24.12.2016

Der Terrorangriff auf den Weihnachtsmarkt in Berlin ist ein Angriff auf die Religion, die unsere Zivilisation und unsere Geschichte geprägt hat. 

Für Weihnachten kämpfen

Das Weihnachtsfest des Jahres 2016 in Deutschland ist ein verletztes Fest. Auch ein von nun an bedrohtes Fest. Der Terrorangriff auf den Weihnachtsmarkt in Berlin ist ein Angriff auf die Religion, die unsere Zivilisation und unsere Geschichte geprägt hat. Genau deshalb, weil hier etwas von den geistigen Grundlagen Deutschlands und Europas gegenwärtig ist, wurde dieser Ort zum Angriffsziel. Deshalb wurde mit eiskalter Heimtücke ein Massaker veranstaltet. Dieser Angriff ist nicht irgendein blindwütiger Amoklauf, und schon gar nicht ein „Unfall“. Er ist ein gezielter Angriff auf eine beliebte, volkstümliche Veranstaltung, die Religiöses mit Weltlichem verbindet und damit dem wichtigstes religiösen Datum dieses Landes eine öffentliche Form gibt. Weihnachten gehört nicht zu einer der vielen Minderheitskulturen im Lande, sondern zur deutschen Mehrheitskultur. Nach dem Terrorangriff vom 19.Dezember kann nicht mehr geleugnet werden, dass Deutschland – wie andere Länder auch – einem blutigen Kulturkrieg ausgesetzt ist.

Dieser Krieg wird unter Berufung auf die eigene Religion geführt – als Krieg des Islam gegen „Ungläubige“. Und dies mit einer wachsenden Anhängerschaft und Radikalität. Gewiss gibt es viele Menschen, für die der Islam etwas anderes bedeutet, aber damit schafft man das Faktum eines Kriegs mit religiöser Legitimation nicht aus der Welt. Das ist keine Nebensache. Eine fundamentalistische Bewegung, die sich auf religiöse Letztbegründungen beruft, kann man nicht wegargumentieren. Sie wird zu einer radikalen Realität, deren Dynamik für den Dialog nicht mehr erreichbar ist. Er hat schon eigene Machtpositionen erobert, mitten in Europa. Man kann sich dieser Konfrontation nicht mit dem Verweis auf den Dialog der Religionen entziehen. Deutschland muss seine kulturellen Grundlagen verteidigen. Zu dieser Selbstbehauptung gibt es keine Alternative, und das schließt die dafür notwendige Gewalt mit ein. Das Gewaltmonopol des Staates, das in Europa einst aus der Erfahrung eigener zerstörerischer Religionskriege errichtet wurde, muss heute gegen diesen Angriff aufgeboten werden. Es steht also vor einer neuen historischen Bewährungsprobe.

Aber auch wir, die Bürger dieses Landes, stehen vor einer Herausforderung, auf die wir kaum vorbereitet sind. In einem Moment, wo nicht mehr bezweifelt werden kann, dass dies Land einem Angriff auf seine Zivilisation ausgesetzt ist, sind wir gezwungen, noch einmal mit größerer Aufmerksamkeit und mit neuer innerer Anteilnahme auf das zu blicken, was „Weihnachten“ bedeutet und was dadurch in die Welt gekommen ist. Auch wenn wir modernen Menschen in vieler Hinsicht Glaubensskeptiker sind, so entdecken wir jetzt, dass es auch eine wichtige Ressource ist, einen eigenen Glauben zu haben. Dass es ein Bürgerrecht auf Glauben gibt, ohne das unsere Zivilisation ein wichtiges Standbein verliert. Ja, wir müssen für Weihnachten kämpfen. Das ist eine ganz andere Herausforderung als jene bedingungslose „Offenheit“ der Willkommenskultur, die vor einem Jahr als Konsequenz der Weihnachtbotschaft verkündet wurde.

Die moderne Magie von Weihnachten

Weihnachten hat etwas Magisches. „Mitten im kalten Winter“, wie es in einer Liedstrophe heißt, erhält die Welt einen unerwarteten Glanz. Schon in der Adventszeit werden Lichter angezündet, Tannengrün kommt in Wohnungen und Straßen; es duftet nach Gebäck, Gewürzen und warmen Getränken. In vielen Familien werden Strohsterne gebastelt und Plätzchen aus Teig gestanzt, es wird gesungen und vorgelesen. Eigentlich ist das etwas ganz Unnatürliches und Künstliches. Denn nach der Logik der Jahreszeiten wird es jetzt dunkler und kälter. Die Umwelt verschließt sich und verstummt. Da denkt man eher an die Vergänglichkeit des Daseins. Doch nun ereignet sich etwas ganz Unwahrscheinliches: Mit dem Advent erhebt sich mitten in einer abweisenden Umwelt eine Welt voller Geschichten, Bilder und Musik.

Und wenn aus den Lichtern auf dem Adventskranz – „erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier“ – am 24. Dezember der volle Christbaum wird, so ist das ganz und gar nicht ein selbstverständlicher Vorgang, sondern eine höchst unwahrscheinliche Geschichte. Sie berichtet von einem Gott, dem die Menschen und Dinge dieser Welt nicht gleichgültig sind. Advent – lateinisch adveniat – bedeutet, dass „etwas kommt“. Die kleinen Dinge der Adventszeit sind Vorboten, die zu uns aus einer unfassbaren Ferne kommen und unsere Welt aufwerten. Sie sind Zeugnisse dafür, dass Gott dieser Welt zugetan ist. Das irdische Dasein ist keine bedeutungslose, nur dem Tod geweihte Sache. Man mag die Geschichte von dem auf die Erde geschickten Sohn Gottes in vielen Einzelheiten bezweifeln, aber der christliche Glaubensgrund eines allmächtigen Gottes, der uns zugetan ist, ist darüber erhaben. Die Magie von Weihnachten reicht weit über Christi Geburt hinaus.

Unsere Welt hat Zeit bekommen

Die modernen Menschen stehen viel stärker unter dem Einfluss dieser Magie, als sie sich bewusst sind. Zu ihren Grundgewissheiten zählt, dass sie darauf bauen können, dass es eine Zukunft gibt – der Weltuntergang findet eben doch nur im Kino statt. Wie könnten die Menschen Familien gründen, Unternehmen aufbauen, den Rechtsstaat weiterentwickeln – wenn sie nicht an einen größeren Zeithorizont glauben würden? Woher aber nehmen sie die Gewissheit, dass ihnen Zeit gegeben ist? Man kann es den täglichen Katastrophen ja nicht ansehen, dass sie sich nicht zum Weltuntergang steigern. Und doch haben wir gegen solche Phantasien einen geistigen Halt.

Hier liegt eine spirituelle Schwelle, die die Neuzeit vom Mittelalter trennt. Dessen Geistesleben stand weitgehend im Schatten der Erwartung eines nahen Weltuntergangs. Man kann sich heute kaum vorstellen, in so einem Schatten zu leben. Jedes Ereignis konnte eine Drohung enthalten, jeder Freude folgte der Schrecken auf dem Fuße. Willkür und Gewalt zerhackten die Zeit und Gott wurde von einer Kaste zur Geheimsache erklärt. Eigentlich jedoch passt das Christentum nicht zu dieser finsteren Perspektive. Welchen Sinn sollte Christus auf der Erde haben, wenn diese nur auf die Apokalypse warten darf?

Die christliche Weihnachtsbotschaft kündet eben nicht vom nahen Weltuntergang. Es ist nicht das jüngste Gericht, das sich hier nähert. Eher im Gegenteil: Gott gibt der Existenz auf Erden mehr Bedeutung. Er macht den Menschen das irdische Dasein zur Gabe und Aufgabe. Uns wird Zeit gegeben – das ist die Botschaft. Deshalb strahlt das Christentum eine Ruhe aus, die der Geschichte noch ganz fremd ist. Obwohl die Einrichtung der Adventszeit auf das 7. Jahrhundert zurückgeht, steht der Advent in einem Spannungsverhältnis zur Mentalität des Mittelalters. Er weist über es hinaus, in die Neuzeit.

Hier kommt Weihnachten im Grunde erst wirklich zum Zug. Erst hier wird es zum Angelpunkt des gelebten christlichen Glaubens. Weihnachtslieder wie „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“, „Wie soll ich Dich empfangen“ oder „Es kommt ein Schiff geladen“ datieren aus dem 17. Jahrhundert. Den ersten Adventskranz ließ der Theologe Johann Hinrich Wichern 1839 im „Rauhen Haus“ in Hamburg aufhängen. Und der Adventskalender mit seinen 24 Türen ist eine Erfindung des 20. Jahrhunderts.

Das Christentum ist eine späte Religion

Könnte es also sein, dass Weihnachten eine Botschaft von Gott bringt, die uns Menschen erst verspätet erreicht? Kommt der tiefere Sinn des Christentums vielleicht erst mit der Neuzeit bei uns an? Die Wahrheit des christlichen Glaubens beruft sich ja nicht auf ein Erstgeburtsrecht. Das Christentum ist eine späte Religion. Es hat seinen Weg gerade erst begonnen.

Weihnachten zeigt einen merkwürdigen Zusammenklang von Religiösität und Säkularität. Der Glaube hat Melodien und Bilder gefunden, die Demut und Vertrauen in eine offene Welt bringen. Zugleich ist die Tatkraft der Menschen gewachsen. Entdeckerdrang, Wirtschaftsgeist und Landesstolz füllen die Erde und geben ihr Glanz. Bisweilen ist das zu grell, aufdringlich und maßlos – wie die Menschen eben so sind. Und doch strahlt die Magie von Weihnachten erhaben über diese Kurzatmigkeit hinweg. Das Lichtermeer der Großstadt zelebriert auf seine Weise das Geschenk der Zeit, die uns gegeben ist und die in der Dinglichkeit des Weihnachtsfestes auch materiell verwirklicht wird.

Die Weihnacht ist, wohlgemerkt, etwas, das von außen in die Welt kommt, das uns gegeben ist. Das „adveniat“ des Advent ist hier wörtlich zu nehmen: Etwas kommt. Das menschenzentrierte Denken der Gegenwart kann so etwas eigentlich gar nicht in Gedanken fassen. Es sucht immer nach einem menschlichen „Bedürfnis“, das nach Gott verlangt. Ein Bedürfnis, das ihn sozusagen herbeiholt. So stellt sich das menschenzentrierte Denken die Religion als eine soziologische oder psychologische „Funktion“ vor. Dann freilich verliert die christliche Botschaft ihren fordernden und anspornenden Charakter. Die Gabe der Zeit wird nicht zum Ansporn. Die Religion wird zur bloßen Bedürfnisbefriedigung. Zum Trost der Menschen. Zu ihrer Beruhigung. Diese Sicht raubt dem Christentum die Größe seines Glaubens und nimmt ihm seinen Stachel zur weltlichen Bewährung. Sie lässt auch das Besondere der Weihnacht verblassen. Umso wichtiger ist es, dass dies Besondere der Weihnacht zu verteidigen und nicht aus unserem, kulturellen Erbe entfernen zu lassen. Wir feiern hier ein Geschenk, vor dessen Größe wir uns bewähren müssen.

Zur heiligen Nacht versammelt sich, der Welt und Zukunft zugewandt, das christliche Abendland.