04.02.2016

Während die Migrationspolitik weiter mit den großen Perspektiven der Weltrettung hantiert, gibt es über die Realitäten vor Ort – auf den letzten 100 Metern des politischen Handelns sozusagen – kaum Informationen. 

Spärliche Nachrichten von der Front

Die deutsche Öffentlichkeit ist in diesen Tagen einer kommunikativen Großoffensive ausgesetzt. Da fährt der Bundesinnenminister nach Afghanistan, um dort in die Kameras zu sagen, dass Deutschland gar nicht so attraktiv ist, wie es scheint. Der Kanzleramtsminister Altmaier erklärt, man wolle straffällig gewordene Nordafrikaner, die von ihren Heimatländern nicht zurückgenommen werden, dann eben in sichere Drittstaaten ausweisen. Die Arbeits- und Sozialministerin Nahles spricht auf einmal von der Bringeschuld der Zugewanderten. Und Frau Merkel hat auch einen neuen Satz: der nun auf einmal die Rückkehr der Migranten andeutet: „Wir erwarten, dass, wenn wieder Frieden in Syrien ist und wenn der IS im Irak besiegt ist, dass Ihr auch wieder, mit dem Wissen, was Ihr jetzt bei uns bekommt, in Eure Heimat zurückgeht.“ Wie sich das mit der „Hauptaufgabe Integration“ verträgt, die gerade noch verkündet wurde, bleibt ihr Geheimnis. Aber dass da nichts zusammenpasst, ist sowieso egal. Wichtig ist, dass das ganze Land mit Zeichen und Gesten vollgestellt wird.

Währenddessen hat sich an den Realitäten nichts geändert. Die Order zur Grenzöffnung gilt weiter, der Zuwanderungsstrom ist ungebrochen. Es gibt etliche Indizien, dass die Behörden keine Kontrolle über die Inlands-Bewegungen der Zuwanderer haben. Die Situation in Deutschland unterscheidet sich nur graduell von der Anarchie auf der Balkanroute. Doch die Politik der Regierung mit ihrem „humanitären Imperativ“ ist hier gar nicht präsent. Sie schaut allenfalls besuchsweise vorbei. Die Realitäten vor Ort – die Umsetzbarkeit der großen Politik auf den letzten 100 Metern – spielen bei den Entscheidungen keine Rolle.Von dieser Front gibt es überhaupt nur spärliche Nachrichten.

Das sollte Anlass sein, genauer auf jene Welt härterer Konfrontationen zu schauen, auf ihre Restriktionen und schwierigen Abwägungen. Mehr noch: Es sollte Anlass sein, einen anderen Begriff des politischen Handelns zu gewinnen, der dieser Welt gerecht wird.

Chaos bei den Zahlen

Über die Zuwanderungszahlen im Januar 2016 sind in den vergangenen Tagen recht unterschiedliche Angaben über die Zuwanderung im Januar über den Ticker gelaufen: von „über 50000“ war die Rede, von „59000“ und dann von „91000“. Ist es zu viel verlangt, dass das zuständige Bundesministerium oder Bundesamt jeden Monat einen statistischen Migrations-Bericht vorlegt – so wie das bei den Arbeitsmarktzahlen auch geschieht?

Gestern war von knapp 5000 Kindern die Rede, die unbegleitet in Deutschland angekommen sind und nun nicht mehr auffindbar sind. Wie ist das möglich? Waren es nur Kinder, oder auch Jugendliche? Oder vielleicht junge Männer von 20 Jahren.

Am 3.2. berichtete die RBB-Abendschau von einem Mann, der mehrfach ohne Vorwarnung Frauen in der S-Bahn geschlagen und erheblich verletzt hat. Er ist unter verschiedenen Namen und Nationalitäten in Deutschland gemeldet. Er wurde wegen Verbrechen schon in Belgien gesucht und fand trotzdem Aufnahme in Deutschland. Offenbar gibt es keine verlässliche Kontrolle in der Registrierung. Und warum wurde nicht wenigstens ein Bild des gesuchten Täters gesendet, um die Fahrgäste zu warnen? Oder will man Bilder von Gewalttätern, die unter dem Titel „Flüchtling“ ins Land kommen, möglichst vermeiden?

Die Abendschau berichtete auch, dass die Bezirksregierung von Berlin-Neukölln eine zusätzliche Prämie von 1000 Euro einführen will, um Erzieher für eine Arbeit in den dortigen Kindertagesstätten zu gewinnen. Die Kitas in diesem Bezirk haben Schwierigkeiten, Personal zu finden. Liegt es an den jetzt Zugewanderten? Nein, es ist schlimmer: Probleme machen Kinder aus Familien, die schon vor etlichen Jahren nach Berlin gekommen sind. Hier wurden schon viele Integrationsangebote gemacht, der Bezirk ist ein traditionell sozialdemokratisch regierter Bezirk. Da fällt es schwer, an den Sinn einer neuen „Integrationsanstrengung“ zu glauben.

„Vollzugsdefizite“

Dass es beim Umgang mit der Migrationswelle ein „Vollzugsdefizit“ gebe, ist schon oft von Politikern gesagt worden. Doch hüten sich diese Politiker meistens, die Vollzugsmaßnahmen zu benennen, die sie gestärkt wissen wollen. So bleibt die Rede vage. Ein kleines Wörterbuch geläufiger Ausdrücke und kaum geklärter Fragen:

  • „Kontrolle der Außengrenze“: Was geschieht an der Grenzlinie? Bedeutet die Verweigerung der Einreise, dass die Personen umgehend über die Grenze zurückgebracht werden? Oder werden sie vorläufig (grenznah oder weiter im Inland) doch aufgenommen? Was geschieht bei einer Seegrenze? Werden sie wieder an die fremde Küste gebracht, oder an einen Ort der eigenen Küste?
  • „Registrierung“: Werden die Angaben zur Identität nur zur Kenntnis genommen, oder werden sie geprüft? Mit welchen Mitteln? Welchen Datenabgleich gibt es mit anderen Grenzübertritten? Wie wird mit der Behauptung umgegangen, dass die Dokumente verloren wurden?
  • „Nachträgliche Registrierung“: Wie werden Personen, die sich der Registrierung bei Grenzübertritt entzogen haben (oder die sich unter mehreren Identitäten) registriert haben, im Land ausfindig gemacht? Wo gibt es systematische Personenkontrollen mit dem Zwang, sich zu identifizieren?
  • „Ausweisung“: An welchen Ort wird ausgewiesen? Ans Herkunftsland, ans Einreiseland, in Flüchtlingslager? Wie wird sichergestellt, dass der rechtskräftig zur Ausreise Verpflichtete für die Rückführung verfügbar ist?
  • „Residenzpflicht“ bzw. „Wohnsitzauflage“: Mit welchen Mitteln wird sichergestellt, dass die Residenzpflicht eingehalten wird und die Person nicht ohne Genehmigung den Ort wechselt?

Die Fachleute werden sicher noch weitere Problemzonen kennen. Aber auch so wird schon deutlich, dass das Grundproblem des Vollzugsdefizits die Härte der notwendigen Maßnahmen ist. Es geht um Konfrontation. Der Vollzug kann nicht auf das Einverständnis des Betroffenen setzen. Mit Dialog, der sogenannten „diskursive Lösung“, kommt man hier nicht weiter. Es geht letztlich um physische Zurückweisung von Menschen – die Szenen an verschiedenen Grenzen der Balkanroute, aber auch am Eurotunnel zwischen Frankreich und England sprechen eine deutliche Sprache. Wer also für „Residenzpflicht“ und „Abschiebung“ spricht, darf über Stacheldraht-Grenzzäune, geschlossene Lager und (bewaffnete) Torposten nicht schweigen. Auch der Sachbearbeiter einer Aufnahmebehörde, der eine Leistung ablehnen muss, einen Antrag zurückweisen muss oder ein Gespräch beenden muss, kennt diese harte Gegenüberstellung, die die Bundesregierung an der deutschen Grenze nicht auf sich nehmen will.

Das Maß der Politik sind ihre Durchsetzungsmittel

Wäre es nicht sinnvoll, das politische Handeln von dem Problem der Durchsetzung her zu denken? Die Frage, was durch großartige Perspektiven vielleicht zu bewegen ist, kann ja in unendliche Fernen führen. Aber die Frage der Durchsetzbarkeit führt zu einem ganz anderen Ende: Was ist in der Konfrontation mit Widrigkeiten tatsächlich durchsetzbar? Welche Lasten und Opfer sind die Kräfte des Staates hier zu tragen bereit? Welche Kämpfe, welchen Streitlärm, welche sozialen Spannungen können die Staatsbürger ertragen? In welche Kollateralbelastungen, zum Beispiel bei der Video-Überwachung oder der Personenkontrolle, willigen sie ein? Das wäre sozusagen das schwierige Ende des Politikprozesses, das vor jede Realisierung gesetzt ist. Dort kommt man um das Böse und Hässliche nicht herum.

Der Sender Phoenix berichtete am 15.1.2016 über eine Gesetzesinitiative verschiedener Bundesländer, die den Straftatbestand „illegale Einreise“, wie er in § 95 des Aufenthaltsgesetzes gefasst ist, abschaffen will. Wenn ich es recht verstehe, würde damit die Merkel-Doktrin der unhaltbaren Grenze faktisch zum Gesetz erklärt. Zur Begründung erklärte Volker Beck von den Grünen, dass die Strafverfahren sowieso eingestellt würden, wenn die illegal Eingereisten den Status des Asylbewerbers erlangten. Die Abschaffung des Straftatbestandes sei also im Grunde nur eine Arbeitsersparnis. Es ist ein Appell an die Faulen und Feigen im Lande.

Biedermann und die Brandstifter

Am 29.3.1958 wurde in Zürich ein Theaterstück uraufgeführt. Es hieß „Biedermann und die Brandstifter“. Ich kenne nicht den konkreten Anlass, die den Schweizer Max Frisch dazu veranlasst hat, dies Stück zu schreiben. Aber als ich jetzt nochmal den Text las, war ich verblüfft, wie viel hier auf den gegenwärtigen Blindflug unseres Landes passt. Wenn ich mich recht erinnere, haben wir in unserer Oberstufenklasse das Stück behandelt – aber es wurde eher das Spießertum des Besitzbürgers Biedermann aufs Korn genommen. Das Hauptthema des Stücks, das in geradezu klassischem Tragödienton gefasst ist (es tritt ein Chor in der Wächterrolle auf, gebildet aus Männern der Feuerwehr) ist ein anderes: Es geht um die Wehrhaftigkeit, die gegen die Brandstifter vonnöten ist. Dabei gibt es eine Schlüsselszene: Herr Biedermann ist sich im Grunde schon bewusst, dass er die Brandstifter im Haus hat. Benzinfässer und Zündschnüre sind auf seinem Dachboden deponiert. Er setzt schon an, die Brandstifter des Hauses zu verweisen… Aber dann schafft er es nicht, zur Tat zu schreiten und die Polizei zu rufen. Er lässt sich immer wieder in neue Dialogschleifen mit den Tätern verwickeln. Das Stück geht nicht gut aus.

Ich denke, man tut dem Schweizer Max Frisch kein Unrecht an, wenn man sagt, dass das Stück von der wehrhaften Demokratie handelt – oder besser: vom Vergessen der Wehrhaftigkeit. Die wehrhafte Demokratie (oder „streitbare Demokratie“) ist eine Idee, die am Anfang der Bundesrepublik Deutschland durchaus stark war. Sie war eine Lehre aus dem Scheitern der Weimarer Republik. Aber es wäre eine Verkürzung, wenn man die Aufgabe der Wehrhaftigkeit auf die Abwehr des politischen Totalitarismus von rechts und links reduziert. Das Szenario der „Brandstiftung“ und die Figuren, die Max Frisch aufbietet, weisen darüber hinaus. Die drohende Gefahr geht von jedweder umherschweifenden, willkürlichen Gewalt aus. Sie bedroht die Menschen, sie bedroht ihr Eigentum und sie bedroht „die Stadt“ – die symbolisch für das gemeinsame Eigentum der Staatsbürger steht.

Eine Staatskrise in Deutschland

Von der Wehrhaftigkeit der Bundesrepublik ist gegenwärtig kaum etwas zu spüren. Die „Öffnung“ Deutschlands scheint das oberste Gebot zu sein – sie kennt kein Gegengewicht und keine Grenzlinie mehr. Die Blockparteien des Merkelismus haben sich gegen kritische Stimmen dadurch immunisiert, dass sie sich jeden Tag einreden, hier seien Rechtsradikale am Werk. Alles nur Wahltaktik? Es ist wohl doch schlimmer: Die Parteien, die in den letzten Jahrzehnten die deutschen Politik bestimmt haben, merken nicht mehr, wie weit sie sich inzwischen vom Geist der wehrhaften Demokratie entfernt haben. Sie haben die staatliche Form der Politik weitgehend zu Gunsten eines offenen „zivilgesellschaftlichen“ Aushandlungsprozesses aufgegeben. Dass diese Offenheit nur unter günstigen Umständen funktioniert, deutete sich schon bei der Klimapolitik und der Schuldenkrise an. Bei der Migrationswelle hat sie unser Land nun in eine schlimme Falle geführt. In einer Situation, in der Deutschland gerade eine verlässliche Staatlichkeit braucht, fehlt sie uns. Es gibt noch nicht einmal ein klares Bewusstsein, was uns da fehlt und worin unsere Hilflosigkeit besteht. Deutschland hat auch die Fähigkeit verloren, vermittels der Beziehungen zu anderen Staaten zu lernen. Der gehobene moralische Ton und der feste Glaube an das „Zivile“ haben auch hier zu einer Selbstimmunisierung geführt. Die Regierung sieht ihre Öffnungspolitik als historischen Vorzug und Vorsprung gegenüber der Staatsräson anderer Länder. Sie dünkt sich besonders „europäisch“, während sie sich in der realen europäischen Staatenwelt isoliert hat. Muss man da nicht von einer deutschen Staatskrise sprechen? Das wäre die erste Krise unserer Staatlichkeit seit Gründung der Bundesrepublik.

 

 

(Manuskript vom 4.2.2016, erschienen am 5.2.2016 in meiner Kolumne auf dem Online-Portal „Tichys Einblick“)