Die Besetzung des Berliner Oranienplatzes wird zu einer Affäre ohne Ende, weil die Politik nur noch Interessengruppen kennt und keine öffentlichen Güter

Respektiert die Stadtplätze!

Der Oranienplatz ist sicher nicht der Zentralplatz von Berlin, aber für den Stadtteil Kreuzberg ist er wichtig. In einem Viertel, in dem es viele soziale Spannungen gibt, die bisweilen gewaltsam explodieren, ist er ein wichtiger Bezugspunkt für die Bürger. Auf diesen Ort können sie trotz aller Unterschiede immer wieder zurückkommen und ganz praktisch sehen, ob ihre Rechte und Freiheiten respektiert werden. Damit ein solcher Ort seine Aufgabe erfüllt, darf er nicht von Einzelpersonen oder bestimmten Gruppen in Beschlag genommen werden. Er  ist nicht „mein“ Platz oder „unser“ Platz, er gehört niemanden und ist niemand besonders zu Diensten. Er muss gewissermaßen eine eigene Respektperson sein. Nein, verneigen muss sich niemand, wenn er den Oranienplatz betritt, aber es gibt doch eine unsichtbare Schwelle, die die Menschen beim Betreten eines gut funktionierenden Platzes ein klein wenig aufmerksamer werden lässt. Ganz ohne gravitätisches oder vorlautes Gehabe können sie einen Respekt erfahren, der im Platz sozusagen eingebaut ist. An diesem Bau sind nicht nur Architekten beteiligt, sondern auch viele kleine Tätigkeiten, die immer wieder erneuert werden müssen. Ohne die tägliche Pflege durch Ladenbesitzer und Gastronomen, durch Müllmänner und Polizeistreifen, durch Anwohner und vorübergehende Nutzer würde der Platz bald seine Wirkung verlieren.

Man kann darüber streiten, ob der Oranienplatz seine Rolle wirklich ausfüllt. Andere Orte, angefangen bei der benachbarten Oranienstraße, sind sicher lebhafter. Aber obwohl der Platz bisweilen recht leer ist, wirkt er doch immer als sichtbares Angebot. Die Bewohner des Viertels registrieren aufmerksam, was dort geschieht. Auch die Stadtplanung hat ihn wiederentdeckt, nachdem man in den 60er- und 70er-Jahren hier noch eine Schnellstraßen-Kreuzung bauen wollte. Mittlerweile knüpft man an die historische Platzgestaltung an, eine Sanierung und Verschönerung wurde 2007 abgeschlossen. Der Oranienplatz figuriert auf der Denkmalliste der Stadt Berlin. Unzählige Male haben Stadtplaner und Bürgerinitiativen erklärt, warum  dies ein starker Bezugspunkt für das Zusammenleben in Kreuzberg ist.

Doch nun scheint das alles nicht mehr zu gelten. Seit anderthalb Jahren ist ein Teil des Platzes besetzt. Er wurde mit Zelten und dann auch mit Bretterbuden zugestellt. Die Rasenfläche ist zerstört, volle Müll-Container und Baumaterialien stehen herum. Wege sind blockiert, die meisten Anwohner und Passanten machen einen Bogen um das Gelände, besonders abends und nachts. Was ist geschehen? Eine Gruppe von Migranten, die zunächst als Demonstranten in die Hauptstadt kamen, nahm den Platz mit Duldung der Behörden in Beschlag. Seitdem wurden mehrere Anläufe unternommen, die Besetzung des Platzes zu beenden. Ohne Erfolg. Die Gruppe stellte sich auf den Standpunkt, sie habe mit ihrer Ankunft einen Rechtstitel auf beliebigen Aufenthalt erworben. Der Platz wurde ihr Unterpfand in einem Verhandlungsspiel, bei dem die Behörden dazu genötigt werden sollten, den Besetzern Asyl, Wohnungen, Arbeitsplätze oder Sozialleistungen zu verschaffen und damit den Abzug zu erkaufen. Das ist eigentlich in einem Rechtsstaat ein Ding der Unmöglichkeit, aber indem führende Kreuzberger und Berliner Politiker sich darauf einließen, bereits angesetzte Räumungstermine durch immer neue Gesprächsrunden zu ersetzen, erweckten sie den Eindruck, dass alles verhandelbar sei. In der vergangenen Woche wurde eine „Einigung“ gemeldet, die wiederum keinen Termin für ein Ende der Besetzung enthält und die keine allgemeine Verbindlichkeit und Rechtskraft enthält.

So unglaublich diese Affäre ohne Ende erscheint, so hat sie doch einen präzisen Grund: Von Anfang an spielte der Oranienplatz als eigenes Rechtsgut, über das weder  Besetzer noch Politiker nach Belieben verfügen können, gar keine Rolle. Auf Seiten der Verantwortlichen ist zwar von den rechtsstaatlichen Verfahren bei der Flüchtlings-Anerkennung die Rede, aber nicht vom rechtsstaatlichen Schutz des Platzes. Als Integrationsort für alle, der für Kreuzberg gerade erst wiederentdeckt und saniert wurde, kommt der Oranienplatz im gegenwärtigen Verhandlungsspiel gar nicht vor. Als Anwohner die Zustände kritisierten, wurde das als irgendeine Privatmeinung verbucht. Es ist ein Zustand eingetreten, in dem man kein öffentliches Recht mehr kennt, sondern nur noch konkurrierende Privatanliegen verschiedener Gruppen – wobei dann die Anliegen, die mit der globalsten Betroffenheit und mit dem aggressivsten Ton auftreten, die Oberhand gewinnen. „Ihr wollt doch nicht, dass Bilder der Gewalt gegen Ausländer von Berlin in alle Welt ausgehen“, hört man es durch die Stadt raunen. Das genügt offenbar, um die Politik zu beeindrucken. Was zählt da noch ein Kreuzberger Platz?

Doch Vorsicht, mitnichten wäre eine Räumung des Oranienplatzes eine Aktion „gegen die Ausländer“. Es wäre auch eine Aktion „für die Ausländer“ – für alle diejenigen Zuwanderer nämlich, die seit vielen Jahren dabei sind, sich im Vielvölker-Stadtteil Kreuzberg eine Existenz aufzubauen und die einen offenen Platz an diesem Brennpunkt brauchen. Für sie ist Integration eine langwierige Arbeit, die nicht im Handstreich als „Integration sofort“ erledigt werden kann. So stoßen in der Berliner Auseinandersetzung nicht etwa „Deutsche“ und „Ausländer“ aufeinander, sondern zwei verschiedene Migrationskulturen: auf der einen Seite eine globale Migration, die nicht nur das eigene Ursprungsland verlassen hat, sondern überhaupt jegliches Land. Sie tut sich schwer mit Bindungen. Auch der Oranienplatz ist für sie nur ein verfügbares Niemandsland. Auf der anderen Seite gibt es eine Migrationskultur, die neue Bindungen sucht. Für sie ist der Platz ein Ort, der zu ihrer neuen Heimat gehört und als solcher bedeutsam ist. Bei der Unterscheidung dieser beiden Migrationskulturen geht es nicht um gute und böse Menschen. Die verschiedenen Verhaltensweisen haben ihre Gründe. Aber sie erfordern unterschiedliche Antworten. Am Fall des Oranienplatzes könnte sich zeigen, wie nachhaltig eine jahrelange erfolgreiche Integrationsarbeit beschädigt wird, wenn der Migration der Entwurzelten an falscher Stelle Konzessionen gemacht werden.