Über die ideologische Anfälligkeit einer Rechtsprechung, die sich als überstaatliche Macht versteht und sich zugleich von den realen Entwicklungen im Land abschirmt. 

Aus dem Notizbuch: Die fiktive Familie

1. Februar 2018

Der Kindesmissbrauchs-Fall in Baden-Württemberg ist ein GAU für die Familiengerichtsbarkeit in Deutschland. Die Tatsache, dass hier Gerichte durch ihre Urteile ein schützendes Eingreifen des Staates verhinderten, wirft grundsätzliche Fragen auf. Eine Frage ist, ob hier nicht Wertmaßstäbe und Weltbilder im Spiel sind, die sich im Sonderraum der Judikative jeder Korrektur durch die Realität entziehen. Wenn man näher betrachtet, wie es dazu kommen konnte, dass zwei Instanzen praktisch die gesamte Schutzverantwortung auf die Mutter übertragen haben, obwohl diese mit einem wegen Kindesmissbrauch vorbestraften Mann zusammenlebte, entsteht der Verdacht, dass bei der richterlichen Urteilsfindung nicht einfach „das Recht“ regiert, sondern eine ideologische Verzerrung im Spiel ist. Der Familie – genauer: einer bestimmten Fiktion von Familie – wurde ein absoluter Vorrang beim Kinderschutz eingeräumt und die Grundrechte des Kindes dem nachgeordnet.

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Diese Schutzverweigerung ergibt sich keineswegs zwingend aus der Rechtslage. Vielmehr wurde hier eine einseitige Auswahl aus der Rechtslage getroffen. Man muss bei der Betrachtung von Gerichtsurteilen immer im Auge behalten, dass hier zwar ein sehr genau festgelegter Prozess abläuft, aber letztlich der Akt des „Rechtsprechens“ eine sehr einseitige, unterkomplexe Struktur aufweist: Ein Richter oder ein rechtsprechendes Gremium setzt („fällt“) das Urteil. Auch die möglichen Revisionsinstanzen bestehen wieder aus solchen Entscheidungsformen. Verglichen mit der Entscheidungsfindung des Gesetzgebers (gewählte Parlamente, öffentliche Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition) liegt die gerichtliche Rechtsfindung und die Berücksichtigung von Gründen und Gegengründen in wenigen Händen. Und sie liegt auch im Dunkeln, denn es ist für die Öffentlichkeit sehr schwer, die Linie, die die Richter mit einem Urteil oder mit mehreren Urteilen im Zusammenhang verfolgen, zu erkennen.

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Bei dem, was man den Medien zur allgemeinen Rechtslage in diesem Fall entnehmen kann, gibt es eine erstaunliche Unschärfe. Es ist immer wieder davon die Rede, dass „das Grundgesetz“ Eltern und Kinder davor schützt, voneinander getrennt so werden (vgl. FAZ vom 19.1.2018). Der familiäre Zusammenhang sei demnach ein so hohes, fast heiliges Rechtsgut, dass der Zusammenhang kaum angetastet werden dürfe. Doch schon die nächste Aussage des Artikels zur Rechtslage enthält eine kleine Relativierung. Es wird ein häufig in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu findender Satz zitiert: „Nicht jedes Versagen und jede Nachlässigkeit verpflichtet oder berechtigt den Staat, die Eltern vor der Pflege und Erziehung auszuschalten oder gar selbst diese Aufgabe zu übernehmen.“ Das klingt schon weniger absolut. „Nicht jedes Versagen“ verpflichte zur Intervention, heißt es, aber es gibt im Grundsatz also doch eine Interventions-Pflicht.

Dies Schutz-Element wird noch stärker, wenn man den Artikel weiterliest. Dort wird der Grundsatz zitiert, dass der Staat verpflichtet ist, eine räumliche Trennung der Kinder von den Eltern zu veranlassen, wenn „das Kind bei einem Verbleib in der Familie oder bei einer Rückkehr dorthin in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist.“ Kein Spur mehr von einem absoluten Familienvorrang. Wenn man diesen Satz ernst nimmt, dürfen Gerichte nicht einfach nach subjektivem Ermessen den Eltern einen blinden Vertrauensvorschuss gewähren, sondern müssen Maßnahmen zur Ermittlung der tatsächlichen Gefährdungslage treffen. Wenn sie das unterlassen, verletzten sie Schutzpflichten von Seiten des Staates und damit Recht.

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In diesem Fall (Kindesmissbrauch) geht es nicht um Nebensachen, sondern um ein Rechtsgut von höchstem Rang, um das Grundrecht auf „Leben und körperliche Unversehrtheit“ nach Grundgesetz Artikel 2, Absatz 2. Als Grundrecht bindet es neben der Gesetzgebung und der vollziehenden Gewalt auch ausdrücklich die Rechtsprechung „als unmittelbar geltendes Recht“ (nach Grundgesetz Art. 1, Absatz 3 GG).

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Es ist also keineswegs so, dass sich die in diesem Fall gesprochenen Urteile aus der Verfassung oder zentralen Urteilen des BVG ergibt oder linear abzuleiten ist. Hier haben Richter eine eigene Wahl getroffen. Sie haben die Familie zum Dreh und Angelpunkt des Kinderschutzes gemacht. Die körperliche und seelische Unversehrtheit des Kindes (ein Grundrecht) wurde in einer Situation, deren Gefährdungspotential für das Kind dem Gericht bekannt war, blind und vollständig in die Hände der Mutter gelegt. Wer das tut, muss von der Vorannahme einer „per se guten und handlungsfähigen“ Familie ausgehen. Er muss die Rolle und Fähigkeit der Familie, ohne Rücksicht auf den konkreten Fall überhöhen. Er spricht Recht im Namen einer fiktiven Familie. Diese Rechtsprechung ist ideologisch. Sagen wir es, weil der „konkrete Fall“ eigentlich einen starken Impuls zum genauen Hinsehen auslösen müsste, einmal böse: Diese Rechtsprechung trieft vor Ideologie.

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Der Freiburger Fall ist nicht ganz unerwartet und plötzlich als etwas ganz Neues vom Himmel gefallen. In den vergangenen Jahren hat es zahlreiche grässliche Fälle von Missbrauch, Gewalt und Totschlag gegen Kinder gegeben. In den meisten Fällen geschah das nicht gänzlich unerwartet und ohne jede warnenden Vorzeichen. Oft hatte die eine oder andere Behörde längst Kenntnis von einer prekären Situation eines Kindes. Aber man verließ sich auf äußerliche, wohlfeile Gesten der Eltern. Man wählte immer den Zugang über die Eltern: Nachfragen, Beratung, Ermahnung, Beauftragung – immer überließ man letztlich die Kinder, selbst bei sichtbaren Zeichen von Verletzungen wieder dem intimen Zugriff in der Privatsphäre. Und unzählige Male ist schon die Frage gestellt worden, ob die Schutzverteilung zwischen Staat und Familie stimmt. Man hätte erwarten können, dass die Richter, deren Unabhängigkeit ja oft mit dem Argument begründet wird, sie seien näher an den konkreten Fällen als der Gesetzgeber, sich längst an den Gesetzgeber gewandt hätten und eine gesetzliche Stärkung des staatlichen Schutzes der Kinder verlangt hätten.

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Aus dieser Gefahrenlage folgt einerseits das Gebot, dass sich Gerichte ständig und in vollem Umfang an ihre Gesetzes- und Verfassungsbindung halten müssen. Und zwar an das ganze Gesetz und die ganze Verfassung. Es folgt andererseits aber auch das praktische Gebot, dass die Gerichte sich nicht möglichst hoch über die anderen staatlichen Gewalten erheben, sondern akzeptieren, dass sie auf die Zusammenarbeit mit diesen Gewalten im Rahmen eines Staatsganzen angewiesen sind. Das gilt in diesem Fall besonders für die Anhörung und Zusammenarbeit mit den Jugendämtern und der Polizei. Ohne diese Zusammenarbeit mit der Exekutive wird die so sehr betonte Unabhängigkeit der Justiz zum Blindflug. Das zeigt der Baden-Württemberger Fall, bei dem die Richter Warnungen und Schutzbegehren von Jugendämtern und Polizei ignorierten und abwiesen.

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Wenn es eine Gefahr der Ideologisierung der richterlichen Gewalt gibt, dann muss man ständig daran arbeiten, der Verhärtung von Irrtümern und Vorurteilen (die es immer gibt) zu Ideologien entgegenzuarbeiten und Mythen aufzubrechen. Deshalb ist es – angesichts des jüngsten Missbrauchsskandals, der ein wirklicher GAU der Familiengerichtsbarkeit ist – höchste Zeit, über den gefährlichen Mythos zu sprechen, der sich um den Begriff „Familie“ rankt. Dieser Mythos tut so, als gebe es so etwas wie eine „Familie an sich“ und diese sei gut. Wir haben dabei die partnerschaftliche, moderne Familie freier Bürger vor Augen und stellen uns vor, die menschlichen Beziehungen trieben irgendwie „von Natur aus“ auf eine solche Grundeinheit zu, in der alle Mitglieder als selbständige Wesen geachtet sind und zusammenwirken.

Aber unsere Erfahrung und die sozialwissenschaftliche Aufklärung sagen uns, dass von dieser präetablierten Harmonie keine Rede sein kann. Die Familie war geschichtlich nicht einfach ein Ort der Harmonie, sondern auch ein Ort brutaler Unterdrückung und Ausbeutung. Insbesondere patriarchalische Ausbeutung und Unterdrückung. Aber auch ein Ort der Instrumentalisierung der Kinder. Sie musste erst zivilisiert werden und diese Errungenschaft muss ständig erneuert werden, weil sie vom Rückfall bedroht ist. Deshalb ruht unser Rechts- und Verfassungsstaat keineswegs auf einem blinden Grundvertrauen in „die Familie“ – wie er auch nicht in einem blinden Grundvertrauen in „die Religion“, „die Gesellschaft“ oder „den Menschen“ beruht. Der Rechts- und Verfassungsstaat kann nicht so tun, als gäbe es hier von vornherein eine sichere, äußere Ressource, von der er zehren kann und auf die er im Zweifelsfall als Problemlöser verweisen kann. Er muss vielmehr selber mit seinem Schutz an der Zivilisierung der Familie mitwirken. Die Familie in diesem positiven Sinn hängt auch von der zivilisierenden Macht des Rechtsstaats ab.

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Beim Kindesmissbrauchs-Fall in Baden-Württemberg geht es nicht darum, dass die vormoderne Unmündigkeit als solche wiederkehrt. Eher muss man hier von einer postmodernen Auflösung der Familie sprechen, die eine neue Form von Bindungslosigkeit und Willkür mit sich führt. Und in Form von Anarchie und Verwahrlosung ein neues Recht des Stärkeren etabliert. Gewiss ist der Fall ein Extremfall und die in Frage kommende Tätergruppe ist klein. Aber das Familienrecht muss von der Tatsache ausgehen, dass der häufigere Wechsel von Beziehungen und die „Individualisierung“ der Lebensführung für einen sehr viel größeren gesellschaftlichen Sektor gilt. Das spricht nicht für eine umfassende Verstaatlichung der Kindheit, aber auch nicht für eine Fortführung des generellen Vertrauensvorschusses für „die Familie“, die in vielen Fällen gar nicht mehr handlungsfähig ist.

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Es gibt noch eine zweite Verschiebung, die es ebenfalls dringend erforderlich macht, sich von der Fiktion einer prinzipiell „guten Familie“ zu verabschieden. Diese Verschiebung ist tatsächlich vormodern und sie dringt von außen – über die Massenmigration – nach Deutschland. Auch hier kann von einer partnerschaftlichen, modernen Familie freier Bürger nicht die Rede sein. Jedenfalls kann sie nicht allgemein als gegeben unterstellt werden und sie kann auch nicht durch sozialtechnokratische Maßnahmen kurzfristig hergestellt werden. Es geht nicht um eine absolute, biologische Unmöglichkeit, die die Ausbreitung der Zivil-Familie in bestimmten Regionen der Welt – insbesondere in Afrika und dem islamisch-arabischen Raum – verhindern würde. Aber es geht um längere historische Prozesse, die sich auch durch die Ortsveränderung (Migration) nicht abkürzen lassen.

Drei Vorgänge in neuerer Zeit zeigen, wie aktuell dies Vordringen vormoderner Familienstrukturen nach Deutschland ist, und wie wichtig es ist, diese Gefährdung unserer Errungenschaften nicht durch einen kriterienlosen Allgemeinbegriff „die Familie“ zu vertuschen.

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Der erste Vorgang ist die Affäre „Familiennachzug“. Dadurch soll, ist zu hören, die Migrationswelle der letzten Jahre, die sich zunehmend als sozial unstabil herausstellt, als wirtschaftlich unproduktiv, als bildungsmäßig unqualifiziert, durch das Nachholen von Mitgliedern einer vage definierten „Familie“ stabilisiert werden. Auch das beträchtliche Maß an Verwahrlosung, Sozialbetrug, Raub und Gewalt, das diese Welle ins Land gebracht hat, soll durch die vermuteten familiären Selbstheilungskräfte reduziert werden. Als eine Studie vor kurzem noch einmal deutlich machte, wie stark der Kriminalitätszuwachs in Deutschland durch die in der Mehrzahl jungen, männlichen Migranten verursacht wird, erklärt die (geschäftsführende) Familienministerin Barley (SPD) (zitiert nach der Stuttgarter Zeitung vom 4. 1.2018): „Mütter, Ehefrauen und Schwestern sind das soziale Band, das die meist jungen, männlichen Geflüchteten brauchen, um sich gut integrieren zu können.“ Damit wird eine Ergänzungszuwanderung zur ersten Migrationswelle angestrebt – im Namen der Familie, die per se Stabilität verbürgen soll. Das soll ausgerechnet mit Familiennachzüglern aus einem Kulturkreis geschehen, in dem die Familie nachweislich eine Form der patriarchalischen Unterdrückung und Instrumentalisierung der Frauen ist.

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Der zweite Vorgang ist nicht weniger aktuell: Es häufen sich die Fälle, wo die Macht von Familienclans die Grundlage ist, dass sich in bestimmten Stadtteilen Parallelgesellschaften bilden und diese Stadtteile unter ihre Kontrolle bringen. Die Clanherrschaft ist die Spitze eines Systems, das sich dort bildet, wo Stadtteile sich ethnisieren und eine komplette Binnenstruktur – abseits von den Strukturen der übrigen Stadt bilden. Diese Binnenstruktur ist dann die Grundlage, in der sich eine Paralleljustiz (auf religiös-autoritärer Grundlage) ausbildet. Und in denen sich Gruppen bilden, die ihr an Schulen, in Parks, in einzelnen Linien und Bahnhöfen des Nahverkehrs, in Krankenhäusern, Badeanstalten und in Szenevierteln des Nachtlebens hegemonial werden. Dabei spielt das abgeschirmte Privatleben als Rückzugsort und Basis eine wichtige Rolle. Dies ist nicht zuletzt durch die sich häufenden Übergriffe auf Feuerwehrleute und Rettungssanitäter deutlich geworden: die Notfall-Einsätze wurden als Eingriffe in die familiär stabilisierte Herrschaftssphäre gesehen.

In diesem Zusammenhang sollten auch Langzeitstudien über Einwanderungsstadtteile zu denken geben. Sie bestätigen, dass nur ein Teil der Einwanderer sich integriert und die Familienbildung dieser Teil nicht erhöht. Die Familien sind häufig kein Faktor der Integration, sondern im Gegenteil die Abkapselung und Selbstabschließung begünstigen, in der dann die Kinder (die Mädchen) unterdrückt werden, und die Jungen oft Banden bilden, die andere Jugendliche drangsalieren. Der Entwicklungs- und Migrationsforscher Paul Collier („Exodus – Warum wir Einwanderung neu regeln müssen, 2013) hat gezeigt, wie gefährlich und kontraproduktiv bei Masseneinwanderung die Bildung von ethnisch-kulturellen Binnenräumen ist. Sie befestigt die Strukturen, die die Einwanderer mitbringen. Würde nun in Deutschland nach der Migrationswelle nach 2015 eine zweite Familiennachzugs-Welle folgen, würde genau dieser Effekt eintreten.

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Der dritte Vorgang zeigt eine verheerende Konsequenz, wenn man die Binnenbeziehungen als Privatsache tabuisiert. Es geht um den Mord an einem Mädchen in Kandel durch einen jungen Mann aus Afghanistan, dessen wahres Alter von den Behörden nie überprüft wurde und dessen Gewaltneigung den Behörden bekannt war, aber grob fahrlässig verharmlost wurde. Als das Mädchen die Liebesbeziehung abbrach, bedrohte der Afghane sie mehrfach und stellte ihr nach. Die Familie ersuchte die Behörden vergeblich um Schutz. Schließlich erstach er das Mädchen. Das (öffentlich-rechtliche) Fernsehen verschwieg die Tat zunächst und berief sich dabei auf einen bizarren Grundsatz (der hier besonders wichtig ist): Es handele sich um eine „Beziehungstat“ und darüber würde nicht berichtet. Damit wurde ein grausames Verbrechen unter dem Deckmantel der familiären Privatheit verschwiegen. Aber dies Verbrechen wurde natürlich im Namen allgemeiner Kulturnormen, die den Ehrbegriff und die Besitzansprüche des Afghanen über seine ehemalige Freundin bestimmten, verübt. Es folgte den archaisch-patriarchalischen Familiennormen, die der Migrant nach Deutschland mitbrachte. Dies Verbrechen war also ein Politikum. Während der Begriff „Beziehungstat“ unterstellte, es handele sich um eine Familien- und Privatangelegenheit, und zugleich mit dem Wort „Beziehung“ insinuierte, das Mädchen habe ihren Anteil an dem Mord, handelte es sich in Wirklichkeit um einen Angriff auf die verfassungsmäßigen Rechte der Frauen in Deutschland. Dieser Angriff wurde durch ein bestimmtes Familienbild motiviert. Er geschah im Namen dieses Familienbildes. Auf eine schreckliche Weise wurde hier die Vorstellung, es gebe eine „an sich gute Familie“ widerlegt. Die Familie kann auch Vehikel der brutalsten Unterdrückung und Versklavung sein.

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In den drei dargestellten Vorgängen wird, wie im Fall des Kindesmissbrauchs, einer fiktiven Idee von „Familie“ eine Schutzaufgabe übertragen, die sie gar nicht erfüllen kann. Hier liegt das nicht an postmodernen Auflösungserscheinungen, sondern an den vormodernen, patriarchalischen Verhältnissen, die durch die Massenimmigration nach Deutschland importiert werden. Spätestens seit der Massenimmigration der letzten Jahre haben sich in Deutschland die Verhältnisse so stark verändert, dass es nicht länger möglich ist, im staatlichen Handeln und insbesondere in der Rechtsprechung „die Familie“ mit einem generellen, bedingungslosen Vertrauensvorschuss zu behandeln.

Es sind also zwei Gefahrenquellen, die dazu führen, dass man in Deutschland nicht mehr generell „die gute Familie“ voraussetzen kann. Zum einen der „postmoderne“ innere Verfall der zivilen, bürgerlich-partnerschaftlichen Familie. Zum anderen das Vordringen von Familiensystemen aus anderen Zivilisationskreisen und -stufen, die die Errungenschaften des Familienlebens in Deutschland von außen gefährden. Durch beide Entwicklungen wird es unmöglich, weiterhin die Fiktion von der „eigentlich guten Familie“ aufrechtzuerhalten. Diese Fiktion macht blind für die wirklichen Verhältnisse und Gefahren. Sie wird zum Deckmantel, unter dem sich rechtsfreie Intim-Räume bilden können, in denen und aus denen heraus schlimmste Gewalttaten verübt und Grundrechte verletzt werden.

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Das ist die neue Gefechtslage. Sie erfordert eine Neuaufstellung des Rechtsstaates.

Angesichts der neuen Gefährdungslage für Kinder muss in der Gesetzgebung und in der institutionellen Zusammenarbeit sichergestellt werden, dass der Schutz des Kindeswohls jederzeit und unmittelbar Priorität hat. Auf keinen Fall darf hier der staatliche Schutz des Kindes verzögert werden, weil man von einer allgemeinen Priorität der Familie ausgeht. Angesichts einer zunehmenden Zahl von Gewalttaten und patriarchalischer Unterdrückung, die im Zusammenhang mit der Zuwanderung aus vormodernen Verhältnissen in Deutschland zu beobachten ist, muss der staatliche Schutz ebenfalls jederzeit und unmittelbar Priorität haben. Auf keinen Fall darf dieser Schutz verzögert oder relativiert werden mit dem Hinweis auf die „andere Kultur“ in Migranten-Familien. Es darf auch nicht auf die Bestrafung von Straftaten verzichtet werden, weil man dem familiären Umfeld der Täter einen Vertrauensvorschuss gewährt. Auch hier – wie im Fall des Kindesmissbrauchs – kann die Stabilität der bürgerlich-zivilisierten und partnerschaftlichen Familie nicht vorausgesetzt werden.

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Diese Überlegungen zur Rolle der „fiktiven Familie“ in der Rechtsprechung und generell im Handeln des Rechtsstaats führt zu einer grundsätzlicheren Frage und zu einer älteren Diskussion in den Staats- und Rechtswissenschaften. Es geht um die Frage, aus welchen Ressourcen sich der freiheitliche, demokratische Rechtsstaat speist. Der Staatsrechtler Wolfgang Böckenförde hat hier sein bekanntes Dilemma formuliert:

„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“

Böckenförde spricht vom „Wagnis“ des freiheitlichen Staates und führt weiter aus:

„Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und des autoritativen Gebots, zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben…“

Wenn es nun begründete Zweifel gibt, dass „die Familie“ keine sichere Voraussetzung des freiheitlichen, säkularisierten Staates bietet, sondern sogar zu einem konträren Faktor werden kann, dann stellt sich mit neuer Schärfe die Frage nach dem Ankerpunkt eines freiheitlichen Rechtsstaats. Denn die Faktoren, die „die Familie“ zu einem zweifelhaften Ankerpunkt machen, gelten auch für Gebilde wie „die moralische Substanz des Einzelnen“ oder „die Gesellschaft“. Sie sind entweder zu eng („der Einzelne“) oder zu vage („die Gesellschaft“), um aus sich heraus ein zuverlässiger Ankerpunkt zu sein, aber ihr freiheitlicher, zivilisierter Charakter kann auch nicht durch staatlichen Zwang hergestellt werden.

Wir müssen diese Frage hier erstmal unbeantwortet lassen. Und auch mit der Möglichkeit rechnen, dass die Frage so nicht richtig gestellt ist. Au jeden Fall muss in Deutschland über die Eigenart und die Fundamente des Rechtsstaats wieder nachgedacht werden. Die bundesrepublikanische Vorliebe der vergangenen Jahrzehnte, alles an die „Zivilgesellschaft“ zu delegieren, ist nicht mehr durchzuhalten.

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Einige Lesehinweise:

  • Kompetenzwirrwarr (Rüdiger Soldt, in FAZ am 17.1.18)
  • Die Schuld des Staates (Kommentar von Reinhard Müller, in FAZ am 18.1.18)
  • Versäumnisse im Missbrauchsfall in Südbaden (Rüdiger Soldt, in FAZ am 19.1.2018)
  • Das Versagen des Systems (Kommentar von Helene Bubrowski und Rüdiger Soldt, in der FAZ am 19.1.18)
  • Im Zweifel für das Kindeswohl (Helene Bubrowski, in der FAZ am 23.7.18)
  • Das Kind zum Objekt gemacht (Leserbrief von Dietrich Hölz, Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht Hamburg, in der FAZ am 1.2.18)
  • Elternrecht und Kindeswohl (Leserbrief Hans-Dieter Beller, Schwäbisch Gmünd, in der FAZ am 1.2.18)
  • Vom Rechts- zum Richterstaat (Kommentar Joachim Jahn, in FAZ am 7.5.16)
  • Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. In: Staat, Gesellschaft, Freiheit (Frankfurt/M. 1976)