Wenn ein Land vor existenziellen Umbauten steht, ist das Modell „Souveränität“ besser als das Modell „Retten und Reformieren von höherer Hand“. (Ein Essay vom Juli 2014)

Ernstfall Frankreich

In der Außenansicht der französischen Krise ist ein gewisser Leichtsinn unübersehbar. Viele Kommentare erwecken den Eindruck, dass sich alles leicht regeln ließe, wenn die Franzosen nur nicht so engstirnig wären und sich gegen äußere Einflüsse sperren würden. Dabei müsste man die Geschichte genau andersherum erzählen: Frankreich steht seit längerer Zeit vor Anpassungen in einem historischen Ausmaß und die Mitgliedschaft in der Europäischen Union hat das Land nicht motiviert, diese schmerzhafte Aufgabe anzupacken. Das „Projekt Europa“ nährte die Illusion einer leichten Flucht ins Größere. Die EU ist also nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Dass Nationen einen Rückbau bewältigen müssen, um dann – befreit vom Ballast falscher Ansprüche – ihre Freiheit und Selbstachtung wiederzugewinnen, ist eigentlich normal. Dabei kann es auch einer starken Nation passieren, dass sie vor diesem Schritt zurückschreckt und eine Zeit lang wie gelähmt ist. Das ist keine Schande. Man denke nur an Deutschlands Schwierigkeiten, im 19. Jahrhundert von der Scheingröße des Reichs zu einer begrenzten, aber dafür modernen Nation zu finden.

Das nächste Kapitel der französischen Geschichte müsste also von einem Einschnitt handeln – und das gilt auch für manch anderes Land in Europa. Unsere Nachbarn stehen vor einer Durststrecke und wenn es wirklich einen europäischen Geist gibt, dann müsste er jetzt Empathie für diese Situation haben. Dazu gehört auch, dass man versteht, dass der zukünftige Rang Frankreichs nicht ganz leicht zu bestimmen. Einerseits ist man nicht mehr auf Augenhöhe mit Deutschland, ganz zu schweigen von den außereuropäischen Großmächten. Andererseits ist man zu groß, um sich im europäischen Politiksystem einfach nur mitziehen zu lassen. Der häufig wiederholte Vorwurf, dass Frankreich sich nicht mit einem Rangverlust abfinden könne, verdeckt das objektive Problem seiner zukünftigen Einordnung.

Die Grundfrage lautet also, wie ein Land eine Durststrecke ohne sicher vorhersagbaren Gewinn aushält, und hier gibt es ein gutes – zumindest ein bedenkenswertes – Argument zu Gunsten der Freiheit: Wenn man einen großen Verlust hinnehmen muss, ist es besser, ihn aus eigener Einsicht und in selbstständigen Schritten eingeht. Das meint der etwas altbacken klingende Begriff der „Souveränität“. Eine Durststrecke kann als Werk der Selbstbehauptung bewältigt werden und so zu einer Quelle der Selbstachtung werden. Denn die Krise bleibt dann nicht eine Geschichte von fremder, höherer Hand, sondern wird zu „meiner“ oder „unserer“ Geschichte. Sie wird Eigentum einer Nation und gehört fortan zu ihren Beständen. Wenn es also wirklich hart auf hart geht, ist Souveränität eine moralische und realpolitische Ressource. Man darf sie allerdings nicht als pompöse Alleinherrschaft oder selbstgewisse Autarkie verstehen, sondern als nüchterne Zuordnungsregel, die ganz praktisch eindeutige Verantwortungen herstellt. Erst durch Souveränität wird Verantwortungsethik politisch umsetzbar.

An dieser Stelle wird ein grundlegender Unterschied zur EU-Politik in der Schuldenkrise deutlich. Man muss diese Politik gar nicht dämonisieren und kann durchaus einräumen, dass sie in bestimmten Problemlagen sinnvoll ist. Aber sie ist eine Lösung mit schwachen Mitteln, denn sie ist eine Art Tauschgeschäft: Sie stellt einem Land Zuwendungen in Aussicht und verlangt als Gegenleistung Reformzusagen. Sie gewährt Hilfszahlungen und fordert als Gegenleistung Kürzungen im Staatshaushalt. Wo Reformen auf diese Weise „gekauft“ werden, kommt Souveränität nicht mehr vor – weder auf Seiten des Krisenlandes noch auf Seiten der helfenden Instanz. Nicht zufällig bestimmt inzwischen eine geldadministrative Einrichtung, die Europäische Zentralbank, weitgehend den Gang der Dinge. Die Logik des Tausches funktioniert allerdings nur, wenn Leistung und Gegenleistung zeitnah erfolgen, kommt es zu längeren Durststrecken, bricht das Klein-Klein des Tauschgeschäfts zusammen. Das ist bei der französischen Krise der Fall. Sie wird damit zum Ernstfall, der die Rettungspolitik und das EU-Politiksystem insgesamt überfordert.

Vor diesem Hintergrund werden die starken Verschiebungen, die die politische Landschaft Frankreichs gegenwärtig erfährt, verständlicher. Es sind nicht die Reformverweigerer, die die Souveränität betonen, sondern diejenigen, die die Härte der Reformen, die In Frankreich notwendig sind, ernst nehmen. Diejenigen, die die Lage immer noch schönreden und leichtsinnig ein subventioniertes Herauswachsen aus der Krise in Aussicht stellen, sitzen in der Regierung (und in den Parteien der vorhergehenden Regierung).

In der neuen Opposition in Frankreich ist ein wiedererwachter Eigensinn unübersehbar. Im Ärger und Hohn über die allzu durchschaubaren Manöver der etablierten Partei findet man selten eine Nostalgie vergangener Größe, eher schon einen guten Schuss französischen Alltagsanarchismus. Und es sind nicht nur Gefühle im Spiel, sondern auch scharfer politischer Verstand. Hier sprechen nicht biedere Provinzler, sondern Menschen, die mitten im Berufsleben stehen und die Situation in Betrieben und öffentlichen Einrichtungen kennen – dem Establishment sind mittlerweile viele Fachleute und Führungskräfte abhandengekommen. Eine Diskussion über die Lage der Nation ist in Gang gekommen, bei der ein Merkmal bedeutsam ist: Der Stimmungswandel zu Gunsten des Eigenen geschieht nicht, weil man die Lage der Nation für „leicht“ hält und glaubt, mit ein bisschen „Ausländer raus“ und Abkopplung vom Weltmarkt wäre alles zu lösen. Nein, man sieht die kommende Durststrecke.

Aus dieser Opposition spricht ein größerer Krisenernst als aus jenen, die formelhaft den „Ausweg Europa“ befürworten. Viele Franzosen erinnern sich auch daran, dass die EU in ihrem Ursprung eigentlich nicht Avantgarde sondern Nachhut war – eine Schutzgemeinschaft kleinerer Interessen, Kohle- und Stahl-Kartell, Landwirtschafts-Protektor, Schutzpatron zurückgebliebener Regionen. So ist der Eigensinn in Frankreich auf dem Weg, tatsächlich ein konkurrenzfähiges politisches Programm zu werden. Diese Perspektive wird an Plausibilität gewinnen, je länger die Krise dauert. Im Ernstfall hat das Modell „Souveränität“ hat die stärkeren Gründe für sich.

 

(Diesen Essay habe ich für die Tageszeitung „Die Welt“ geschrieben. Er erschien dort am 17 Juli 2014 unter der missverständlichen Überschrift „Reformen à la francaise“)