Der G20-Gipfel in Hamburg ist nicht als Austausch zwischen souveränen Staaten geplant, sondern als eine Unterordnung aller unter sogenannte „Weltthemen“. Da sitzen auch die Gipfelprotestierer im gleichen Boot. 

Die Trugbilder der Globalpolitik

An diesem Wochenende versammeln sich die Staats- und Regierungschefs der größten Industrie- und Schwellenländer. Es wäre denkbar, dass dies Gipfeltreffen dazu dient, sich über die Interessen der verschiedenen Länder auszutauschen und bestimmte Vorhaben zu vereinbaren. Doch in unserer Gegenwart sind solche Treffen fast automatisch mit der Erwartung verbunden, man habe sich mit der Gestaltung der Welt „als Ganzer“ zu befassen. Mit dem „Weltklima“, mit der „Weltmigration“, mit der „Weltgesundheit“ und so weiter. An die Stelle der internationalen Politik tritt damit die Globalpolitik. Die Fiktion eines Gemeingutes „Die Welt“ soll eine besonders umfassende, verantwortungsvolle und daher „gute“ Politik begründen. Wer bei diesem Kollektiv nicht mitmacht, wird unter den Verdacht gestellt, „Abschottung“ zu betreiben. Damit behauptet die Globalpolitik, der einzig mögliche Weg in die Zukunft zu sein.

Diese Politik wird in Hamburg, unter der G20-Präsidentschaft von Merkel-Deutschland, besonders selbstgewiss präsentiert. Der Bericht der FAZ (30.Juni) über die Regierungserklärung zum G20-Gipfel vor dem Bundestag steht unter der Überschrift: „Merkel stellt sich gegen Trump: Für offene Märkte und Klimaschutz“. Unübersehbar dienen die Weltthemen dazu, Deutschland in eine Führungsrolle zu schieben. Ganz in diesem Sinn ist es auch, dass in Hamburg das Thema „Afrika“ zur Gemeinschaftsaufgabe von G20 erklärt wird. „Unser Schicksal sind die Afrikaner“ erklärt der EU-Haushaltskommissar Oettinger, und schon sind „wir“ wieder in einem Weltrettungs-Szenario, in dem alle Sanierungsaufgaben der Nationalstaaten und Nationalökonomien zweitrangig erscheinen. So ist schon vordefiniert, was in Hamburg „die Frage ist“ und was nicht.

Global-Liberale und Global-Linke

Das Beispiel „Afrika“ zeigt ebenso wie die Beispiele „Klima“ oder „Migration“, dass die Globalpolitik nicht nur ein Mittel für die Reichen und Mächtigen ist. Auch eine globalisierende Linke benutzt die tabula rasa einer Welt ohne Binnengrenzen, um die Regeln von Rechtsstaat und Marktwirtschaft außer Kraft zu setzen. Nicht nur die smarten Freerider der Globalisierung, sondern auch ein bunter Haufen von Gleichmachern beansprucht für sich, im Besitz der globalen Wahrheit zu sein.

So kann man in Hamburg ein bizarres Paar aus Globalliberalen und Globallinken beobachten, das sich aufs heftigste bekämpft und sich doch in einem Punkt vollständig einig ist: Beide nehmen für sich in Anspruch, jenseits des Pluralismus der Nationen eine Welt aus einem einzigen Prinzip zu konstruieren, das zwingend „unsere Zukunft“ bestimmen soll. Beide tragen damit, jeder auf seine Weise, zum Trugbild einer unaufhaltsamen Globalisierung bei. Und bei näherem Hinsehen ist zu erkennen, dass Frau Doktor Merkels Weltpolitik sich aus beiden Lagern bedient, um Deutschland in die Rolle des weltpolitischen Schulmeisters zu hieven. Deshalb servierte sie dem Bundestag das Paar „offene Märkte und Klimaschutz“.

Allerdings findet das G20-Treffen zu einem Zeitpunkt statt, wo die Globalpolitik fragwürdig geworden ist. Das hat damit zu tun, dass die Kosten und Gefahren des Eine-Welt-Systems deutlicher hervortreten. Aber auch damit, dass die Zuwachsraten des Welthandels und der globalen Mobilität geringer werden. Das Globale hat einen Teil seiner Dynamik und seiner Magie eingebüßt. Das gilt für die Gruppe der Schwellenländer, deren Binnenentwicklung mehr Gewicht bekommen hat und immer weniger über einen Kamm zu scheren ist. Das gilt aber auch für die Gruppe der Industrieländer, die sich auch auseinanderentwickelt hat. Hier hat das Jahr 2016 mit dem Brexit-Votum und der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten gezeigt, dass die Bannkraft der „Weltthemen“ auch in zwei Stammländern der Moderne nachgelassen hat. Allerdings wäre es übertrieben, schon von einer Verabschiedung der Globalpolitik zu sprechen. Es gibt noch viele Fragezeichen, welche Alternativen wirklich tragfähig sind. So ist die Gesamtlage in diesem Sommer 2017 uneindeutig.

Diese Situation legt es eigentlich nahe, alle möglichen Alternativen mit Sorgfalt und Respekt zu prüfen. Ein forciertes Beiseite-Wischen aller offenen Fragen wäre töricht. Doch scheint genau dies der Geist zu sein, der die neue Weltpolitik Deutschlands umtreibt und seinem internationalen Auftreten etwas allzu Drängendes und Bekenntnishaftes gibt. Dadurch ist auch der Hamburger Gipfel zu einem hochaufgeladenen Ereignis geworden. Die deutsche Präsidentschaft will den Eindruck erwecken, der Trend der Globalisierung sei ungebrochen und die Bundeskanzlerin würde die Fahne der Globalpolitik nun mit neuem Schwung vorantragen.

Welche Antwort auf die Deindustrialisierung?

Beharren wir stattdessen auf den offenen Fragen. Ein entscheidendes Motiv für die Ablehnung der Globalpolitik war ja die Erfahrung der Deindustrialisierung. Man muss von einer großen Brachlegung sprechen, die in der Realwirtschaft vieler Länder stattgefunden hat. Hat die Globalpolitik neue Antworten auf diese Brachlegung gefunden? Es fällt auf, dass die Statements ihrer Anhänger sehr allgemein ausfallen. Wer sich von der internationalen Arbeitsteilung fernhalte, sei „alles andere als frei, sicher und wohlhabend“, fertigt Klaus-Dieter Frankenberg in der FAZ (8. Februar) seine Leser ab. Ähnlich schlicht ist die Formel, dass Welthandel und Wohlstand „schon immer“ miteinander verbunden gewesen seien. Aber auch von denen, die Probleme sehen, werden die „Verlierer“ meist nur als Untergruppe in einer insgesamt positiven Bilanz geführt. In einem FAZ-Artikel („Die Revolte gegen die Globalisierung“, 12.November 2016) zitiert Philip Plickert den Arbeitsmarktforscher David Autor vom Massachusetts Institute of Technology (MIT). Dieser spricht davon, dass diejenigen, die durch die Deindustrialisierung arbeitslos werden, entweder arbeitslos bleiben oder nur schlecht bezahlten Ersatz finden. Ähnlich wird der Ökonom Michael Burda zitiert. Er konstatiert die Hartnäckigkeit der Probleme. Aber dann erweckt er doch den Eindruck, es sei möglich, die Verlierer an den Gewinnen der Globalisierung zu beteiligen. Man müsse nur wollen: „Die Eliten haben versagt, diesen Menschen mitzunehmen“, sagt Burda, und weiter: „Wir Ökonomen haben auch versagt, weil wir auf den zweiten Teil des Grundsatzes für den Freihandel nicht bestanden haben.: Die Verlierer des Freihandels müssen kompensiert werden.“ Kann man also die Länder, die ihre Industrie verlieren, irgendwie „abfinden“? Braucht die Welt so etwas wie einen globalen Sozialplan? Kann man das, was die nationale Sozialpolitik in einzelnen Betrieben und Regionen macht, beliebig im größeren Maßstab fortsetzen? Wenn ein ganzes Land seinen industriellen Charakter verliert, wird das nicht gelingen, denn es verliert seine realwirtschaftliche Grundlage und damit die Basis seiner Selbstbehauptung. Hier sind die Worte „Mitnehmen“ oder „Kompensieren“ nur wohlmeinende (oder zynische) Beschönigungen. Man muss feststellen: Auf das Problem, dass die globale Arbeitsteilung zunehmend exklusiv wirkt und den Pluralismus der Volkswirtschaften untergräbt, hat die Globalpolitik auch im Jahr 2017 keine Antwort.

Mitte Mai besuchte der Bundesaußenminister (und vorherige Bundeswirtschaftsminister) die alte Hauptstadt des Stahls im Bundesstaat Pennsylvania, Pittsburg. Der begleitende FAZ-Bericht (18.Mai) behauptet, dass der Stadt der Strukturwandel „von der alten Industriemetropole zu einem Zentrum anspruchsvoller Dienstleistungen einigermaßen gelungen ist“ und registriert erfreut, dass es in der Stadt keine Trump-Mehrheit gab. Die nähere Beschreibung zeigt dann aber, dass hier ein hochselektiver Prozess abläuft, und man keineswegs von der „neuen Urbanität“ auf das ganze Land schließen darf. „Für die Regierung“, so heißt es in der FAZ, „arbeiten in Pittsburg heute mehr Menschen als für die Industrie, das Gleiche gilt für das Gastgewerbe. Sogar dreimal so viele Arbeitnehmer verdienen ihr Geld im Gesundheits- und Bildungssektor der Stadt.“ Hier, bei den prosperierenden Branchen im städtischen Raum, liegt aber noch ein anderes, tieferes Problem: Diese Branchen beruhen auf Märkten und Arbeitsplätzen, die durch die verschiedensten Formen von öffentlichen Zuwendungen und durch die Politik des billigen Geldes subventioniert sind. Sie beruhen auf einer politisch gestützten Nachfrage.

Der keynesianische Protektionismus

Die Rede von der fortschrittlichen Globalisierung erweckt immer den Eindruck, dass sie eine erhöhte Produktivität durch die internationale Arbeitsteilung mit sich bringt. Man führt Adam Smith und David Ricardo an, obwohl die heutige Globalökonomie von den Wertschöpfungsfragen der klassischen Ökonomie gar nichts weiß und wissen will. Stattdessen denkt man in Umsatzgrößen und setzt auf die Konjunkturstimulation à la Keynes. Wir leben in Zeiten eines global ausgedehnten und auf Dauer gestellten Keynesianismus. Die Ökonomie wird durch eine Politik des billigen Geldes künstlich beatmet. Die Weltschuldensumme von Staaten, Unternehmen und Haushalten beläuft sich inzwischen auf 215 Billionen Dollar (die Industrieländer liegen dabei weit vor den Schwellenländern). Das Missverhältnis zur realwirtschaftlichen Wertschöpfung und Kapitalbildung wird immer größer. So liegt der Keynesianismus wie eine unsichtbare, aber ständig präsente Schutzhülle über dem gesamten Wirtschaftsgeschehen. Ein Verzicht auf diese Hülle erscheint völlig unmöglich. Vor diesem Hintergrund ist die anklagende Rede gegen den „Protektionismus“ eine gigantische Irreführung. Sie blendet den viel umfangreicheren keynesianischen Protektionismus aus.

Ihr wollt den Protektionismus der Einfuhrbeschränkungen zum Feind der Menschheit erklären? Ihr selber veranstaltet einen viel größeren Protektionismus: den Nachfrage-Protektionismus. Ihr wollt Vertreter der wirtschaftlichen Freiheit sein? Aber an Eurer Wirtschaft klebt an jeder Ecke der Kuckuck mit der Aufschrift „Gefördert durch staatliche Zuwendung“. Eurer Politik des billigen Geldes kennt nicht die Würde der Wertschöpfung aus eigener Kraft. Euer Liberalismus ist nur durch Fremdbeatmung lebensfähig. Eure Freiheit ist eine Schein-Freiheit, die in Wirklichkeit dem Motiv der wirtschaftlichen Selbstbehauptung misstraut, sowohl bei den Unternehmern als auch bei den Arbeitern.

Und die Linke? Jeremy Corbyn, Bernie Sanders oder Jean-Luc Mélenchon bieten sich ja als Alternative an. Es sind alte Kämpen, und mancher glaubt, in ihnen die alte Würde der Industriearbeit wiederzuerkennen. Doch ihre Politik verfehlt diese Würde. Ihr Klassenkampf gegen die Reichen und Mächtigen bringt die Realökonomie nicht zurück. Was sie den Reichen wegnehmen, kann nur eine künstliche Arbeitswelt schaffen, die den Makel nicht abstreifen kann, nur ein Gnadenbrot zu sein. Die Industriearbeit wird zum paternalistischen Versorgungsprogramm. Dieser Makel ist, im kleineren Maßstab, aus vielen Hilfsprogrammen für Krisenregionen bekannt. Auch wenn solche Hilfe hart erkämpft wurden, so spüren die Menschen doch, dass die so durchgesetzte Beschäftigung nicht wirklich gebraucht wird. Aus diesem prinzipiellen Grund kann selbst die ehrlichste Linke das Deindustrialisierungs-Problem nicht lösen. Im selbstbezogenen Rahmen der „Arbeiterklasse“ ist ein echtes Gebraucht-Werden nicht zu haben. Nur im Rahmen einer Nationalökonomie, in der es ein bilanzfähiges Gesamtinteresse gibt, ist das möglich.

Eine Alternative zur Globalpolitik braucht zwei Elemente

Wenn man so das Protektionismus-Problem weiter fasst, kann man auch die Anforderungen an eine wirkliche Wende präzisieren. Sie muss immer aus zwei Grundelementen bestehen und nicht nur aus einem. Sie muss die keynesianische Aufblähung der Märkte zurückfahren und die Preiswahrheit der Marktwirtschaft wiederherstellen (Element 1). Und sie muss durch Beschränkungen im Welthandel den Unterschied zwischen Binnenmarkt und Außenhandel wieder akzentuieren und damit den Pluralismus der Märkte verteidigen (Element 2). Das Element 1 wird schmerzhafte Einschnitte bedeuten, die nur auszuhalten sind, wenn es den Schutz gibt, den das Element 2 bietet. Dieser Schutz bedeutet aber keine planwirtschaftliche Zuteilung, sondern schützt die Freiheiten eines Binnenmarktes. Würde man allerdings nur Zollschranken errichten, ohne den keynesianischen Protektionismus anzutasten (also ohne das Element 1), wäre die Alternative nur eine Einschließung in gemütliche Horizonte und alles andere als wünschenswert.

Deutschland in der Merkel-Sackgasse

Solche Erwägungen sind der deutschen Präsidentschaft des G20-Treffens offenbar gänzlich fremd. Hier herrscht eine ganz andere Tonlage. Man forciert die Sprache, man will etwas erzwingen. Da erklärt die Bundeskanzlerin: „Wer glaubt, die Probleme dieser Welt mit Isolationismus und Protektionismus lösen zu können, der unterliegt einem gewaltigen Irrtum.“ Sie sagt nicht einfach „Irrtum“, sondern „gewaltiger Irrtum“. Nach dem G7 vor ein paar Wochen hat sie verkündet, in der Weltklimapolitik stehe es „sechs gegen einen“, womit sie sich mal eben sechs große Staaten subsumierte. Vor dem G20-Treffen hat sie hinzugefügt, das Pariser Klimaabkommen sei „unumkehrbar und unwandelbar“ – als wäre das Abkommen eine Art „Weltverfassung“. Welche Regierung hat in Paris auf das Recht einer späteren Neuverhandlung verzichtet? Welche Regierung wäre überhaupt zu einer solchen „definitiven“ Unterschrift von seinem Volk ermächtigt?

Mancher ausländische Beobachter wird sich in Hamburg wundern, mit welcher Selbstverständlichkeit in den hiesigen Medien die Repräsentanten der Vereinigten Staaten und Großbritanniens herabgesetzt werden. Besonders die Korrespondenten und Moderatoren des Staatsfunks fühlen sich dazu berufen. Man ist nicht in der Lage, die Positionen und Maßnahmen von Theresa May und Donald Trump fair zu referieren. Man muss sofort eine bewertende Anmerkung hinzufügen und bei den Zuschauern unbedingt den Eindruck erwecken, dass diese ganze Richtung sowieso Unsinn sei. Die gewählten Regierungschefs Großbritanniens und der Vereinigten Staaten werden behandelt, als seien sie eigentlich Fremdkörper in der globalen Gemeinschaft der Anständigen. Im Eifer, im Jahr 2017 alle Zweifel des Jahres 2016 wieder zum Verschwinden zu bringen, entgleist die Sprache. In einem Leitartikel (FAZ, 8.Mai) formuliert der bereits oben zitierte Klaus-Dieter Frankenberger, dass „die Anführerin des Front National klar, ja vernichtend geschlagen“ wurde. Er schreibt wirklich „vernichtend“ – eine verräterische und peinliche Wortwahl.

Und nun kommt „Afrika“ als nächstes Welt-Zwangs-Thema. Die FAZ vom 28.Juni schreibt, der Bundesfinanzminister Schäuble habe gesagt, dass „wenn es nicht gelinge, in Afrika eine gewisse Stabilität zu erreichen, würden Europa und Deutschland bald vor deutlich größeren Herausforderungen stehen als in der Flüchtlingskrise 2015“. Weil die Globalpolitik den Grenzschutz der Nationalstaaten für unmöglich erklärt, wird jede Krise unaufhaltsam zur Weltkrise. Wir müssen „Africa building“ machen, weil sonst die Afrikaner einfach „kommen“.

Wo Merkel-Deutschland das Sagen hat, wird die Globalpolitik immer ideologischer. Welche Nation wird diesen Weg auf die Dauer mitgehen?