Um den Neo-Autoritarismus der Gegenwart zu verstehen, passen die alten Begriffe „Diktatur“, „Despotie“ oder „Totalitarismus“ nicht. Die neue Vormundschaft ist breiter angelegt und fixiert die Menschen auf ihre kleineren Interessen.   

Tocquevilles Warnung

7.November 2020

Als der französische politische Philosoph Alexis de Tocqueville in den 1830er Jahren die Vereinigten Staaten von Amerika über mehrere Monate durchreiste, sorgfältig beobachtete und ausführliche Gespräche führte, war er fasziniert von der Größe und Dynamik des jungen Landes, aber er brachte auch einen kritischen Blick auf Grund seiner Erfahrungen mit der französischen Revolution und ihrem jakobinischen Radikalismus mit. Nicht, dass er für eine vollständige Revision dieser Entwicklung eingetreten wäre. Er bekannte sich ausdrücklich zu der demokratischen Erweiterung des politischen Souveräns. Aber trat, aber er versuchte, einige Errungenschaften des alten, aristokratischen Frankreichs für die Gegenwart und Zukunft zu bewahren. Sonst, so Tocqueville drohte eine Fragmentierung der Gesellschaft und eine Reduzierung der Menschen auf ihre nächstliegenden Interessen. Und aus diesen Verhältnisse konnte dann eine neuartige Macht hervorgehen, die sich über die Gesellschaft erhebt, und die vorrangig damit beschäftigt ist, die Menschen zu bevormunden und in ihren engen Horizonten gefangen zu halten. So erklären sich zwei Züge des neuen Autoritarismus: Er ist ein milder „fürsorglicher“, „einbettender“ Autoritarismus. Seine Vormundschaft ist selber in den engen Horizonten befangen. Der neue Autoritarismus ist ein Getriebener der nächstliegenden Interessen. Um es in unserer heutigen Sprache zu sagen: Er „steuert auf Sicht“.

Einige Zitate

Aber lassen wir Tocqueville selber zu Wort kommen. Er hat über seine Amerika-Reise ein Buch geschrieben, das den Titel „Über die Demokratie in Amerika“ trägt und viel mehr ist als ein Reisebericht. Ich zitiere im Folgenden aus der deutschen Ausgabe von 1985, die im Reclam-Verlag Stuttgart erschienen ist (Seite 343 und folgende).   

„Ich bin der Ansicht, die Art der Unterdrückung, die den demokratischen Völkern droht, wird mit nichts, was ihr in der Welt voraufging, zu vergleichen sein…Ich selbst suche vergeblich nach einem Ausdruck, der die Vorstellung genau wiedergibt, die ich mir von ihr mache, und der sie umfasst; die alten Begriffe Despotismus und Tyrannei passen nicht. Die Sache ist neu, und da ich sie nicht benennen kann, muss ich versuchen, sie zu beschreiben.“

„Ich sehe eine unübersehbare Menge ähnlicher und gleicher Menschen, die sich rastlos um sich selbst drehen, um sich kleine und gewöhnliche Freuden zu verschaffen, die ihr Herz ausfüllen. Jeder von ihnen ist ganz auf sich zurückgezogen, dem Schicksal aller anderen gegenüber wie unbeteiligt; seine Kinder und seine besonderen Freunde sind für ihn die ganze Menschheit; was seine übrigen Mitbürger angeht, so ist er zwar bei ihnen, aber er sieht sie nicht; er berührt sie, aber er spürt sie nicht; er lebt nur in sich und für sich selbst; und wenn ihm auch noch eine Familie bleibt, so kann man doch zumindest sagen, ein Vaterland hat er nicht mehr.“

„Über diesen Bürgern erhebt sich eine gewaltige Vormundschaftsgewalt, die es allein übernimmt, ihr Behagen sicherzustellen und über ihr Schicksal zu wachen. Sie ist absolut, ins Einzelne gehend, pünktlich, vorausschauend und milde. Sie würde der väterlichen Gewalt gleichen, hätte sie – wie diese – die Vorbereitung der Menschen auf das Mannesalter zum Ziel; sie sucht aber, im Gegenteil, die Menschen unwiderruflich in der Kindheit festzuhalten. Sie freut sich, wenn es den Bürgern gut geht, vorausgesetzt, dass diese ausschließlich an ihr Wohlergehen denken. Sie arbeitet gern für ihr Glück; aber sie will allein daran arbeiten und allein darüber entscheiden; sie sorgt für ihre Sicherheit, sieht und sichert ihren Bedarf, erleichtert ihre Vergnügungen, führt ihre wichtigsten Geschäfte, leitet ihre gewerblichen Unternehmungen, regelt ihre Erbfolge und teilt ihren Nachlass; könnte sie ihnen nicht vollends die Sorge, zu denken, abnehmen und die Mühe, zu leben?“

„Auf diese Weise macht sie den Gebrauch des freien Willens immer überflüssiger und seltener, beschränkt die Willensbetätigung auf ein immer kleineres Feld und entwöhnt jeden Bürger allmählich der freien Selbstbestimmung.“

„So bereitet der Souverän, nachdem er jeden Einzelnen der Reihe nach in seine gewaltigen Hände genommen und nach Belieben umgestaltet hat, seine Arme über die Gesellschaft als Ganzes; er bedeckt ihre Oberfläche mit einem Netz kleiner, verwickelter, enger und einheitlicher Regeln, das nicht einmal die originellsten Geister und die stärksten Seelen zu durchdringen vermögen, wollen sie die Menge hinter sich lassen; er bricht den Willen nicht, sondern er schwächt, beugt und leitet ihn; er zwingt selten zum Handeln, steht vielmehr ständig dem Handeln im Wege; er zerstört nicht, er hindert die Entstehung; er tyrannisiert nicht, er belästigt, bedrängt, entkräftet, schwächt, verdummt und bringt jede Natur schließlich dahin, dass sie nur noch eine Herde furchtsamer und geschäftiger Tiere ist, deren Hirte die Regierung ist.“

„Ich bin immer der Überzeugung gewesen, dass diese Art einer geregelten, milden, und friedlichen Knechtschaft, die ich eben gezeichnet habe, sich mit einigen der äußeren Formen der Freiheit besser verbinden könnte, als man denkt, und dass es ihr nicht unmöglich wäre, sich sogar im Schatten der Volkssouveränität niederzulassen.“

Fünf Anmerkungen

Mit den folgenden fünf Anmerkungen will ich hier einige Aussagen noch einmal hervorheben; auf andere Aussagen, die ich hier nicht zitiert habe, hinweisen; einige Dinge ergänzen, die aus heutiger Sicht (fast zwei Jahrhunderte später) zusätzlich wichtig erscheinen:

1. Die neue Vormundschaft ist nicht in den alten Begriffen „des Despotismus und der Tyrannei“ zu verstehen. Das macht sie vielleicht weniger brutal, aber nicht weniger gefährlich. Aber man sollte vermeiden, immer wieder die Keule der alten Begriffe zu schwingen. Vor allem muss man verstehen, wie die neue Vormundschaft viel enger mit der Gesellschaft verzahnt ist und ihr nicht einfach fremd gegenübersteht.

2. Wenn von „dem Souverän“ und seinen „gewaltigen Händen“ die Rede ist, sollte das nicht im Sinn von personalen „Herrschern“ verstanden werden. Schon zu Tocquevilles Zeiten und erst recht in unserer Gegenwart liegt die bevormundende Gewalt in vielen Händen, Einrichtungen und Milieus. Insbesondere sollte man an die gehobenen, „gebildeten“, „urbanen“ Mittelschichten denken, die verschiedene Hebel der Vormundschaft haben: als „Wissende“, als „Verwaltende“ (staatliches und privatwirtschaftliches Management, und nicht nur die oberste Etage), als „Influencer“ und „Aktivisten“, als kulturell „Distinguierte“, als an den zentralen Schaltstellen in den Großstädten „Wohnende“, und nicht zuletzt als „Vermittelnde“ in den Medien. Der Neo-Autoritarismus hat sehr viel mit der Zunahme von Dienstleistungen, die mit der Anleitung anderer Menschen und der Steuerung ihres Verhaltens und Denkens zu tun haben, zu tun. Die dienende Funktion wird hier zum Machthebel.

3. Die Vormundschaft ist keine unabwendbare Entwicklung, kein Schicksal. Tocquevilles Buch enthält Passagen und Kapitel, in denen er Gegenkräfte zeigt. Insbesondere deutet er Möglichkeiten an, wie aus den „nächstliegenden Interessen“ weitergehende Horizonte und Interessen erwachsen können – durch die industriellen Unternehmungen und die lokalen bürgerschaftlichen Zusammenschlüsse, die Tocqueville an vielen Orten sieht.        

4. Vor dem Hintergrund heutiger Krisen mit ihrer existenziellen Gefährdung ganzer Industrien und vieler öffentlicher Einrichtungen durch immer belastendere Normen und Kosten ist das Szenario des Neo-Autoritarismus nicht so „milde“, wie Tocqueville es für seine Zeit beschreibt. Insbesondere in jüngster Zeit hat die „vorsorgliche“ Vormundschaft zunehmend einen einengenden, repressiven Charakter bekommen.

5. Man kann hier auch erkennen, worin die Schwachstelle des Neo-Autoritarismus liegt, und wie das Szenario seines Scheiterns aussehen könnte: Er kann die Menschen immer weniger motivieren. Er verwandelt die bürgerliche Gesellschaft immer mehr in eine ermüdete, unwillige Passiv-Gesellschaft. Dabei ist auch der Neo-Autoritarismus auf ein gewisses Aktivitätsniveau der Gesellschaft angewiesen. Bevormundung und billiges Geld schießt keine Tore.

(unveröffentlicht)