen großen westeuropäischen Nation: Frankreich. Frankreich hat sich besonders eng an das EU-System gebunden und sich, als Kopilot an der Seite Deutschlands, als Kern dieses Systems definiert. Zugleich hat Frankreich nie eine Phase einschneidender innerer Reformen geschafft, weder unter Mitterrand, noch unter Chirac oder Sarkozy. Heute ist es, um Gegensatz zu Großbritannien, ein blockiertes Land. Wenn die Briten am 23. Juni über ihre weitere EU-Mitgliedschaft entscheiden, werden sie vielleicht auch einen Blick auf Frankreich werfen und sich fragen: Wollen wir uns auf diesen Pfad begeben?

 

 

(erschienen auf „Tichys Einblick“ am 12.6.16, auf „Die Achse des Guten“ am 22.6.16, auf „NOVO Argumente“ am 23.6.16)