Der Bindungsverlust der Volksparteien in Deutschland zeigt, dass die Grundorientierung, die bisher das Feld der politischen Auseinandersetzung bestimmte, ihre Macht verliert. 

Eine neue politische Konstellation entsteht

24. Oktober 2018

Dieser Herbst 2018 zeigt bei den großen politischen Parteien einen Verlust an Bindungskraft, wie ihn die Bundesrepublik noch nicht gesehen hat. Bisher war dieser Verlust auf die SPD beschränkt, aber nun erreicht er auch die CDU/CSU. Und dennoch werden immer noch die bekannten Formeln wiederholt, mit der sich Politiker, Parteienforscher und Medienleute gegenseitig versichern, dass es nur um sekundäre Fehler geht: Man habe zu viel gestritten, sich zu viel mit sich selbst beschäftigt und seine – in der Sache angeblich völlig richtige – Politik nur nicht gut genug „kommuniziert“. Es handele sich also bloß um subjektiv-menschliches Fehlverhalten, und sei damit im Grunde leicht zu korrigieren. Aber merkwürdigerweise kann sich dieser Aufruf „zur Sachpolitik“ nicht durchsetzen und eh man sich´s versieht, ist man schon wieder bei der Selbstbeschäftigung. Sie wird immer deutlicher zur Alibiaktivität angesichts einer fundamentalen Hilflosigkeit.

Damit steht die Frage im Raum, ob es nicht in der gegenwärtigen Krise bestimmter Parteien um etwas Allgemeineres und Grundlegenderes geht. Ist das, was wir heute unter „dem Politischen“ verstehen, überhaupt auf der historischen Höhe der Sachprobleme? Stößt die Gesamtkonstellation der politischen Kräfte, wie sie sich in den vergangenen Jahrzehnten etabliert hat, an ihre Grenze?

Deutet der Bindungsverlust der großen politischen Parteien also darauf hin, dass wir uns in einer Übergangssituation befinden – an einer epochalen Schwelle, an der ein grundlegend verändertes politisches Kraftfeld mit neuen Gegensätzen im Entstehen begriffen ist?

Die neue Konstellation besteht nicht in neuen „Themen“

Allerdings ist die Rede von der epochalen Schwelle mit Vorsicht zu genießen. Denn es werden ständig alle möglichen globalen Themen beschworen, die angeblich eine „Wende“ oder einen „neuen Aufbruch“ erfordern. Es gehört geradezu zum heutigen Politikbetrieb, dem Publikum solche „Themen“ vorzusetzen, um dann doch nur wieder die gleichen Politikschemata fortzusetzen. Niemand zeigt das deutlicher als die Grünen, die eine Art letztes Aufgebot der alten Politikkonstellation darstellen. Eine Krise des Politischen kann nicht mit der Benennung von irgendwelchen neuen Themen beantwortet werden. Es muss um das politische Handeln gehen und um das Staatswesen, das diesem Handeln Realität gibt und es damit auch begrenzt.

Die neue Konstellation bedeutet kein Ende der politischen Parteien

Deshalb ist auch Vorsicht geboten gegenüber einer gleichfalls bestehenden Neigung, die Volksparteien und das Parteiensystem (den „Parteienstaat“) überhaupt abzuschreiben. Eine solche Fundamentalkritik trifft ja nicht nur eine bestimmte historische Parteienkonstellation, sondern auch jede neue Konstellation. Sie steigert die tatsächlich vorhandene Krise des Politischen zur Krise der repräsentativen, parlamentarischen Demokratie. Damit aber trifft sie die Orientierung des politischen Willens auf ein Staatswesen (und eine Res Publica). Sie nimmt der politischen Neuorientierung damit die Spitze, und kann nur an einen vagen, allgemeinen Mentalitätswandel (Kulturwandel) appellieren. Eine solche Politik ohne Staat bleibt damit im Subjektiven, im Allgemein-Menschlichen und damit in einem engen Nahbereich gefangen, der gegenüber der regierenden Hilflosigkeit eine eigene Hilflosigkeit erzeugt.

Die Problemzone des heutigen Politikbetriebs besteht gerade dort, wo die großen Vermittlungshebel zwischen Volkswillen und Staat – das Parlament als Gesetzgeber und der darauf zielende, in Parteien organisierte politischen Willen – liegen. Sie werden außer Wert und Kraft gesetzt. Weil die Politik sich nicht in klaren parteilichen Gegensätzen bewegt, können keine größeren demokratischen Richtungsentscheidungen getroffen werden. Der Politikbetrieb läuft in einer kontur- und kraftlosen Endmoräne aus.

Eine Achsenverschiebung der politischen Gegensätze

Eine neue Konstellation kann sich nur in der Ausbildung einer neuen Gegensätzlichkeit zeigen. Sie braucht daher politische Parteien. Nur dann, wenn es organisierten Alternativen gibt, können die großen Sachentscheidungen, vor denen Deutschland (und viele andere Länder) steht, wirklich demokratisch gefällt werden. Solche Entscheidungen können nicht nachhaltig getroffen werden, wenn sie sich nicht in einem fairen Streit von Alternativen durchgesetzt haben. Wie, wenn nicht mit einer parteimäßig-parlamentarisch gefestigten Mehrheit, will man die Hoheit Deutschlands über seine Grenzen wiederherstellen? Wie anders als über das Budget-Recht des Parlaments will man aus der unkontrollierten Expansion der Staatsausgaben und des billigen Geldes herauskommen?

Das bedeutet, dass es ohne eine Erneuerung des Parlamentarismus, der politischen Lagerbildung und der politischen Gegensätze überhaupt keine Änderung geben wird. Endlich wird Schluss sein mit dem Anspruch, „die Mitte“ des gesamten politischen Feldes zu sein, und mit der allumfassenden „Raute“ der Kanzlerin. Was für ein Segen: Wir dürfen Politik wieder in Gegensätzen denken und machen. Und wir dürfen echte Richtungsentscheidungen treffen.

Aber ich habe etwas vorgegriffen. Wichtig ist zunächst einmal, dass die gegenwärtige Situation nicht nur als Personalfrage (Merkel) oder als Problem einzelner Parteien (der SPD, der CDU/CSU) verstanden wird, sondern als Ausdruck einer tektonischen Verschiebung in der politischen Landschaft Deutschlands (und anderer Länder). Die ganze Grundkonstellation ändert sich. Die orientierungslos-kleinliche Selbstbeschäftigung und Hilflosigkeit ist Ausdruck einer historischen Übergangssituation: Etwas geht zu Ende und etwas Neues kündigt sich an.

Ein historisches Beispiel für die Verschiebung

Um den Maßstab dieser politischen Veränderung anschaulich zu machen, könnte man auf das europäische 19. Jahrhundert blicken. Es war zunächst vom Gegensatz zwischen konservativen und liberalen Kräften bei der Konstituierung einer bürgerlich-freiheitlichen und demokratischen Ordnung von Staat, Wirtschaft und internationalen Beziehungen geprägt. Das konnte unter den verschiedensten Parteinamen und mit durchaus wechselnden Positionierungen einzelner Führungs-Persönlichkeiten vor sich gehen. Dann drängten sich neue Problemstellungen in den Vordergrund, vor allem die Arbeiterfrage, und veränderte die Gesamtkonstellation des Politischen. Die Sozialdemokratie wurde zu einem Grundfaktor der Politik. Demgegenüber wurde der Gegensatz zwischen Konservativen und Liberalen sekundär, und für eine ganze historische Periode stand sich nun ein bürgerliches Lager und ein mehr oder weniger radikales Arbeiterlager gegenüber. Das Ganze geschah natürlich in vielen Varianten und Verbindungen, bei denen auch ältere politische Fragen noch eine Rolle spielten. Aber es entstand doch unzweifelhaft eine neue Hauptfrage.

Es geht hier nicht um eine neue hegemoniale Struktur, bei der eine Partei die politischen Probleme definiert und sagt, „was die Frage ist“. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung der modernen Politik braucht keinen Hegemon, sondern sie braucht strukturierte Gegensätze, um eine echte politische Verantwortung zu gewährleisten und dem Wechsel von Regierung und Opposition überhaupt einen Sinn zu geben. Wenn dabei ein Gegensatz, der lange Zeit das politische Leben bestimmt hat, überholt ist und seine mobilisierende Kraft eingebüßt hat, entsteht eine kürzere (oft auch längere) Übergangsperiode, in der die Politik kleinlich, zäh und orientierungslos ist, weil sich ein neuer bestimmter Gegensatz und eine entsprechende Parteienlandschaft erst herausbilden muss.

Über Merkels „Mitte“

Ist nicht unsere heutige Situation ähnlich zu verstehen? Ist der Grund für die zunehmende Selbstbeschäftigung und Hilflosigkeit der etablierten Kräfte in Regierung und Opposition nicht darin zu suchen, dass ihre Grundorienierungen unter heutigen Bedingungen nur zu endlosen und hoffnungslosen Baustellen führen. Der Merkelismus ist in seiner Bilanz vor allem eine große Auflösung. Aufgelöst wurden grundlegende Positionen, die einmal das Niveau von Staat und Wirtschaft ausgezeichnet haben. Geopfert wurden die Verteidigung der Außengrenzen, das Gewaltmonopol, der Technologie-Mix in der Energieerzeugung und die dauerhafte Finanzierbarkeit der Staatsausgaben. Sie wurden geopfert, um kurzfristig Konflikte zu befrieden. Jetzt sind wir – aus vergleichsweise geringen Gründen – in einem neuen Auflösungsprozess geschlittert, der die Automobilindustrie und das ganze Automobilland Deutschland trifft. Die Erträge von Merkels Mitte stehen in einem wachsenden Missverhältnis zum Aufwand. Die „Gipfel“ dieser Mitte sind groß im Geld-Verteilen, während die Kosten, die Arbeit und die Härten des Alltags auf andere abgewälzt werden. Sie wecken auch keine Hoffnung mehr. Sie sind Gipfel ohne Aussicht und diese Aussichtslosigkeit wird von den Bürgern, aus ganz unterschiedlichen Parteilagern, gespürt. Gerade darin ist Merkels Mitte ein Symbol des toten Punktes, an dem das politische Leben angekommen ist. Und nicht nur der Merkelismus ist am Ende, sondern mit Merkels „Mitte“ ist die politische Grundkonstellation der letzten Jahrzehnte an ihrem toten Punkt angekommen.

Die Kraft der Verteilungspolitik hat sich erschöpft

Wie wäre diese Grundkonstellation, die in vielen Ländern die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmt hat, zu beschreiben? Sie war vor allem Verteilungspolitik und an den produktiven Grundlagen der Wirtschaft und den Ordnungsaufgaben des Staates wenig interessiert. Sie galten im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer mehr als „erledigt“. Entsprechend spielte auch die Emanzipation der Industriearbeiterschaft – die große „soziale Frage“, die zu Beginn des Jahrhunderts noch die Parteilandschaft umwälzte – eine immer geringere Rolle. Die Verteilungspolitik folgte einem abstrakteren Gleichheitsgrundsatz und hat sich heute in der Gleichstellung immer neuer „Identitäten“ verirrt. Von vornherein war in der Orientierung auf Verteilung (von Geld und Rechtsansprüchen) eine Kleinteiligkeit der Interessen (manche nannten das „Ideologieferne“) angelegt. Die Auflösung der großen Volksparteien und ihre Umwandlung in bloße Container von einzelnen Gruppeninteressen war hier schon vorprogrammiert. Dennoch liegt die sichtliche Erschöpfung der Epoche der Verteilungspolitik nicht nur an ihr selber, an ihrer inneren Logik. Sie liegt auch daran, dass sich andere Aufgaben in den Vordergrund schieben, die im Rahmen der alten Konstellation nicht zu bearbeiten sind.

Einige Merkmale der neuen Konstellation

Das ist die politische Situation in diesem Jahr 2018. Wir befinden uns offenbar am Ende einer bestimmten politischen Konstellation und im Übergang zu einer neuen Konstellation. In einer solchen Situation gibt es viele Ungewissheiten über den weiteren Verlauf der Dinge. Und in diesem Sinn sollte man wirklich von einer Krise des Politischen sprechen. Dabei ist es noch recht leicht, das zu begreifen, was zu Ende geht. Aber es ist sehr viel schwieriger, die neue politische Gesamtkonstellation auf den Begriff zu bringen. Sicher wird es nicht um etwas „ganz Neues“ gehen, sondern um ein neues Aufgreifen älterer Grundaufgaben, die in der Ära der Verteilungspolitik vernachlässigt wurden. Das gilt für die Produktivität der Wirtschaft, aber auch für die „Baufähigkeit“ und Schutzfähigkeit des Staates bei den Gemeingütern des Landes. Sicher wird in der neuen Konstellation viel stärker ordnungspolitisch als verteilungspolitisch gekämpft werden. Insofern wird die neue politische Konstellation geschichtsbewusster sein und weniger nur vom Momentanen getrieben sein. Sie wird modern sein, aber sie wird die Moderne als einen größeren, historischen Gesamtblock nehmen und sich vielleicht zu einem tieferen Verständnis der Statik der Moderne vorarbeiten.

Wichtig wäre zunächst einmal, die Lösung der Probleme dieses Landes in einer neuen politischen Gesamtkonstellation zu suchen. Die Wiederherstellung des politischen Lebens kann nicht durch die Hegemonie einer Partei oder eines Lagers der Guten und Besserwissenden geschehen. Sie braucht eine vernünftige Gegensätzlichkeit, die die großen Richtungsalternativen bündelt und demokratisch entscheidbar macht. Und die Entscheidungen durch den Wechsel zwischen Regierung und Opposition auch revidierbar macht.

(erschienen in Rahmen meiner Kolumne bei „Tichys Einblick“ am 26.10.2018)