Schwellenländer haben wesentlich dazu beigetragen, dass ein Großteil der Menschheit heute ein besseres Leben führen kann. Doch ist das Aufkommen dieser Ländergruppe auch mit Risiken verbunden

Im Mittelbau der Welt

Vor ein paar Jahren hätte ein Ereignis wie der Machtwechsel in der Ukraine eine Welle des Optimismus ausgelöst. Die Hoffnung, man könne ein solches Land kurzerhand „nach Europa“ holen, wäre groß gewesen. Für die gesamte Ländergruppe, die man mit dem Begriff „Schwellenländer“ um-fasste, gab es die Vorstellung, sie sei tat-sächlich nur „eine Schwelle“ von Demokratie und Wohlstand entfernt. Doch nun fällt der Sieg auf dem Majdan in eine Zeit, in der uns von diesen Ländern düstere Nach-richten erreichen. Ihre Volkswirtschaften sind in finanzielle Turbulenzen geraten; viele politische Erneuerer haben inzwischen ihre eigenen Korruptionsskandale; im Alltagsleben sind Verbesserungen mit neuen Belastungen und Ungleichheiten verbunden. Doch auf der anderen Seite gilt nach wie vor, dass man die Errungenschaften und die eigene Kraft der Schwellenländer nicht missen möchte. Wenn heute die internationalen Statistiken eine Verringerung der Armut, eine höhere Lebenserwartung und eine Ausbreitung der Schulbildung ausweisen, dann geht das vor allem auf ihren Beitrag zurück. Für die Außenpolitik des Westens öffnet sich ein Zwiespalt: Er darf diese Länder nicht an seinem Maßstab messen und muss sich trotzdem um sie bemühen.

Die Schwellenländer sind eine sehr heterogene Gruppe und haben doch etwas gemeinsam: Sie stehen zwischen den Entwicklungsländern und den entwickelten Ländern. Sie sind stärker und weniger abhängig als die armen Länder, doch bieten sie keinen so leichten Zugang zu Wohl-stand und Stabilität, wie ihn die reichen Länder haben. So ist eine ausgedehnte Zwischenzone entstanden – entgegen allen Unkenrufen, die nur eine stetig wachsende Kluft zwischen Reichen und Armen, zwischen Mächtigen und Ohnmächtigen, zwischen Wissenden und Unwissenden vor-hersahen. Die Realität in dieser mittleren Etage der Welt ist nicht so leicht nach Gut und Böse zu unterteilen, wie man das vom Oberdeck der entwickelten Länder oft tut. Es ist nicht falsch, die Übel beim Namen zu nennen, aber zu einem gerechten Urteil gehört mehr. Die globale Aufregungskultur ist immer schnell mit Wort und Bild zur Stelle, aber ihr fehlt es an Empathie für die materielle und institutionelle Knappheit, die in weiten Teilen der Welt besteht. Sie schweigt zu der Frage, was hier verlangt werden kann. Mit anderen Worten, man braucht ein eigenes Schwellenland-Maß, um diesem Teil der Welt gerecht zu wer-den. Das Fehlen dieses Maßes zeigt sich zum Beispiel auf den internationalen Klimakonferenzen. Sie scheitern, weil sie den Energiehunger der mittleren Ländergruppe nicht ernst nehmen. Ebenso bleibt die Rede vom „Sozialdumping“ solange hohl, wie sie zum Arbeitsplatzhunger der stark gewachsenen, jungen Bevölkerung schweigt.

Und auch bei der politischen Verfassung wäre ein eigenes Schwellenland-Maß angebracht. Tatsache ist, dass in dieser Staaten-gruppe der Zentralismus eine stärkere Rolle spielt. Aber das Bild allmächtiger Allein-herrscher, das große Länder auf „Mubarak“, „Putin“ oder „Erdogan“ reduziert, übersieht etwas Wesentliches. Die Betonung nationaler Symbole (auch die Oppositionsbewegungen führen die Nationalflagge mit) kann sachliche Gründe haben. Denn in Schwellenländern hängen der Wohlstand, die Sicherheit und das Selbst-wertgefühl der Bürger viel stärker an zentralen Gütern, als das in den westlichen Dienstleistungs- und Bürgerbeteiligungs-Demokratien der Fall ist: an einem grobmaschigen Grundnetz  von Straßen, Schulen und Polizeiposten, an einigen großen Mythen und emblematischen Orten. Die politische Landschaft bekommt so etwas Schroffes, aber das muss keine Entmündigung der Bürger bedeuten. Auch in einer solchen Landschaft kann sich eine Öffentlichkeit mit eigenem Willen bilden und Spielräume gewinnen. Für Russland hat in Sotschi mehr stattgefunden als „Putins Spiele“.
Gewiss taugen die Schwellenländer nicht als Utopie für eine bessere Welt. Sie zeigen nur Grundzüge der Moderne, ohne die befriedende Kraft von nachhaltigem Wohl-stand und vollständig ausbalancierten Institutionen. Besonders zwei Gefahren werden gegenwärtig deutlich: Die Gefahr, dass erste wirtschaftliche Erträge und Kapital-zuflüsse sofort wieder dem Wirtschaftsleben entzogen und unproduktiv ausgegeben werden. Und die Neigung der Staatsmacht, die Öffentlichkeit ängstlich zu überwachen und zu bevormunden, statt sie als eigen-ständiges Gegenüber zu respektieren. Bei-des gefährdet die Grundmauern der Moderne – die Trennung von Wirtschaft und Staat und die Trennung von Gesellschaft und Staat. Doch darf man hier optimistisch sein. In den meisten Schwellenländern gibt es heute große Bevölkerungsgruppen mit Interesse an Technik und Wohlstand, mit Wertschätzung für Arbeit und Eigentum. Diese Gruppen sind es längst gewohnt, ihre eigenen Informationsquellen zu benutzen und sich ein eigenes Urteil zu bilden. Auch in islamischen Ländern gibt es inzwischen eine säkulare Kultur, wie die vollen Kinos, Popkonzerte und Fußballstadien zeigen. In der Mitteletage der Welt kann sich in den nächsten Jahrzehnten vieles entwickeln, ohne die Autorität der zentralen Institutionen einzureißen. Es ist Platz genug da. Deshalb sollte man der Verführung wider-stehen, hier auf einseitige Umwälzungen zu setzen. Die Gefahr von tiefen inneren Spaltungen und selbstzerstörerischen Bürger-kriegen ist groß – gerade weil sich in diese Ländern beträchtliche Kräfte entwickelt haben.

Die Schwellenländer brauchen ohne Zweifel Reformen. Doch wer die Agenda der nötigen Reformen einmal konkret betrachtet, stellt fest, dass die hochentwickelten Länder dabei gegenwärtig kaum als Vorbild taugen. In Europa ist die Politik damit beschäftigt, die Loyalität der Bürger mit immer teureren Zuwendungen und Beteiligungsverfahren zu erkaufen. Weder die Eigenverantwortung der Bürger noch die Hoheitsaufgaben des Staates  stehen gegenwärtig hoch in Kurs. Ein Europa, das sich von der Ordnungspolitik verabschiedet, kann den Schwellenländern keine Hilfe und kein Ansporn sein. Es geht dabei nicht nur um einige kurzfristige Maßnahmen. Die Schwellenland-Realität wird das gesamte 21.Jahrhundert begleiten. Es geht um eine epochale Realität, die – frei nach dem Historiker Leopold Ranke – mit ihrem eigenen Maßstab gemessen werden will und nur so politisch eingebunden werden kann.

(Manuskript vom 24.2.2014, erschienen als Essay in der Tageszeitung DIE WELT vom 26.2.2014)