Mein Monat – Juli/August 2021

4. September 2021

Die Globalisierung hat einen Krieg verloren. Denn der Krieg in Afghanistan war ein Globalisierungskrieg, der das Schicksal des Landes militärisch, politisch, wirtschaftlich und sozial extrem an globale Entscheidungen gebunden hat. Das war kein begrenzter Militärschlag als Antwort auf die Anschläge des 11. September 2001, sondern eine viel umfassendere Mission. Eine Nation sollte von außen aufgebaut werden („nation building“). Hier sieht man die ganze Vermessenheit, die dem Projekt der Globalisierung zugrunde liegt: Es geht nicht einfach darum, dass es weltweite Beziehungen zwischen den Ländern gibt – das gehört zur Normalität von Außenpolitik und Außenwirtschaft. Nein, findet eine fundamentale Verschiebung der tragenden Kräfte und Strukturen statt. Die Entwicklung Afghanistans sollte nicht mehr vom Willen und Bewusstsein des Landes getragen werden, sondern von einem höheren, globalen Willen und Bewusstsein. Doch hat diese Mission, die über 20 Jahre hin mit einem immensen Einsatz von Menschen, Geld und Material durchgeführt wurde, es nicht geschafft, die Entwicklung Afghanistans auf neue, nachhaltige Grundlagen zu stellen. Insbesondere hat sie es nicht geschafft, nachhaltige Verantwortungs-Strukturen im Land zu schaffen und die inneren Kräfte für eine materiell und geistig selbstverantwortliche Nation zu wecken.
Man darf auch bezweifeln, dass die globalisierenden Akteure überhaupt irgendeine Vorstellung von diesem „Innen“ hatten. Dass dies „Innen“ ihnen wirklich wichtig war. Gehen sie nicht insgeheim davon aus, dass die Unterscheidung zwischen Innen und Außen in der heutigen Welt sowieso wertlos geworden ist? Ist „Nation Building“ da nicht nur ein Werbeslogan von Leuten, die Nationen eigentlich für etwas „von gestern“ halten? Die Ahnungslosigkeit über die Entwicklung der Stimmung im Land, die in dem plötzlichen, katastrophalen Ende der Afghanistan-Mission und dem fluchtartigen Rückzug zum Ausdruck kommt, deutet darauf hin. Die Akteure haben die Zeichen „aus dem Inneren“, die sie ja schon längere Zeit vor Augen hatten, nicht ernst genommen. Ihnen waren diese Zeichen für ihr Handeln im Grunde gleichgültig, und sie vertrauten da lieber auf das äußerliche Funktionieren ihrer Interventions-Routine. Doch dann kam der Realitäts-Schock.


Dies ist ein Realitätsschock für die Globalisierung, der eine Vorahnung davon gibt, wie dies so vielbesungene und so selbstgewisse Großprojekt insgesamt scheitern wird. Es ist das notwendige Scheitern eines im Grunde weltfremden Konstrukts, und in diesem Sinn kann man Erleichterung empfinden, dass es nun allmählich mit ihm zu Ende geht. Aber richtig zum Jubeln ist einem nicht zu Mute. Denn die Opfer sind schrecklich. Die Opfer an Leib und Leben der Menschen, die mit einem Mal völlig schutzlos der Gewalt und dem Elend preisgegeben sind. Und es sind ja nicht nur die Opfer im Umfeld des Kabuler Flughafens, wo sich die sichtbaren Dramen abspielen. Wieviel geschieht im Dunkel, wo keine Kamera hinschaut, wo nicht mal die Namen auf irgendeiner Rettungsliste stehen. Wo es erst in den nächsten Wochen Monaten Vermisste geben wird. Das betrifft die sogenannten „Ortskräfte“, die direkt für die Intervention tätig waren. Aber es betrifft auch eine beträchtliche Zahl von Menschen, insbesondere Frauen, die nach Bildung, Berufstätigkeit und öffentlichem Leben strebten und dafür ihr Schicksal weitgehend mit der Intervention verknüpft haben. Sie alle stürzen jetzt ins Leere, denn es sind ja keine Auffangpositionen da. Die nationalen Strukturen waren, wenn überhaupt vorhanden, nur Überschriften ohne Substanz.
An dieser Stelle zeigt sich, dass die bedrohliche Lage noch viel mehr Menschen betrifft – letztlich die ganze Bevölkerung Afghanistans. Im gesamten Land wird die Lage in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren nicht leichter werden, sondern schwieriger und prekärer. Und das hat nicht nur damit zu tun, dass die Taliban wieder die Macht haben und die internationalen Hilfen sehr viel geringer werden. Nein, in den fundamentalen Daten des Landes ist eine Verschärfung der Situation angelegt. In den letzten Jahren und Jahrzehnten – ist die Relation zwischen Bevölkerungszahl und Tragfähigkeit des Landes immer ungünstiger geworden. Dadurch haben die Bindungslosigkeit und die Zersplitterung der Bevölkerung zugenommen. Die Kombination aus alltäglicher Gewalt und Apathie ist auf dem Vormarsch. Heute sehen wir den Zusammenbruch der militärischen und zivilen Intervention, aber morgen kann es zu einem noch größeren Zusammenbruch kommen, weil auch das Taliban-Regime, trotz aller lokalen Verankerung, der fundamentalen Notlage des Landes nicht gewachsen sind. Man muss sich nur immer wieder die Entwicklung der Bevölkerungszahlen vor Augen führen, um zu verstehen, welche Problematik sich da aufgetürmt hat: Im Jahr 1980, zu Zeiten der russischen Besatzung, betrug die Bevölkerungszahl 13,3 Millionen, 2020 waren es schon 38,9 Millionen. Eine Verdreifachung, in diesem extrem kargen Land! Und für das Jahr 2050 werden 64,7 Millionen prognostiziert. Das Problem liegt also im Innern des Landes. Afghanistan hat eine fundamentale Entwicklungskrise, die tief in die Formen der Familie hineinreicht. Es fehlt auf allen Ebenen an selbstverantwortlichen Einheiten.
Es ist in diesen Tagen in Deutschland und anderen westlichen Ländern viel davon die Rede, dass man Lehren aus dem Scheitern der Afghanistan-Mission ziehen muss. Oft wird gesagt, dass man sich von internationalen Interventionen zum Zweck des Nation-Building verabschieden muss. Aber zugleich wird eine andere Form der grenzüberschreitenden Antwort hochgefahren: der Exodus aus dem Land, die Massenmigration in Richtung „wohlhabender“ Länder. Und wieder ist man nicht in der Lage, diesen Irrweg einen Irrweg zu nennen. Man will die Migrantenströme in der Nähe des Herkunftslandes halten, aber man scheut sich, dem Streben in die wohlhabenden Länder prinzipiell zu widersprechen und entgegenzutreten. Man will das innere Entwicklungsproblem und insbesondere das Bevölkerungsproblem nicht wahrhaben und als ein wirkliches Großthema dieses Jahrhunderts akzeptieren – weil es harte Einschnitte und Grenzen erfordert.
Es wird so viel über angebliche „Klima-Leugner“ und „Corona-Leugner“ schwadroniert. Wäre es nicht viel dringlicher, sich mit den „Bevölkerungs-Leugnern“ zu befassen. Und besser noch: mit den „Entwicklungs-Leugnern“, die nicht wahrhaben wollen, dass Mensch und Natur nicht im Rohzustand zusammenpassen, sondern ein geschichtlicher Aufbau stattfinden muss, der zwischen beiden Seiten vermittelt. Es gibt viele Entwicklungs- und Schwellenländer, die erst im 20. Jahrhundert ihre Unabhängigkeit erkämpft haben. Ein erheblicher Teil hat sich recht gut entwickelt, aber es gibt auch einen Teil, der ziemlich schnell in der Bevölkerungsfalle gelandet ist. Aber statt zu überlegen, wie man da herauskommt, findet gegenwärtig eine Schuld-Debatte über „Rassismus“ und „Kolonialismus“ statt, bei der man sich moralisch aufplustern kann, ohne irgendetwas zu den heutigen Entwicklungsproblemen beizutragen. Ob der Afghanistan-Schock da heilsam wirkt?

Die beiden Beiträge in dieser Ausgabe von „Mein Monat“ sollen dazu anregen.         

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