Solange die Regierungskrise nur als parteipolitischer Machtkampf verstanden wird, ist sie unlösbar. In Wirklichkeit muss angesichts der Massenmigration die Verfassungsfrage gestellt werden.

Souverän ist, wer zurückweisen kann

8.Juli 2018

Es ist fraglich, ob dem Innenminister Seehofer die Tragweite seines Schritts klar war, als er in seinen Masterplan zur Migrationskrise den Punkt „Zurückweisung an der Grenze“ aufnahm. Damit wurde ein verdeckter Konflikt zu einem offenen Konflikt. Mit dem Punkt „Zurückweisung“ kam die Migrationskrise, knapp drei Jahre nach der deutschen Grenzöffnung im September 2015, wieder auf den harten Kern zurück, den die deutsche Politik seitdem hartnäckig zu umschiffen suchte. Gewiss enthielt der CSU-Plan nur eine sehr beschränkte Aktion – die Zurückweisung von bereits in anderen EU-Staaten registrierten Asylbewerbern. Aber damit wurde doch schon die grundlegende Scheidelinie sichtbar: Wird der willkürliche Grenzübertritt durch Migranten hingenommen oder wird er verhindert? Hätte man hier zu einem ersten kleinen „Nein“ gefunden, wäre man auch zum großen „Nein“ an der Südgrenze Europas gekommen.

Wenn politisches Handeln zur bloßen Absichtsbekundung wird

In dem „Kompromiss“, den CDU und CSU am 2.Juli präsentierten, ist dieser entscheidende Punkt nicht mehr enthalten. Nicht ein einziger Migrant, selbst wenn er schon in anderen EU-Ländern als Asylbewerber registriert ist, wird an der Grenze unmittelbar zurückgewiesen. Stattdessen gelangt er in ein „Transitzentrum“, das angeblich eine „geschlossene Einrichtung“ sein soll, und das, binnen 48 Stunden, für die „Abnahme“ durch ein Herkunftsland sorgen soll. Dies Sollen ist durch keinerlei schon irgendwo etablierte Praxis gedeckt. So ist auch hier wieder eine Luftbuchung als Ersatz für wirkliches Handeln in die Welt gesetzt worden. Politik reduziert sich auf das Bekunden von Absichten. Als Handeln soll gelten, was in Wirklichkeit nur eine Geste ist und keine Tat.

Genau auf dieser – versteckten und niemals offen dargelegten – Umdefinition des Politischen beruhen die „europäischen Lösungen“, mit denen die deutsche Bundeskanzlerin jetzt operiert.  So wurde der deutschen Öffentlichkeit nach dem EU-Gipfel am 28./29. Juni verkündet, man habe eine Wende zu einer restriktiveren Migrationspolitik vollzogen. Es sei eine Übereinkunft über die Rücknahme von registrierten Asylbewerbern erzielt worden, und auch die Errichtung von Aufnahmelagern in den südlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers sei beschlossene Sache. In Wirklichkeit war nichts beschlossen, sondern man hatte nur Lösungen angedacht und aufgelistet.

An dieser Stelle ist von einem Vorgang zu berichten, in den das Kanzleramt verwickelt ist und der bis heute nicht aufgeklärt ist. In der FAZ vom 2.Juli liest sich das so: „Am Samstag war zudem ein Papier aus dem Kanzleramt durchgesickert, das alle vereinbarten Maßnahmen auflistete. Die überraschende Information: Neben Griechenland und Spanien seien 14 weitere EU-Staaten bereit, Flüchtlinge in beschleunigten Verfahren zurückzunehmen, die in diesen Ländern registriert worden seien, dann aber nach Deutschland weitergezogen seien. Die Regierung von Tschechien, der Slowakei, Ungarns und Polens widersprachen dieser Darstellung… Darauf angesprochen, sagte die Kanzlerin, es gehe bisher um politische Zusagen. Sie bedaure, wenn es zu Missverständnissen gekommen sei; es sei aber nie behauptet worden, dass schon Abkommen beschlossen worden seien.“ Ein neues Beispiel für das flexible Verhältnis der Kanzlerin zur Wahrheit. Sie zieht sich nun auf die vage Formel „politische Zusagen“ zurück und versucht damit doch nur wieder den Eindruck zu erwecken, die „europäische Lösung“ sei da. Es geht ihr nur darum, die Ergreifung von Maßnahmen an der deutschen Grenze zu verhindern – ein Manöver, das durchaus mit der Nacht- und Nebelaktion der Grenzöffnung im September 2015 vergleichbar ist.

Bestimmt das Migrieren den Rechtszustand der heutigen Welt?

Dies Agieren ist nicht nur ein Getrieben-Sein, sondern es hat System. Eine Linie ist erkennbar. Merkel versucht, um jeden Preis zu verhindern, dass das Zurückweisen wieder zum legitimen politischen Handeln in der heutigen Staatenwelt wird. Es wäre ja leicht gewesen, angesichts der eng definierten Gruppe, um die es der CSU ging, hier ein Zugeständnis zu machen. Aber Merkel hat am Tabu der Zurückweisung verbissen festgehalten. Hier ist ganz offensichtlich Ideologie im Spiel – ein Weltenplan, in dem das Migrieren den Primat gegenüber allen festen staatlichen Raumen und territorialen Grenzen hat.

Dazu passt die von Merkel verkündete Maxime, dass es keine einseitigen (unilateralen) Maßnahmen geben dürfe. Alles politische Handeln müsse auf Einwilligungen verschiedener Akteure beruhen. Eine Zurückweisung, die ein Staat an seinen Grenzen vornimmt, ist demnach illegitim. Mit dieser Doktrin verabschiedet sich eine deutsche Kanzlerin ganz grundsätzlich von staatlichen Hoheitsrechten. Die Souveränität von Staaten wird verabschiedet, weil eine absolut gesetzte Multilateralität allen Veto-Spielern eine kolossale Blockademacht gibt. Verweigert der Nachbarstaat die Zustimmung zur Zurückweisung von Migranten, die er soeben von seinem Territorium ins Nachbarland hat ziehen lassen, verurteilt er dies Land zum passiven Hinnehmen.

Und mehr noch: Er verschafft denjenigen, die willkürlich Grenzen überschreiten, einen Vorteil. Sie können erstmal Tatsachen schaffen. Und das können sie völlig einseitig tun. An der deutschen Grenze und an anderen europäischen Grenzen – insbesondere an der Südgrenze zwischen den nördlichen und südlichen Mittelmeeranrainern – besteht heute eine eklatante Schieflage. Personen, die über die Grenze ins Land drängen und bekunden, sie strebten „Asyl“ an, erwerben allein durch diesen einseitigen Akt einen Rechtsanspruch auf Aufenthalt, Sozialleistungen und anwaltliche Vertretung – bis zur endgültigen gerichtlichen Klärung, die sich über Jahre hinziehen kann. Eine vorherige, unmittelbare Zurückweisung an der Grenze ist nicht zulässig. Ebenso sind Gruppenzurückweisungen unzulässig, selbst wenn die Grenzüberschreitung in einer Gruppe vorgenommen wurde. Das kann man eine Prämie für das Migrieren nennen. Der Migrant erhält ein schnelles Zugriffsrecht auf die Aufbauleistungen seines Ziellandes, die das dortige Staatsvolk über Jahrzehnte (und Jahrhunderte) erbracht. Mit anderen Worten: Die heutige Massenmigration ist ein klarer Fall von unilateralem Handeln. Ein besonders übler Fall, weil er ein übergriffig-einseitiges Handeln darstellt.

„Zurückweisen“ heißt Wiederherstellen von Eigenverantwortung

Das ist das Verrückte am herrschenden Flüchtlingsdiskurs in Deutschland: Die Handlungsweise der heutigen Massenmigration wird dabei gar nicht betrachtet. Ihre Einseitigkeit wird gar nicht in den Blick genommen. Es ist eine von vornherein gefälschte Debatte. Ein diskursiver Taschenspielertrick. Durchschaut man ihn, wird sofort klar, dass dem einseitigen Vorgehen der Massenmigration nur durch einseitige Maßnahmen der betroffenen Staaten begegnet werden kann und muss. Wer das zum Tabu erklärt, kann und will an der Migrationskrise nichts ändern. Auf einer Rechtsgrundlage, in der durch Grenzübertritt auf eigene Faust Rechte in dem Zielland erworben werden können, ist keine stabile internationale Ordnung möglich. Dieser Weg führt mit Sicherheit zur Zerstörung der Staaten, zur Zerstörung fester Verantwortlichkeiten, zur Zerstörung der Autorität von Verfassungen – ja, zur Zerstörung alles Eigenen in der politischen Vernunft. Er führt letztlich in eine neue nomadisch-willkürliche Herrschaftsform.

Um der Migrationskrise Herr zu werden, genügen also keine Maßnahmen, die der Bewegung der Migration nur folgen und sie bloß „auf Sicht steuern“ wollen. In der Krise, die jetzt schon seit fast drei Jahren offen ausgebrochen ist und immer weiter wuchert, muss grundsätzlicher umgedacht werden. Nur wenn das Recht eines jeden Staates anerkannt ist, nach eigenem Ermessen Migranten aufzunehmen oder abzuweisen, ist eine stabile Ordnung möglich. Und nur wenn alle abweisen können, kann es faire Verträge ohne Erpressung zwischen Staaten geben. Das gilt insbesondere auch für die Durchleitung von Migranten, mit der sich Staaten zu Komplizen der willkürlichen Migration machen. Wenn ein Staat das Gebiet, über das er Hoheit und damit Verantwortung hat, für das Durchziehen von Migranten zur Verfügung stellt, muss der folgende Grenzübertritt ins Nachbarland als Grenzverletzung und Eingriff in die territoriale Integrität dieses Landes verstanden und abgewehrt werden.

Es geht also auf den Routen der Massenmigration darum, die Kette staatlicher Gebietshoheiten wiederherzustellen und damit die Routen, die heute behandelt werden, als wären sie exterritorial, wieder in die Staatenordnung einzugliedern und damit stillzulegen. Dazu muss jeder Anrainerstaat seinen Beitrag leisten. Und jeder kann ihn sofort leisten, ohne auf die Beiträge anderer Staaten zu warten. Er kann damit Druck ausüben, dass seine Nachbarstaaten seinem Vorbild folgen. Ist dieser Rechtszustand von innen (also in Europa) im Grundsatz hergestellt, können an den besonders bedrohten Außengrenzen (im Süden und Südosten) Bündnisse wehrhafter Staaten geschlossen werden, denen sich dann durchaus auch Anrainerstaaten des mediterranen Südufers anschließen werden – wie es bei Marokko lange Zeit der Fall war.

Im Übrigen liegt hier eine exakte Parallele zur Schuldenkrise vor. Auch hier ging es darum, eine „europäische Lösung“, die die Querfinanzierung von Schulden (ein europäisches „bail-out“) bedeutete, zu verhindern. Auch hier ging es um die finanzpolitische Eigenverantwortung eines jeden Landes, um Hoheitsrechte und Verfassungstreue. Und auch diese Krise wurde nicht gelöst, sondern verschleppt, weil diese Prinzipien, obwohl sie in EU-Verträgen vorkamen, eklatant verletzt wurden. Die illegitimen Ansprüche auf „Rettung“ von fremder Hand wurden nicht zurückgewiesen. Bei der Migrationskrise geht es um nichts anderes.

Es geht um das Deutschland des Grundgesetzes       

Die deutsche Bundeskanzlerin behauptet, es ginge in der aktuellen politischen Krise um die Auseinandersetzung zwischen einer europäischen oder einer nationalen Lösung. Die Berufung auf Europa sollte den Eindruck erwecken, es ginge um eine besonders große und starke Lösung. In Wirklichkeit ist es eine Lösung, die sich den Bewegungen der Massenmigration abhängig macht. Die „europäische Lösung“ ist also eine Mogelpackung, die den eigentlichen Inhalt der Lösung versteckt. Merkels Polemik gegen die „nationale Lösung“ ist ebenfalls eine Mogelpackung. Denn bei dem Schlüsselrecht der Zurückweisung geht es gar nicht um „das Nationale“ im Allgemeinen, sondern um die Verfassungsordnung aller Staaten in Europa.  Zur Erinnerung: Es gibt keine europäische Verfassung, die Verfassungen sind in Europa den Nationalstaaten vorbehalten. Es gibt keine europäische Legislative (kein Parlament im vollen Sinne), keine europäische Regierung, kein europäisches Verfassungsgericht – der Versuch, der EU eine staatliche Verfassung zu geben, wurde 2005 durch die Referenden in Frankreich und den Niederlanden ausdrücklich abgewiesen. Wenn die deutsche Kanzlerin bei einem so grundlegenden Vorgang wie der Massenmigration ein Primat europäischer Lösungen erklärt, stellt das einen Angriff auf die Verfassungslage in Europa dar.

Hier lohnt sich ein genauerer Blick. In einem Interview in der Tageszeitung „Die Welt“ vom 12.6.2018 erklärt der Europa- und Völkerrechtler Daniel Thym (Universität Konstanz) folgendes: „Diejenigen, die von einem Rechtsbruch sprechen, berufen sich zumeist auf das Grundgesetz. Demnach müssten Asylsuchende, die aus einem sicheren Drittstaat wie etwa Österreich einreisen, an der Grenze zurückgeschickt werden. Nicht nur ich bin aber der Überzeugung, dass diese Regel des nationalen Rechts bereits seit den 90er-Jahren von den europäischen Dublin-Regelungen überlagert wird.“ Das entscheidende Wort in der oben zitierten Aussage findet sich am Schluss: Die Regelungen des deutschen Asylrechts sollen von den europäischen Regelungen „überlagert“ werden. Das soll heißen, dass im Zweifelsfall das europäische Recht Vorrang hat. Nur wenn das der Fall ist, kann eine Rechtslage konstruiert werden, die das deutsche Grundgesetz an einem entscheidenden Einfallstor der Massenmigration (dem Asylrecht) verdrängt.

Doch sofort ergibt sich hier eine Frage: Wer hat das eigentlich beschlossen? Wer hat so viel Macht, dass er so substanziell in ein zentrales Hoheitsrecht eingreifen kann? Hier spricht ein Rechtswissenschaftler, und er beruft sich auf Gerichtsurteile, die seine Interpretation stützen. Doch haben wir in Deutschland weder eine Gelehrten-Republik noch eine Richter-Republik. Eine solche Veränderung kann allenfalls der Gesetzgeber (das Parlament) mit verfassungsändernder Mehrheit vornehmen. Angesichts der nach Europa drängenden Migrationsmassen würden Rechtsveränderungen, die auf eine Öffnung Europas hinauslaufen, ein Referendum in jedem europäischen Staat erfordern. Der Artikel 16a des deutschen Grundgesetzes gehört zum sogenannten „Asylkompromiss von 1993“, mit dem auf die (für damalige Verhältnisse) dramatischen Migrationszahlen vom Balkan reagiert wurde. Damals wurde der Kompromiss von CDU/CSU, FDP und SPD getragen. Er war begleitet von einer intensiven öffentlichen Debatte. Von einer vergleichbaren Auseinandersetzung über das europäische Migrationsrecht kann keine Rede sein. Falls also wirklich eine „Überlagerung“ stattgefunden hat, war es ein Vorgang, der in aller Stille – und nicht ohne Heimtücke – von der Globalisierungs-Fraktion in Europa vollzogen wurde.

Das (begrenzte) Verdienst der CSU

Auf einmal wird klar, dass wir uns mitten in einer kalten Abwicklung unserer Verfassungsordnung befinden. Das Deutschland des Grundgesetzes soll zum Verschwinden gebracht werden. Betrachtet man so die politische Auseinandersetzung der vergangenen Wochen, handelt es sich mitnichten um einen rein parteipolitischen oder personellen Konflikt, der „übertrieben“ und „künstlich“ wäre. Ganz im Gegenteil: Der gesamte staatspolitische Gehalt dieser Auseinandersetzung ist noch gar nicht angemessen klar geworden. Mit dem „Zurückweisen“ sind Grundfragen unserer Verfassungsordnung gestellt. Der Fortbestand der Verfassungsstaaten in Europa steht in Frage. Der CSU-Innenmister hat mit seiner Initiative mitnichten nur ein bayrisches Interesse formuliert, sondern ist zum Vertreter der Kontinuität des Grundgesetzes geworden. Bayern ist hier, um es mit einem älteren Wort zu sagen, seiner deutschen Berufung gefolgt. Dies alles ist natürlich nicht völlig klar und konsequent zu Ende geführt. Überall war in denen vergangenen Wochen auch ein Zögern festzustellen: Sollte man wirklich den großen Konflikt wagen? Würde das nicht doch zu viel zerstören? Und doch war diesen Wochen im Frühsommer 2018 wichtig und das Auftreten der CSU verdienstvoll. Die Gründe, auf dieser Linie weiterzugehen, werden bald noch dringlicher werden.

 

(Langversion eines Beitrags, der demnächst unter dem Titel „Staat in Gefahr“ in der Ausgabe 5/2018 von „CATO – Magazin für neue Sachlichkeit“ erscheint)