Aus der „großen Transformation“ der Welt ist das angstvolle Zählen täglicher Corona-Infektionen geworden. Deutschland steckt in einer Sackgasse.   

Kein großer Ausweg in Sicht

27.August 2020

Die Sommerpause geht zu Ende. Normalerweise macht sich ein Land dann mit neuen Kräften ans Werk. Die Menschen finden ihre angestammten Aufgaben und Plätze wieder. Wo es die eine oder andere Veränderung gibt, geht man das Neue mit Zuversicht an. Doch das ist nicht die Stimmung im Lande. Die Grundsicherheiten, die das Tun der Bürger bisher noch getragen haben, sind erschüttert. Das Gefühl, dass alles „auf einem guten Weg“ ist, ist fast gänzlich verschwunden. Wirtschaft, Bildung, Verkehr, öffentliches Leben – alles steht unter Vorbehalt. Ein Gefühl der Aussichtslosigkeit macht sich breit.
Das hängt nicht nur mit „Corona“ zusammen, sondern auch mit anderen „Großthemen“, die das Regieren in Deutschland bestimmen. Dabei ist es nicht so, dass wirklich ein großes Unglück über das Land hereingebrochen ist – ein wirkliches Massensterben durch eine tödliche Krankheit, eine wirkliche planetare Überhitzung, eine Atom-Katastrophe oder ein Krieg zwischen den Großmächten. Vielmehr gibt es begrenzte Probleme, die von der Politik ohne Not ins Grundsätzliche gewendet werden und dadurch zu unendlichen, im Grunde aussichtslosen Baustellen werden. Die Deutschen, die lange Zeit auf die (relative) Solidität ihres Landes vertrauen konnten, müssen feststellen, dass die Entscheidungen der Regierenden nicht zu greifbaren Resultaten zu führen.

Ein doppelter Extremismus

Die Wendung der Probleme ins Grundsätzliche entlastet nicht, sondern führt zu immer neuen Lasten. Das hängt damit zusammen, dass hier eine merkwürdige, doppelte Grundsätzlichkeit herrscht, die zu zwei Extremen führt: Auf der einen Seite werden die größten Weltgefahren beschworen – also ein negatives Extrem aufgebaut. Zugleich werden auf der anderen Seite die größten Weltumbau-Pläne entworfen und damit die Abwehr vor Gefahren ebenfalls auf eine extreme Höhe getrieben. So wird eine gespaltene Welt zwischen dem absolut Schlechten und Bösen auf der einen Seite, und dem absolut Schönen und Guten auf der anderen Seite konstruiert. Wie soll daraus eine haltbare Regierungsarbeit entstehen? Alle bisherigen Aufbauleistungen des Landes werden ja für nichtig erklärt – siehe die großen Anklagen gegen die „fossile“ Energiegrundlage und die „rassistische“ Sozialgrundlage der Neuzeit. Unser ganzes heutiges Arbeiten und Leben soll wider „die Natur“ und wider „den Menschen“ sein. Aus diesem absolut Negativen soll dann ein absolut Positives werden?
In der Realität hat diese schlechte Grundsätzlichkeit zu zerstörerischen Regierungs-Entscheidungen geführt. Man hat Normen, Auflagen und Stilllegungen gegen die Stromgewinnung aus Kohle und Kernkraft beschlossen; auch gegen Fahrzeugantriebe durch Verbrennungsmotoren. Das hat man getan, ohne dass gleichwertige technische Alternativen zur Verfügung stehen. Man hat einfach die alten Brücken verbrannt, und auf das Nichts gebaut, das schon irgendeine Lösung bringen wird. Im gleichen Zuge, in dem die inneren Entwicklungsleistungen des Westens immer negativer bewertet wurden, wurden pauschale Grenzöffnungen für Migranten beschlossen, von denen ein großer Teil nicht mehr als das Merkmal der Entwurzelung mitbrachten. Und man versucht jetzt, aus der Finanznot der europäischen Länder einen europäischen „Wiederaufbau“ zu machen – man will eine „ganz neue “ Gemeinschaft Europas bilden, deren einziges Gemeinschafts-Merkmal die Überschuldung ist. Bei alledem wird deutlich, wohin die negative Dialektik führt, die große Notlagen in große Lösungen verwandeln will. Sie hat nur die Bestände und Grundsicherheiten zerstört, die für jedes größere, dauerhafte Werk der Bürger unentbehrlich ist.  

Die Corona-Krise als Lehrstück  

Die Entwicklung der Corona-Krise zeigt genau diese Tendenz, ein begrenztes Problem ins Grundsätzliche zu wenden. Was zu Beginn ein vertretbarer Nothalt war, ist inzwischen zu einem Dauerzustand geworden, von dem nicht klar ist, wie er jemals wieder in die Normalität zurückgeführt werden kann. Denn es ist zu einer bedeutsamen Erweiterung der Krisendefinition gekommen. Am Anfang ging es um die Bewältigung der schweren Krankheitsverläufe, um Lebensrettung durch Intensivmedizin. Die Epidemie sollte um jeden Preis gedämpft werden, um einen Zusammenbruch des Gesundheitssystems zu vermeiden. Von diesem Zusammenbruch sind wir inzwischen weit entfernt. Wir wissen auch, dass es keinen engen Zusammenhang zwischen Infektionszahl und lebensgefährlichen Krankheitsverläufen gibt. Doch nun wurde die „Infektionslage“ zum Dreh- und Angelpunkt der Corona-Krise erklärt. Schon bei einem Ansteigen der Infektionen wird wieder mit einem „Close down“ bei Betrieben, Schulen, Geschäften, Gaststätten, Kultur- und Sportstätten gedroht. Oder es drohen Auflagen, die ein sinnvolles und wirtschaftliches Arbeiten nicht ermöglichen.  
Politik und Medien bombardieren das Publikum inzwischen täglich mit Infektionszahlen, und erwecken den Eindruck, schon diese Zahlen wären ein Problem auf Leben und Tod. So ist die gesamte Tätigkeit des Landes unter Vorbehalt gestellt, ohne dass irgendein Element sichtbar wäre, das aus der Situation hinausführen könnte. Die Corona-Welle ist zur Dauer-Welle geworden. Für die Menschen ist das Hin und Her zwischen „Lockerung“ und „Schließung“ nicht mehr nachvollziehbar. Nicht nachvollziehbar ist, warum im einen Fall (Öffentliche Verkehrsmittel und Bahnhöfe) enge Massenkontakte zugelassen werden, während sie bei Wirtschafts- und Kultureinrichtungen, bei großen Kultur- und Sportverantaltungen untersagt werden. Die Menschen sehen auch, dass die Regierenden gerne von Ferne großflächige Test-Pflichten verordnen, aber sich im Nahbereich scheuen, die Quarantäne eines Wohnblocks wirklich durchzusetzen. Das alles zusammen schafft kein Vertrauen. Vor allem wird damit jedes längerfristige Engagement der Bürger – Investitionen, Berufswege, Bildungsgänge – entmutigt. Wirtschaft, Infrastrukturen, soziale und kulturellen Einrichtungen zehren von ihrem Kapital, ihren Beständen, ihrer Substanz. Sie bluten allmählich aus.

Wenn die Gesellschaft ihre eigene Existenzgrundlage nicht mehr sieht

Dies Drama findet aber großenteils im Verborgenen statt. Es steht gar nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Obwohl das Ausbluten nun schon fast ein halbes Jahr dauert und mittlerweile eine hohe Zahl von Insolvenzen, Stilllegungen und Arbeitsplatzverlusten droht, ist von dieser Gesamtkrise des Landes gar nicht die Rede. Es wird so getan, als wären wir nur in einer Gesundheitskrise – als hätten wir nur ein virologisch-medizinisches Problem. Alles andere wird nur unter „Kolateralschäden“ verbucht, also unter Nebenwirkungen. Damit aber kann gar keine Abwägung zwischen unterschiedlichen Aufgaben im Lande stattfinden. Die öffentliche Wahrnehmung und Diskussion ist völlig vereinseitigt. Das Virus regiert, und unter seinem Regiment schrumpft Deutschland zu einem Land zusammen, indem alles mit der Gesundheit steht und fällt.
Die Regierenden würden gar keine Notiz davon nehmen, wenn ihre Bürger schon längst pleite wären. Sie haben den Eindruck erweckt, die zunehmende Schieflage von Wirtschaft, öffentlicher Infrastruktur und Kultur, sei gar nicht so alarmierend, sondern würde – nach einer „Übergangs-Finanzierung“ auf Pump – irgendwie schon wieder von selbst ins Lot kommen.
Gewiss kann man nicht von Virologen verlangen, dass sie zugleich Wirtschaftsfachleute sind. Aber man kann verlangen, dass sie sich über den begrenzten Standpunkt ihres Fachs im Klaren sind, und dass sie deshalb die Entwicklungen in fremden Bereichen – wie der Wirtschaft – mit besonderer Aufmerksamkeit zur Kenntnis nehmen. In starken Epochen der Moderne konnte man diesen erweiterten Wahrnehmungshorizont finden, für unsere Gegenwart scheint eher das Gegenteil zu gelten.
Wie konnte es geschehen, dass auf einmal ein ganzes Land nur noch im Modus „Corona-Krise“ tickt? Wie sehr muss sich die Wahrnehmungsfähigkeit einer Gesellschaft verengt haben, wenn sie so schnell unter die Dominanz virologisch-medizinischer Sichtweisen gerät? Wo das geschieht, kann das Gesamtniveau eines modernen Landes nicht mehr gehalten werden.         

Eine geschichtliche Prüfung für die Bundesrepublik

Es geht hier um mehr als um ein Wahrnehmungsproblem. Es geht um den komplexen Gesamtbau von modernen Ländern und um die Institutionen, die diesen Bau sichern. Denn die Grundsicherheit der Bürger, die ihre aktive Rolle und ihr langfristiges Engagement trägt, steht und fällt nicht mit einer Einzelfrage – und sei es eine so gewichtige Frage wie die Gesundheit. Nach einem halben Jahr, in dem sich zahlreiche Länder in einem Ausnahmezustand namens „Corona-Krise“ befinden, ist klar, dass hier eine geschichtliche Prüfung stattfindet: Sind die Gesellschaften in der Lage, das Gesamtniveau ihrer jeweiligen Länder und ihre komplexe Zusammensetzung zu wahren? Oder bekommen wir eine grundlegende Verschiebung der Ordnung, mit neuen, einseitigen Prioritäten des Rechts und neuen Sozialen Gruppenprivilegien? Denn der eigenverantwortlich tätige Bürger wird im Modus „Corona-Krise“ eigentlich gar nicht gebraucht – der Maßnahmen-Staat übernimmt alles Notwendige und steuert alles jeden Tag „auf Sicht“. Vom Bürger wird nur „Zusammenhalten“ (eingehegt mit Distanz und Maske) gebraucht. Und dieser Zustand wird nicht von selbst ein Ende finden – es lassen sich ja immer neue große Bedrohungen für die Gesundheit finden.
Die geschichtliche Prüfung für unser Land besteht also darin, seine bürgerliche Gesamtgrundlage und seine freiheitlich-demokratische Gesamtordnung nicht durch eine Gesundheits-Bedrohung aus den Angeln heben zu lassen. Das ist der Clou des modernen Verfassungsstaates: Er gibt Grundrechten wie der Gewerbe- und Berufsfreiheit, der Freiheit von Wissenschaft, Bildung und Kunst einen so hohen Rang, damit sie nicht wegen dieser oder jener Einzelkrise verdrängt und zerstört werden können. Und für diesen hohen Rang genügt es nicht, dass er nur als Verfassungstext aufgeschrieben wird – die Unteilbarkeit der Verfassung muss in realgeschichtlichen Prüfungen erhärtet werden und dadurch wirklich eine Grundsicherheit der Bürger bilden.

Wenn der Zug plötzlich hält…

Einstweilen scheint Deutschland noch weit davon entfernt, diese geschichtliche Prüfung zu bestehen. Die Menschen sind erst dabei, sich allmählich über den Ernst der Lage klarzuwerden. Unsere Republik gleicht einem Eisenbahnzug, der auf freier Strecke plötzlich zum Halten kommt. Aus dem Zuglautsprecher hören die Reisenden: „Wir haben einen kurzen Halt wegen einer technischen Störung. Es geht gleich weiter.“ Die Reisenden sind beruhigt. Sie kennen das ja aus mancher Erfahrung – es geht wirklich gleich weiter. Auch als die Stimme aus dem Lautsprecher verkündet, dass es „noch ein bisschen länger“ dauert und man „daran arbeitet“, sind die Reisenden noch besonders beunruhigt. Sie horchen kurz auf, beruhigen sich aber wieder. Doch dann zieht sich der Halt immer länger hin. Der Lautsprecher schweigt. Stattdessen hört man jetzt merkwürdige Geräusche im Zug, die Temperatur im Abteil steigt, das Summen der Klimaanlage hat aufgehört. Der Zug liegt auf einmal ganz still da. Dann flackert das Licht und geht kurz darauf ganz aus. Jetzt werden die Reisenden unruhig. Die einen empören sich „Das kann doch nicht wahr sein“, die anderen schimpfen „typisch Bundesbahn“. Andere versuchen Fenster und Türen zu öffnen. Vergebens, denn beides ist blockiert. Allmählich ahnt man: Auf diese Krise ist der Hightech-Zug nicht vorbereitet. Sicherheitsreserven wurden abgeschafft. Auch wenn der Halt eventuell zu Beginn durch ein begrenztes Problem auf der Strecke verursacht war, so ist daraus jetzt eine Systemkrise des Zuges geworden. Und mit plötzlichem Erschrecken stellt man fest: Wir wurden auf alle möglichen Weltgefahren vorbereitet, aber nicht auf diese viel näherliegende Krise.
Das ist die Lage Deutschlands in diesem Herbst 2020. Man verspricht uns, dass eine wirtschaftliche Erholung schon im Gange ist, zumindest schon in Sicht, für 2021, vielleicht wird es auch 2022 werden…

(in leicht veränderter Fassung erschienen am 28.8.2020 in meiner Kolumne bei „Tichys Einblick Online“)