Stehen sich auf der iberischen Halbinsel ein fleißiges Katalonien und ein faules Spanien gegenüber? In Wirklichkeit hat die Region ihre industrielle Sonderstellung vor den anderen spanischen Regionen eingebüßt. (Verteidigt Spanien! – Teil II)

Der katalanische Wirtschaftsmythos

25. September 2017

Es gibt eine Erzählung, die einem Separatstaat Katalonien einen rationalen Grund geben soll. Das ist die Erzählung vom „Wirtschaftsmotor Katalonien“, der angeblich den Rest Spaniens antreiben muss. Es soll eine spezielle und besonders moderne katalanische Nationalökonomie geben – auch eine spezielle Wirtschaftsmentalität, von der ganz Spanien zehrt. Was Spanien an wirtschaftlicher Entwicklung und an Wohlstand hat, soll es weitgehend Katalonien zu verdanken haben. Im Umkehrschluss bedeutet dieser Wirtschaftsmythos, dass Spanien als Wirtschaftsnation im Grunde gar nicht zähle, sondern nur ein unproduktiver, parasitärer „Staatsapparat“ sei, der von der Stärke einzelner Ausnahmeregionen zehre.

Merkwürdigerweise geben sich die meisten Presseartikel über den Separatismus in Katalonien damit zufrieden, ein paar Zahlen zur Stärke Kataloniens zu nennen, ohne sie in Relation zur gesamtspanischen Entwicklung zu setzen. Doch wenn man diese Relation herstellt, ist es mit dem Mythos vorbei.

Die Region mit dem zweitgrößten Außenhandelsdefizit

Die Handelsbilanzen bieten einen interessanten Einblick in die Gesamtentwicklung Spaniens und in das Geschäftsmodell der Region Katalonien. Spanien als Ganzes hat durchaus etwas vorzuweisen: Das Defizit im Außenhandel ist von 100 Milliarden Euro im Jahr 2007 auf knapp 20 Milliarden 2014 gesunken. Diese Entwicklung hat sich fortgesetzt, die Schere zwischen Import und Export hat sich weiter geschlossen. Das ist für ein europäisches Land bemerkenswert, insbesondere für ein Südland. Hat nun Katalonien daran einen besonderen Anteil? Und da reibt man sich erstaunt die Augen: Katalonien ist nach Madrid die spanische Region mit dem zweitgrößten Außenhandelsdefizit. 11,7 Milliarden betrug es 2014. Positive Bilanzen hatten Aragon, Asturien, Kantabrien, Kastilien-Leon, Extremadura, Galizien, Navarra, Baskenland, Rioja, Comunidad Valenciana. Diese Regionen (es sind bemerkenswert viele) sorgen für den Ausgleich der spanischen Außenhandelsbilanz. Schaut man in die Statistik des innerspanischen Handels zwischen den Regionen, gibt es eine zweite Überraschung: Hier hat Katalonien mit Abstand den größten Überschuss (15.064 Milliarden Euro). Demnach hängt die katalanische Wirtschaftsstärke vom innerspanischen Absatzmarkt ab. Die Region importiert Produkte und Vorprodukte aus dem Ausland, verarbeitet sie zum Teil weiter und verkauft sie auf dem Binnenmarkt. Und diese Region will sich jetzt vom spanischen Staat und von der Finanzierung der Infrastrukturen für den Binnenmarkt verabschieden!

Das Wirtschaftswachstum wird von vielen Regionen getragen

Wie sieht es bei der Wertschöpfung aus? Man sollte dabei beachten, dass die Relation zwischen Exportumsatz und Bruttoinlandsprodukt je nach Land sehr verschieden ist . In Spanien ist die Relation Exportumsatz/BIP ungefähr 33:100. Das ist weniger als in Deutschland (46:100) oder den Niederlanden (80:100), aber mehr als in den USA (12:100). Das ist ein Indiz, dass ein Großteil der spanischen Wertschöpfung im Lande geschieht. Das BIP-Wachstum von Katalonien (2016: 3,5%) (2016), das jetzt als Beleg für eine besondere Wirtschaftskraft Kataloniens dargestellt wird (zum Beispiel von Hans-Christian Rößler, in der FAZ am 19.9.2017), steht nicht so einsam da, wie es den Anschein hat. 2016 hatten 11 spanische Regionen über drei Prozent Wachstum:  Madrid, Katalonien, Balearen, Kastilien-Leon, Galizien, Comunidad Valenciana, Kanarische Inseln, Ceuta, Murcia, Kastilien-La Mancha, Melilla. Nur vier Regionen blieben unter dem Wert von 2,5%. Hier zeigt sich eine wichtige Eigenart der neueren spanischen Nationalökonomie. Die Disparitäten zwischen den stärksten und schwächsten Regionen sind für europäische Verhältnisse nicht besonders groß. Die Vorstellung, dass in Spanien umso schlechter gewirtschaftet wird, je weiter man von Norden nach Süden kommt, ist grob irreführend.

(Von einer spanischen „Südindustrie“ handelt meine Monographie/Dissertation über die Großstadt Elche, die eine der größten Konzentrationen der Schuhindustrie in Europa beherbergt: Gerd Held, Potentiale der kompakten Stadt, Dortmund 1998)        

Der Separatismus gefährdet Auslandsinvestitionen in der Region

Der FAZ-Korrespondent in Spanien, Rößler, hat in einem Artikel über die wirtschaftlichen Aspekte des Konflikts (in der FAZ vom 19.9.2017) von einem Gespräch mit Albert Peters, dem Vorsitzenden eines „Kreises deutschsprachiger Führungskräfte“ in Barcelona, der einen Appell veröffentlicht hat, dass sich die spanische und katalanische Regierung „schleunigst gemeinsam an einen Tisch setzen sollten“. Nach Peters Aussage operieren von den 1600 Firmen mit deutscher Beteiligung in Spanien „mehr als die Hälfte“ von Katalonien aus. Offenbar nützen deutsche (und andere ausländische) Unternehmen das katalanische Geschäftsmodell, um darüber den spanischen Binnenmarkt zu bedienen. Man könnte nun erwarten, dass die deutschen Führungskräfte davor warnen, dass jeder Separatismus den Standort Katalonien massiv beschädigen würde. Doch stattdessen wird Peters mit einem Satz zitiert, der den Katalonien-Mythos beschwört: „Die Katalanen sind die Preußen Spaniens. Auch deshalb haben sich zahlreiche deutsche Firmen dort angesiedelt.“ Das geht an den heutigen wirtschaftlichen Realitäten völlig vorbei und ist, wenn der Mann das wirklich so gesagt hat, eine Verunglimpfung des gesamtspanischen Absatzmarktes. Es ist der katalanische Separatismus (und nicht der Zusammenhalt Spaniens), der die Geschäftsgrundlage der Investitionen ausländischer Unternehmen in Katalonien bedroht.

Barcelona verliert an Gewicht im spanischen Städtesystem  

Ein weiterer wichtiger Maßstab ist die Bevölkerungsentwicklung. Der Mythos Katalonien ist zum großen Teil auch ein Mythos von Barcelona, das (gefühlt) die gesamte Realität der Region ausmacht. Die Gefahr ist groß, den Augenschein der Demonstrationen in Barcelona mit der demographischen Dynamik zu verwechseln. Diese Dynamik ist woanders größer. Zwischen 1991 und 2008 wuchsen die beiden Super-Metropolen Madrid und Barcelona zusammen um 3,76%. Im gleichen Zeitraum wuchsen die 100 größten Städte Spaniens insgesamt um 11,04%. Also ein höheres Wachstum im Bereich der mittleren Großstädte und größeren Mittelstädte.

Dabei war das Wachstum in Katalonien auch geringer als in Gesamtspanien. Der Bevölkerungs-Anteil der katalanischen Städte an der Bevölkerung der 100 größten spanischen Städte betrug 1991 17,63%. 2008 war er auf 16,72% gesunken. Das ist kein dramatischer Niedergang, aber doch eine allmähliche Relativierung des einstmals großen Bevölkerungsmagneten Katalonien.

Und Barcelona? Entzieht es sich der Relativierung? Nein, denn der Bevölkerungs-Anteil Barcelonas an den katalanischen Städten sank von 1991 48,23% auf 2008 45,00%. Im gleichen Zeitraum sank der Anteil Barcelonas an den 100 größten Städten Spaniens von 8,50% auf 7,53 %. Sein Anteil an den 10 größten Städten sank von 19,21% auf 17,69 %.

Die frühere Sonderrolle Kataloniens in Spanien verblasst

Vor diesem Hintergrund ist das Aufkommen des Separatismus eigentlich erstaunlich. Die Geschichte, dass hier eine starke Region sich von einem schwächelnden und ineffizienten Spanien verabschieden will, passt überhaupt nicht zu den Fakten. Allerdings sollte man sich auch davor hüten, den Mythos einfach umzudrehen und Katalonien in schwarzen Farben zu malen. Richtig wäre es, von einer Relativierung zu sprechen. Die frühere Führungsrolle Kataloniens bei der Industrialisierung Spaniens hat sich relativiert und dieser Prozess setzt sich fort. Sie ist und bleibt eine wichtige Region, aber sie muss sich damit abfinden, auf Dauer nur eine unter vielen respektablen Regionen in Spanien zu sein.

Genau das aber wollen die Katalanisten nicht. Deshalb versuchen sie jetzt auf Biegen und Brechen ihr Heil in einem Separatstaat. Es wäre ein Staat ohne eigenes wirtschaftliches Zukunftsprojekt. Der heutige Katalanismus ist im Grunde wirtschaftsfern. Er hat nichts von jenem industriellen Realismus, der früher ein Markenzeichen Kataloniens war.

Das belegt auch eine weitere wirtschaftspolitische Tatsache: die Staatsschulden. Katalonien ist die am höchsten verschuldete Region Spaniens. Nicht nur in absoluten Zahlen, sondern auch im Verhältnis zu seinem Bruttoinlandsprodukt (2011: 20,7 Prozent, der Durchschnitt aller spanischen Regionen betrug 13,1%). Im Jahr 2012 musste Katalonien Hilfskredite bei der Zentralregierung im Rahmen des spanischen (und europäischen) Rettungsfonds beantragen.

Anschluss an Macrons und Draghis „Süd-Keynsianismus“?

Welches Zukunftsmodell können die Separatisten anbieten? Die bisherige Rolle als Lieferant für den spanischen Binnenmarkt kann es nicht sein. Niemals würde Spanien seine Versorgung einer Region anvertrauen, die sich gewaltsam von ihm losgetrennt hat. Und deren politische Klasse sich zu Spanien verhält, als sei es ein feindliches, diktatorisches und unterentwickeltes Land.

Was also mag in den Köpfen der Separatisten vorgehen? Vielleicht ist es folgende Spekulation: Die katalanische Wirtschaft wendet sich von ihrem Süden ab, und hängt sich an den kerneuropäischen Norden. Sie ist nicht mehr ein „Norden des Südens“, sondern ein „Süden des Nordens“. Die Region, die an der Grenze zu Frankreich liegt, ändert sozusagen die Windrichtung ihrer Ökonomie. Und damit auch ihren Charakter: Sie schielt auf die Kaufkraft des Nordens. Auch auf Draghis Euro-Pumpe. Und vielleicht auch schon auf das EU-Groß-Budget, das der französische Präsident Macron durchsetzen will.

Vor diesem Hintergrund erscheint die „breite Bewegung“, die in Barcelona lautstark die Straßen besetzt, in einem neuen Licht. Sie ist zum geringsten Teil eine Bewegung der industriellen Klassen (Arbeiter und Unternehmer), sondern hat ihre Hauptbastionen in Bildungseinrichtungen und in anderen öffentlichen Diensten oder Einrichtungen (Gesundheit, Sozialarbeit, Kultur), die in Spanien weitgehend regionalisiert sind. Es ist eine ähnliche soziale Basis, wie sie zum Beispiel auch in Griechenland bestimmenden Einfluss auf die Politik bekommen hat. In Spanien hat diese Bewegung nun einen separatistischen Zug bekommen.

Dass dieser Kurs ihre Region wirtschaftlich in eine Sackgasse führt, sehen die Katalanisten nicht und es interessiert sie auch wenig. Ihr Separatismus lebt mit dem Rücken zur Realwirtschaft und zur katalanischen Industrie. Das soziale Milieu, das ihn hauptsächlich trägt, ist schon daran gewöhnt, dass es „keynsianisch“ finanziert wird – durch staatliche Programme auf Pump. Deswegen schielen sie nach Europa. Und sie interessieren sich nicht für die Möglichkeiten (und Grenzen) auf einem gemeinsamen europäischen Markt, sondern für die Staatsfinanzierung durch die Europäische Zentralbank. Und für ein zukünftiges, möglichst großes, aus dem Norden finanziertes EU-Budget.

Und das Selbstbestimmungsrecht der Völker?

Es wird im Zusammenhang mit dem Katalonien-Streit viel von einem universellen „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ gesprochen, das hier gelten soll. Man kann mit der Berufung auf dies Selbstbestimmungsrecht viel Unheil anrichten, wenn man nicht nach der wirtschaftlichen und sozialen Realität fragt, die hinter dem Anspruch steht, ein souveränes Staatsvolk zu sein. Das wohlklingende Wort „Selbstbestimmung“ kann eine Betrachtung der konkreten Existenzgrundlagen eines Landes nicht ersetzen. Ohne diese Betrachtung bleibt alles ein reiner Willensakt. Und wo der reine Wille regiert, ist der Weg zur Willkür kurz. Es ist die gleiche Willkür, die auch im Fall eines bedingungslosen, globalen Migrationsrechtes droht.

 

(erschienen am 27.9.2017 bei „Die Achse des Guten“)