Eine Mehrheit der Bürger tritt für eine Erweiterung der Video-Überwachung im öffentlichen Raum ein. Opfert sie damit ihre Freiheit? 

Der kühle Blick des Kamera-Auges

In letzter Zeit häufen sich die Fälle, bei denen Aufnahmen der Video-Überwachung (zum Beispiel in Bahnhöfen) zur Überführung von Gewalttätern geführt haben. Ebenso gibt es Fälle, wo das Fehlen solcher Kameras dazu führte, dass Täter verspätet oder gar nicht gefasst werden konnten. Auch ganz allgemein gilt: Wir wüssten sehr viel weniger über die Brutalität von Terroranschlägen, von willkürlichen Angriffen auf Passanten, von sexueller Nötigung und von heimtückischem Diebstahl, wenn nicht die Bilder der Videoüberwachung zur Verfügung ständen. Deshalb ist es kein Wunder, dass ihr Ausbau im öffentlichen Raum von einer großen Mehrheit befürwortet wird.

Und doch meldeten sich in den vergangenen Wochen auch massive Bedenken gegen einen solchen Ausbau. Die Einwände kamen von durchaus prominenter Stelle. Am 27.12.2016, also kurz nach dem Berliner Terroranschlag, erklärte der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, Jens Gnisa, dass eine Erweiterung der Videoüberwachung unverhältnismäßig sei, weil sie „die Freiheit einer Vielzahl von unbescholtenen Bürgern, die selbst keinen Anlass für Überwachung schaffen“ einschränke. Es wird also im Namen der Freiheit der Bürger argumentiert. Man sollte solche Argumente also ernsthaft prüfen.

Das gilt umso mehr, als es gegenwärtig ein zweites Feld gibt, auf der eine verstärkte Überwachung gefordert wird – diesmal vor allem von den Regierenden. Es geht um das weite Feld der Meinungsäußerungen im Internet. Hier wird die Einrichtung einer Kontrollkommission gefordert, die alle Beiträge herausfiltern soll, die „Falschinformationen“ und „Hass“ enthalten. In einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (16.1.2017) forderte der Rechtsprofessor Rolf Schwartmann eine solche „Institution der Selbstkontrolle“. Sein Artikel beginnt mit dem Satz „Demokratie braucht Debatten ohne Hass und Verzerrung“. Das wäre eine Art Wahrheits- und Moral-Aufsicht und zweifellos eine erhebliche Einschränkung der freien Meinungsäußerung der Bürger.

Pluralismus und Sichtbarkeit

So haben wir es mit zwei Feldern zu tun, auf denen es um Freiheit geht – genauer: um den öffentlichen Gebrauch der Freiheit. Das könnte dazu verführen, beide Felder in eins zu setzen und nach einer einheitlichen „prinzipiellen“ Regel zu suchen. Entweder also eine Zurückweisung jeglicher Beobachtung der Öffentlichkeit – weder Video-Beobachtung noch Wahrheits-Kommission. Oder eine doppelte Einschränkung der Öffentlichkeit – sowohl Ausbau der Video-Beobachtung als auch Einrichtung einer Meinungs-Kontrollinstanz. Doch dies Nein-Nein oder Ja-Ja ist abstrakt und realitätsfern. Eine nähere Betrachtung der Sachverhalte und Rechtsgüter, um die es geht, legt es nahe, zwischen beiden Feldern zu unterscheiden. Ich plädiere für einen Ausbau der Video-Überwachung und gegen eine neue Meinungs-Kontroll-Instanz.

Eine unabhängige Öffentlichkeit lebt von ihrem Pluralismus, also davon, dass sie Meinungsfreiheit auch für Extreme gewährt – in dem Vertrauen auf die Fähigkeit der Menschen, von ihrem eigenen Verstand Gebrauch zu machen. Dies gelingt aber nur, wenn sichergestellt wird, dass die Öffentlichkeit nicht zu einem Ort der Gewalt und der Verdrängung wird. Wenn also verhindert wird, dass die Offenheit dazu führt, dass das Recht des Stärkeren regiert. Tatsächlich ist im Konzept „Öffentlichkeit“ schon ein wichtiges Schutzmittel enthalten: die Sichtbarkeit der Personen. Sie bietet eine gewisse Gewähr dafür, dass man für Handlungen, die die Freiheit der Anderen verletzen, haftbar gemacht werden kann. Die Regel der Sichtbarkeit, zu der dann auch eine erweiterte Videoüberwachung gehört, ist Schutz vor Gewalt und Friedensgarantie im öffentlichen Raum. Sie ist keine Verpflichtung auf bestimmte Meinungen oder Werte. Sie erfordert keinen „Konsens“, sondern verträgt sich mit einem uneingeschränkten Pluralismus der Meinungen und Lebensstile.

Wahrscheinlich geht es vielen Menschen so wie mir: Ich bin sehr skeptisch gegenüber einer Kommission, die darüber befinden soll, ob meine mündlichen oder schriftlichen Äußerungen „Verzerrungen“ oder “Hass“ enthalten. Ich misstraue dem Machtanspruch einer solchen Kommission. Denn sie müsste ja über einen höheren Standpunkt verfügen, von dem aus man das „wahre“ Wissen und die „richtige“ Moral bestimmen kann. Und zugleich müsste sie auch sehr tief in meinen Kopf und meine Seele blicken können. Hingegen empfinde ich ein solches Misstrauen nicht gegenüber den Kameras eines videoüberwachten Bahnhofs. Zwar weiß ich nicht, wer sich die Bilder anschaut und was aus ihnen wird. Aber es sind nur Bilder. Sie sind mir äußerlich. Aus ihnen sind meine Gedanken nicht zu ersehen. Die Kamera greift deshalb nicht stark in meine Lebensführung oder mein Denken ein. Ich finde, dass sich die Video-Beobachtung nicht wesentlich von der öffentlichen Beobachtung durch Nachbarn und Passanten unterscheidet, der ich mich aussetze, wenn ich aus dem Haus auf die Straße trete.

Einen Videobeweis für Gesinnungen gibt es nicht. Der Videobeweis funktioniert aber dort sehr gut, wo zur Tat geschritten wird. Die physische Realität, die dadurch hergestellt wird, ist optisch beobachtbar. Die Oberflächlichkeit des Blicks ist hier kein Hindernis. Das Bildmaterial bietet auch weniger Spielräume für Interpretationen – und daher weniger Ansatzpunkte für Täuschungen und Vorurteile.

Das technische Auge und die großstädtische Zivilisation

Die Video-Technik tut nichts wesentlich Anderes als das menschliche Auge. Die Technik erweitert nur manche Möglichkeiten. Das Kamera-Auge kann über lange Zeiten gleichmäßig wachsam sein, ohne Ablenkung oder Ermüdung. Es kann räumlich Positionen einnehmen, die Menschen nicht einnehmen können. Es kann an das Objekt „heranfahren“ und es vergrößern. Andersherum gezoomt, kann es einen weiteren Ausschnitt aus der Gesamtsituation liefern. Die Video-Technik kann Bilder und Bildsequenzen speichern und sie ohne Veränderungen beliebig oft wiedergeben. Sie ist in dieser Hinsicht ein verlässlicher Zeuge. Ebenso lassen sich Kameraaufnahmen schnell elektronisch übermitteln. Gewiss, die kalte, unbeeinflussbare Sachlichkeit des Kamera-Objektivs kann einschüchtern, weil sie für den Beobachteten undurchschaubar und unerreichbar ist. Der Beobachtete kann nicht erkennen, was oder wer „hinter der Kamera steht“ (Big brother…). Aber er kann wissen, dass die Kamera nicht tiefer in seine Persönlichkeit blickt als ein menschliches Auge.

Entspricht die These von der einschüchternden Wirkung der Kameras wirklich unserem Zivilisationsstand? Es ist gut ein Jahrhundert her, dass die Menschen angesichts einer sprunghaften Zunahme der Großstädte in Deutschland lernen mussten, sich in großen, anonymen Menschenmassen auf der Straße zu bewegen – und damit einer Beobachtung durch Zigtausende von Augenpaaren ausgesetzt zu sein. Der Kulturphilosoph Georg Simmel („Die Großstädte und das Geistesleben“, 1903) hat beschrieben, wie die Großstadt-Menschen sich in dieser Situation eine „Schutzschicht“ zulegten, die es ihnen ermöglichte, sich unter dem Beobachtungsdruck doch frei zu bewegen. Heute sind wir längst in einer neuen Phase dieses Zivilisations-Prozesses: Die Bürger lernen, in Bahnhöfen, Fabriken, Einkaufszentren, Gerichtsgebäuden, Schulen oder Wohnanlagen mit den Kamera-Augen zu leben. Auch dieser Stress ist schon dabei, zivilisatorisch verarbeitet zu werden.

Der Einwand „Generalverdacht“ und die Forderung nach „informationeller Selbstbestimmung“

Es ist hierzulande üblich geworden, bei den verschiedensten Anlässen eine Kontrollregelung des Staates für illegitim zu erklären, indem man behauptet, damit würde ein „Generalverdacht“ gegen die Bürger erhoben. Die Regelung sei daher „unverhältnismäßig“. Aber jedes allgemeingültige Gesetz verlangt zu ihrer Umsetzung allgemeine Kontrollen, um dann Gesetzesbrecher herausfiltern zu können. Daher weist jede Gesetzesanwendung im ersten Schritt ein extremes Missverhältnis zwischen der Zahl der erfassten Personen und der Zahl der Gesetzesbrecher auf – man denke an Geschwindigkeits-Kontrollen im Straßenverkehr, an Einzeltische bei Prüfungsklausuren, an automatische Einkommens-Meldungen bei den Finanzämtern, an die Meldepflicht der Bürger, an die Steuer-Ident-Nummern, die KFZ-Kennzeichen… Dies alles trifft zweifellos „eine Vielzahl von unbescholtenen Bürgern“ (Jens Gnisa). Aber solche Einwände zeigen nur, wie viel Staatsfremdheit heute in Umlauf ist – und oft auch Richter-Roben trägt.

Durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist ein Grundrecht definiert worden, das ausgesprochen weit gefasst ist und in seinen Konsequenzen für andere Rechtsgüter noch gar nicht hinreichend geprüft ist: die „informationelle Selbstbestimmung“. Diese Selbstbestimmungs-Idee geht über die Einzelrechte „Brief- und Fernmeldegeheimnis“, „Datenschutz“, „Unverletzlichkeit der Wohnung“ hinaus. Sie wird nun auch gegen die Video-Überwachung ins Feld geführt. Sie wäre dann so etwas wie ein grundsätzliches Abbildungsverbot ohne Einverständnis des Abgebildeten. Der Bürger würde demnach seine sichtbare Erscheinung mit sich führen wie sein Privateigentum. Er würde darüber verfügen wie über seine Wohnung oder sein Auto. Dann freilich würden schon alle bereits installierten Kameras im öffentlichen Raum – zum Beispiel in Bahnhöfen – gegen Grundrechte verstoßen. Vor allem aber wäre dann ein anderes gemeinschaftliches Rechtsgut in seinem Kern getroffen: die Öffentlichkeit. Wird die informationelle Selbstbestimmung zu einem überall geltenden „Recht auf Verborgenheit“ wird der öffentlichen Sphäre das genommen, was sie von der Privatsphäre unterscheidet. Ihr wird das Lebenselexir genommen. Und auch der spezifische Schutzmechanismus der Öffentlichkeit – Haftbarkeit durch Sichtbarkeit – würde zerstört. An frei zugänglichen Orten würden Heimtücke, Willkür und Verdrängung aufblühen.

Die besondere Qualität des öffentlichen Raums

Wenn es im gegenwärtigen Streit darum ginge, die Privatsphäre vor den zudringlichen Blicken der Kameratechnik zu schützen, wäre das völlig richtig. Aber es geht um die öffentliche Sphäre. Und es geht darum, ob es überhaupt eine solche Sphäre mit einem spezifischen Charakter gibt. Das ist der Hintergrund des ganzen Streits um die Video-Überwachung, aber auch um die Vollverschleierung (Burka). Ist „Öffentlichkeit“ nur ein Nebeneinander von Privatexistenzen? Von Monaden, die genauso nebeneinanderstehen, wie es Privathäuser in der Stadt tun? Die sich genauso aneinander vorbei bewegen, wie es private Fahrzeuge im Straßenverkehr tun? Wenn das die neue Rechtsordnung sein soll, dann würde allerdings eine grundlegende Errungenschaft der modernen Zivilisation beseitigt. Ein entscheidender historischer Beitrag, den der Westen in die Welt gebracht hat, würde zu Gunsten eines spannungslosen Nebeneinanders gelöscht.

Freiheit und Öffentlichkeit sind nicht identisch, denn auch die Privatsphäre ist eine Bedingung der Freiheit. Aber durch die Sphäre der Öffentlichkeit wird die Freiheit vergrößert. Die Öffentlichkeit speist sich aus der freien Konkurrenz der Ideen, Meinungen und Erfahrungen. Und die Freiheit erweitert ihre Reichweite, indem sie zwanglos und geschützt vor Gewalt den öffentlichen Raum betritt. Davon handelt auch der Artikel 8, Absatz 1 des Grundgesetzes: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“

Eine kluge gesetzliche Regulierung müsste zum einen strikt die Privatsphäre von der Kamera-Beobachtung freihalten. Zum anderen müssten in der öffentlichen Sphäre unterschiedliche Räume unterschieden werden. Es kann nicht darum gehen, die gesamte öffentliche Siedlungsfläche der Bundesrepublik mit Kameras zu erfassen. Vielmehr gibt es zwei Raumtypen, bei denen die Kameras gute Dienste erweisen können. Dienste, die durch andere Mittel (zum Beispiel Polizeipräsenz) nicht darzustellen sind, und bei denen bisher in Deutschland eine Video-Überwachung kaum stattfindet. Der eine Raumtyp sind „übervolle“ Orte und Plätze, in deren Gedränge sich Übergriffe schwer entdecken und verfolgen lassen. Der zweite Raumtyp sind „halbleere“ Orte (Durchgänge in Grünanlagen, einsame Haltestellen, Passagen zu Bahnhöfen, Parkplätze und Parkhäuser, Zuwege zu größeren Wohnanlagen…), wo Menschen regelmäßig (aber oft allein) anzutreffen sind und ihnen aufgelauert werden kann. Wenn es um einen Ausbau der Video-Überwachung geht, dann wäre er in diesen beiden Raumtypen am dringlichsten.

Kühler Blick oder eiskaltes Schulterzucken

In Berlin hat der rot-rot-grüne Senat jede Erweiterung fest installierter Video-Überwachung im öffentlichen Raum abgelehnt. Nur bei bestimmten Veranstaltungen soll es der Polizei erlaubt werden, für ein paar Stunden oder Tage Kameras zu installieren. Damit wurden gerade jene Anwendungen ausgeschlossen, bei denen die spezifischen Stärken der Kameratechnik zur Geltung kommen. Der Blick der Kamera-Augen mag ja kühl sein. Aber er ist immer noch wärmer als die eiskalte Rücksichtlosigkeit, mit der manche politischen Kräfte im Lande ungesühnte Verbrechen und frei herumlaufende Täter in Kauf nehmen.

 

 

(Der Text ist die Ausarbeitung eines Kurzvortrags, den ich zur Einleitung einer Diskussionsveranstaltung des Freiblick-Instituts zur Video-Überwachung am 26.Januar in Berlin gehalten habe; publiziert am 11.2. in meiner Kolumne bei „Tichys Einblick“)