Krisen sind in aller Munde, nur die Krise der Wirtschaft nicht. Dabei ist hier ein Langzeit-Trend zur akuten Gefahr geworden: die Wertschöpfung trägt das Land nicht mehr.   

Produktivität als kostbares Gut

6. Oktober 2020

Es gibt ein auffälliges Missverhältnis zwischen dem täglichen Alarm mit den Corona-Infektionszahlen und dem Mantel des Schweigens, der über die weiter andauernde, schwere Wirtschaftskrise ausgebreitet wird. Diese Krise ist auch gar nicht ursächlich auf den Corona-Komplex zurückzuführen, sondern geht auf Entwicklungen zurück, die schon länger zu beobachten waren. Deutschlands industrielle Vorsprünge (und die damit verbundene Exportstärke) werden schon seit längerer Zeit schwächer. Die Spielräume werden nicht nur enger, weil die weltweite Nachfrage nach deutschen Gütern wegen „Corona“ zurückgegangen ist, sondern auch, weil viele Länder immer mehr Güter selber fertigen können, die sie vorher hierzulande kaufen mussten. Die (fragwürdige) „Überwindung“ der Coronakrise bedeutet also keineswegs eine Überwindung der Wirtschaftskrise. Erst recht kann nicht von einem bevorstehenden „Aufbruch“ die Rede sein.   
Es gibt einen Langzeittrend, der die Wachstumsraten bei der Produktivität hochentwickelter Volkswirtschaften seit mehreren Jahrzehnten sinken lässt. Der Internationale Währungsfonds sieht als Ursache den strukturellen Wandel dieser Volkswirtschaften und die Finanzkrise. Aber auch nach der Finanzkrise setzte sich der Trend fort. In einer Untersuchung aus dem Jahr 2018 schrieb das Kieler Institut für Weltwirtschaft, dass in Deutschland nach anfänglichen hohen Produktivitätsgewinnen durch die Wiedervereinigung eine bis heute andauernde Schwächephase begann. Zwischen 2005 und 2016 war nur eine Produktivitätszunahme von 1 Prozent pro Jahr messbar. Zwischen 2012 und 2015, als die akute Finanzkrise überwunden war, sank diese Zunahme sogar unter 1 Prozent – obwohl beim Bruttosozialprodukt und bei der Erwerbstätigkeit ein stärkeres Wachstum zu verzeichnen war. Hohe Umsätze und starke Beschäftigung besagen also für sich allein nichts über die Fähigkeit einer Volkswirtschaft zur Wertschöpfung.
In einem Bericht in der FAZ vom 12.3.2018 („Warum wächst die Produktivität kaum?“), der sich auf eine Studie der KfW bezieht, finden sich einige Feststellungen, die aufhorchen lassen. Da ist von „Verschiebungen der Beschäftigung hin zu Branchen mit unterdurchschnittlichem Produktivitätsniveau“ die Rede. Ganz generell scheint hier der Trend zu einer immer größeren Rolle der Dienstleistungen von Bedeutung zu sein. „Von 1991 bis 2016 fiel der Beschäftigtenanteil des verarbeitenden Gewerbes von 25 auf 18 Prozent, während der Anteil des Dienstleistungssektor von 45 auf 59 Prozent stieg.“ Dieser Sektor weist nach der KfW-Studie generell niedrigere Produktivitätszuwächse als das verarbeitende Gewerbe auf. In den einzelnen Branchen gibt es seit 2005 einen Mangel an Wachstumsschüben bei der Produktivität. „Sowohl im verarbeitenden Gewerbe als auch im Dienstleistungssektor hätten diese gegenüber den Jahren 1991 bis 2004 nachgelassen“, werden die KfW-Ökonomen zitiert. Während der Fahrzeugbau und die Nahrungsmittelindustrie als produktivitätsdynamisch eingestuft werden, wies der Maschinenbau eher geringe Fortschritte auf. Aufhorchen lässt auch, dass bei den Dienstleistungen nicht nur einfache, gering qualifizierte Tätigkeiten weniger Produktivitätsfortschritte aufwiesen, sondern hier auch „die Unternehmensdienstleister wie Rechts- und Steuerberatungen und Unternehmensberatungen“ aufgeführt werden. Die „höherwertigen“ wissensbasierten Dienstleistungen sind offenbar weniger produktiv als es den Anschein hat.

Die Produktivitätsschwäche der entwickelten Länder

Seit den 1970er Jahren gibt es einen Langzeit-Trend, nach dem die Zuwächse bei der Wertschöpfung je Arbeitsstunde immer geringer werden. Sie wachsen noch, aber dies Wachstum hat sich signifikant abgeschwächt. Das gilt für alle hochentwickelten Wirtschaftsregionen (die USA, Japan, EU). Die folgende Graphik lässt den Trend deutlich erkennen:   

Quelle: Groningen Growth and Development Centre (www.ggdc.net)

Die „Produktivitätskrise“ ist inzwischen zu einem vieldiskutierten Phänomen geworden, ohne schon den ersten Rang in der medialen Aufmerksamkeit erlangt zu haben. Eine Studie von G. Erber, U. Fritsche und P. Harms (2016) gibt einen Überblick. Die Autoren schreiben: „Der Rückgang der Arbeitsproduktivität begann auch bereits sehr frühzeitig Mitte der 1970er Jahre und hat sich, wie auch die Wachstumsschwäche, relativ stetig bis in die jüngste Zeit entwickelt. Bemerkenswert ist, dass die `Große Wirtschafts- und Finanzkrise´ hier keinen wesentlichen positiven oder negativen Einfluss auf diesen Landfristtrend erkennen lässt.“ (Fußnote 1)
Ein Blick auf die Entwicklungen in den USA zeigt, dass auch die Hoffnung, die Digitalisierung würde einen großen Produktivitätsschub bringen, bislang enttäuscht wurde. Ende 2014 und Anfang 2015 ist die Arbeitsproduktivität in den USA, trotz der führenden Stellung bei der Digitalisierung, in zwei aufeinander folgenden Quartalen sogar gesunken. In den drei Jahrzehnten nach dem Krieg stieg die Produktivität in den USA noch um durchschnittlich 2,8 Prozent im Jahr, Nach 1973 halbierte sich die Rate. In den 1990er Jahren und bis 2005 stieg die Produktivität wieder um jährlich 2,5 Prozent. Aber seitdem beobachtet man nur noch geringere Produktivitätssteigerungen und teilweise sogar Rückgänge. Das ist vor allem auch deshalb bedeutsam, weil die sehr hoch gehandelte „digitale Revolution“ offenbar keinen nachhaltigen produktiven Schub entfaltet hat. Jedenfalls keinen Schub, der mit früheren industriellen Revolutionen vergleichbar wäre. Ähnlich sieht es Philip Plickert in einem Artikel in der FAZ vom 30.8.2015 („Die mühsame IT-Revolution“).

Eine Präzisierung

„Produktivität“ wird hier als Verhältnis zwischen den Gesamtarbeitsstunden und dem Bruttoinlandsprodukt eines Landes gemessen. Dabei geht es um Zuwachsraten bei der Produktivität. Produktivitätsschwäche heißt zunächst nicht, dass die Produktivität absolut sinkt. Aber diese Schwäche ist ein Warnzeichen. Sie deutet darauf hin, dass eine Volkswirtschaft unter wachsenden Druck gerät. Wenn Dienstleistungen in stark wachsenden Sektoren wie dem Bildungswesen und Gesundheitswesen nicht zu einer Erhöhung der Gesamt-Wertschöpfung beitragen, so führt die Volkswirtschaft eine zunehmende Last mit sich. Gleiches geschieht, wenn neue Beschäftigung aufgrund von Umweltauflagen geschaffen wird, die aus der Wertschöpfung des produzierenden Gewerbes bezahlt werden muss. Wenn man große „Transformationen“ der Volkswirtschaft mit umfangreichen Stilllegungen von bestehenden Wirtschafts-Aktivitäten vollziehen will, sollte eine stagnierende Wertschöpfung zur Vorsicht und zur Begrenzung der Transformationen führen. Mit einer schwächelnden Produktivität kann man sich keine großen Wirtschafts-Experimente leisten. 

Die Ökologie als neue Wertschöpfung?

Man kann natürlich alle möglichen „Werte“ im Menschen und in der Natur feststellen, aber diese Werte machen die Menschen noch nicht satt. Die Ökologie handelt nicht von einem Reichtum der Natur, der erschlossen und praktisch wirksam ist. Als ökologischer Reichtum mildert er noch nicht die grundlegenden Knappheiten in dieser Welt. Der verfügbare und damit der ölonomische Wert der Dinge beginnt dort, wo diese Knappheiten berücksichtigt werden. Dazu gehört zunächst das elementare Missverhältnis zwischen den Naturgegebenheiten und den Bedürfnissen (die Begrenztheit und Seltenheit), die den Gütern ökonomischen Wert verleiht. Auf einer zweiten Stufe ist es die Anwendung von Arbeit und Kapital (einschließlich Wissen), die die elementare Knappheit mildern kann, durch Entdeckungen, Erschließungen, Herstellungsverfahren. Dies ist die produktive Milderung der Knappheit, die in der modernen Zivilisation ein geschichtlich bisher nie gekanntes Niveau erreicht. Es ist eine täglich vollbrachte und überhaupt nicht selbstverständliche Leistung. Auch ihre Kräfte und Mittel, das Wissen eingeschlossen, sind grundsätzlich begrenzt und damit knapp. Die ökonomische Wertschöpfung hat daher eine moralische Qualität. Sie muss daher nicht erst von außen moralisiert werden. Sie hat schon als solche eine Moral.

Schnelle und langsame Perioden der Moderne

Ein Blick in die Wirtschaftsgeschichte zeigt, dass es hier unterschiedliche Phasen von erheblicher Dauer gibt: expansive Phasen, stagnierende oder sogar rückläufige Phasen. Auch darin kommen die grundlegenden Knappheiten dieser Welt zum Ausdruck. Technologische, wissenschaftliche oder kulturelle Entwicklungen wachsen nicht einfach linear und ihr Wachstum hängt nicht allein vom Willen der Menschen ab. Der Fortschritt kann nicht einfach „gemacht“ werden, wenn die Menschen sich nur ordentlich Mühe geben. Gelegenheiten zum Fortschritt tauchen in ihrem eigenen Rhythmus auf. Dies Auftauchen („Emergenz“) hat seine eigenen Trägheiten und Sprünge. Die Konsequenz ist: Es muss immer konkret geschaut werden, in welchem Szenario man sich in einem gegebenen geschichtlichen Moment befindet. (Fußnote 2)

Die neuen Gesichter des technokratischen Machbarkeitswahns

Wenn man so argumentiert, verabschiedet man sich von all den Patentlösungen, die heutzutage in Umlauf sind: Dass man nur „weltoffen“ sein müsse. Dass man sich nur „neu erfinden“ müsse. Wie auch immer diese Formeln eines Wirtschafts-Konstruktivismus lauten mögen, sie laufen alle darauf hinaus, dass man sich die Welt machen kann, wie sie einem gefällt. Dieser Kurzschluss nimmt schnell eine polemische Wendung: Man fällt über Nationen, die in Schwierigkeiten sind, schnell das Urteil, dass sie „etwas falsch machen“. In diesem Sinn ist man heute in Deutschland gegenüber den USA, aber auch gegenüber manchem südeuropäischen Land (zum Beispiel Spanien) schnell mit dem Urteil zur Stelle, diese Länder könnten leicht ihre Probleme lösen, wenn sie sich nur ordentlich „um ihre Konkurrenzfähigkeit kümmern“.
Oder „in Bildung investieren“, wie eine andere Patentidee lautet, die insbesondere in Deutschland verbreitet ist. Die Internationalisierungsstrategie der Bundesregierung setzt, nach einem Bericht von Heike Schmoll in der FAZ (2.2.2017) europa- und weltweit auf Bildungsinvestitionen. Es könnte sich bald zeigen, dass solche Vorurteile auf unser Land zurückfallen. Auch Deutschland ist der gegenwärtigen Periode langsamen Fortschritts und gefährdeter Produktivität unterworfen.

Produktivität als kostbares Gut

Die deutsche Volkswirtschaft läuft auf eine historische Klemme zu: zwischen hohen Kosten und aufwendigen (Umwelt-)Normen einerseits und der dafür erforderlichen zusätzlichen Wertschöpfung andererseits. Diese Wertschöpfung steht nicht zur Verfügung, weil die nötigen Produktivitätsschübe fehlen. In dieser Lage wäre es verheerend zu glauben, Produktivität sei sowieso nicht mehr so wichtig und gehöre zu irgendeinem veralteten „Wachstumsglauben“. Ganz im Gegenteil: Wenn Produktivität in den Volkswirtschaften unserer Zeit ein knappes Gut geworden ist, wird dies Gut besonders kostbar. Die produktive Basis der Volkswirtschaft muss gehegt und gepflegt werden. Und sie muss von den Lasten befreit werden, die in einem allzu optimistischen Glauben an schnelle Produktivitäts-Fortschritte beschlossen wurden.
Deshalb reichen Steuererleichterungen, wie sie mancherorts gefordert werden, nicht aus. Viel wichtiger ist eine Revision all jener Entscheidungen, die direkt in die produktiven Prozesse eingreifen: durch aufwendige technische Mindeststandards und durch Technologie-Stilllegungen (der Verbrennungsmotor), die schon direkt dabei sind, Herzstücke der deutschen Industrie zerstören. Gewiss gibt es bei der hier dargestellten Produktivitätsschwäche noch manches Fragezeichen. Aber der Fakten-Trend ist eindeutig genug, um das Produktivitätsproblem wieder in den Mittelpunkt der Wirtschaftsdiskussion zu stellen. (Fußnote 3)

Sonst droht Deutschland eine kalte Abwicklung als starke Produktivnation.

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Fußnoten:

1) Georg Erber; Ulrich Fritsche; Patrick Harms (2016), Labor Productivity Slowdown in the Developped Economies – Another Productivity Puzzle? SSRN-Working Paper. Hamburg-Berlin (https: //www.papers.srnn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=2838212); (Kurzform: http://oekonomenstimme.org/artikel/2016/10). 

2) Der ganz eigene Rhythmus technischer und wissenschaftlicher Entdeckungen wird u.a. in den Forschungen von Nikolai D. Kondratjew und Thomas S. Kuhn deutlich. Vgl.: N.D.Kondratjew (1926), die langen Wellen der Konjunktur. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 56, 1926, S. 573-609. T.S.Kuhn (1967), Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt/M.

3) Zwei weitere Literaturhinweise zum Thema: Robert J. Gordon, Is U.S. Economic Growth Over? Faltering Innovation Confronts The Six Deadwinds. National Bureau of Economic Research (NBER), Working Paper 18315. Cambridge Massachusetts. August 2012; Lawrence H. Summers, U.S. Economic Prospects: Secular Stagnation, Hysteresis, and the Zero Lower Bounds. In: Business Economics. Vol. 49(2), pp. 65-73