Zu den Grundannahmen der gegenwärtigen Politik gehört, dass das europäische Projekt Offenheit und Freiheit bedeute und jede Alternative demgegenüber nur engherziger sein könne. Doch dies Verhältnis hat sich inzwischen umgekehrt.

 Die Verwandlung der Europäischen Union

 

In den gegenwärtigen Verhandlungen um das Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den USA gibt es eine irritierende Erfahrung: Die beiden Seiten, die zusammen doch eigentlich den Kern des freien Westens bilden, können nicht zusammenfinden. Die Blockaden liegen nicht an einzelnen Problemfällen oder an einer schlechten Verhandlungsführung, sondern sind grundsätzlicher Art. Sie berühren die Identitäten diesseits und jenseits des Atlantiks. Die Unterschiede der Regeln und Normen für Wirtschaftsgüter und Unternehmen erscheinen unüberbrückbar. Dies liegt zum einen an den hohen Mindeststandards, die in den Normen enthalten sind und zu Handelshemmnissen werden. Zum anderen liegt es an einer politisch-ethischen Überhöhung von Normen. Ein Dokument, das diesen neuen Normenfundamentalismus illustriert, ist das Statement, das Peter Friedrich, der baden-württembergische Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten und Mitglied im SPD-Parteivorstand, kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlich hat. Er schreibt dort: „Die Normen und Standards der Europäischen Union sind nicht das Ergebnis von Regelungswut und Bürokratenwolllust. Sie sind in Richtlinien und Verordnungen gegossene Werte. Unsere Werte. Dazu gehören Vorstellungen von richtigem Wirtschaften, von sozialem Ausgleich, von der Würde der Arbeit, von Freiheits- und Schutzrechten, von Demokratie, von Lebensqualität und von der ökologischen Verträglichkeit unserer europäischen Lebensweise.“ Der Beitrag steht unter der auffordernden Überschrift „Europa, exportiere deine Werte!“ und tatsächlich hat sich in der europäischen Verhandlungsführung zu TTIP mehr und mehr ein Kurs durchgesetzt, der ein bestimmtes Werteprofil mit universellem Anspruch zur Grundlage eines Handelsabkommens machen will. Dieser Anspruch ergibt sich fast zwangsläufig, wenn man Normen zu unveräußerlichen Grundwerten eines „Wir in Europa“ überhöht.

Es ist ein unilateraler Anspruch, der dazu führen könnte, dass Produkte oder Vorprodukte aus den USA, die unter Bedingungen hergestellt wurden, die nicht den europäischen Normen entsprechen, mit Einfuhrverboten und Strafzöllen belegt werden. Das könnte zum Beispiel die Erdölgewinnung durch Fracking sein, oder die Herstellung von Gütern unter Niedriglohn-Bedingungen. Nun passt ein solches Vorgehen, das unilaterale Ansprüche durchsetzen will, eigentlich nicht zu einem Handelsabkommen. Dies geht von dem Grundsatz aus, dass Handel in einem Geben und Nehmen besteht, das für beide Seiten unter dem Strich mehr Vorteile bietet als ein Nicht-Austausch. Die Außenhandelstheorie der komparativen Kostenvorteile hat gezeigt, dass ein solcher Vorteil für beide Seiten auch dann entstehen kann, wenn die Partner sehr ungleich in ihren Voraussetzungen und ihrem Entwicklungsstand sind. Dieser Vorteil kann auch zwischen sehr unterschiedlichen politischen Systemen bestehen – in der heutigen Welt zum Beispiel zwischen hochentwickelten Ländern und Schwellenländern. Sollte nun ausgerechnet ein Handelsabkommen zwischen zwei hochentwickelten Partnern scheitern? Tatsache ist, dass sich hier das europäische Projekt – lassen wir das amerikanische Projekt einmal beiseite – weniger offen zeigt, als es vorgibt.

Setzt sich diese Linie durch, so würde Europa strukturell beziehungsunfähig. Und es gibt tatsächlich einen Trend und eine Neigung zum Normenfundamentalismus, der in den vergangenen Jahrzehnten mehr und mehr in der EU die Oberhand gewonnen hat. Dieser Fundamentalismus darf nicht mit der Verteidigung der Menschenrechte verwechselt werden. Vielmehr geht es um sekundäre Normen und Richtlinien, die sogar unterhalb der gesetzlicher Festlegungen liegen (wie die verschiedenen „Ökodesign“-Normen für Staubsauger, Glühbirne, Kaffeemaschinen, etc.), die nun zum unverzichtbaren Teil von Grundwerten und Grundrechten erklärt werden. Diese moralische Vertiefung geschieht auf einer recht prosaischen Unterlage: Die Europäische Union umfasst einen Binnenmarkt beträchtlicher Größe, der das Gewicht von Außenbeziehungen verringert – jedenfalls im Durchschnitt aller Mitgliedsländer, auch wenn im Einzelfall (siehe Deutschland) globale Handelsbeziehungen einen hohen Anteil haben. Dies Gewicht des Binnenhandels in der EU kann dazu verführen, sich vor den Zumutungen eines größeren Weltmarktes abzuschließen und diese neue Enge moralisch zu überhöhen.

 

Der Unterschied zwischen harmonisierenden und fordernden Normen

 

Es gibt Normen wie das „DIN A 4-Blatt“, die ein bestimmtes Maß vereinheitlichen. Dazu gehören alle möglichen Sachverhalte: Schraubengewinde, Gewichtsklassen, Zeitzonen etc. Die Vereinheitlichung ist hier eigentlich unproblematisch, sie bringt allenfalls zu Beginn Umstellungskosten auf ein bisher ungewohntes Einheitsmaß. Aber danach gibt es keine weiteren, ständigen Zusatzbelastungen – weil die Norm einen neutralen, rein formalen Charakter hat. Der Nutzen der Vereinheitlichung liegt in der erweiterten Anschlussfähigkeit, die es ermöglicht, in einem größeren Gebiet mit dem gleichen Produkt ohne besondere Anpassungen zu arbeiten. Das ist anders, wenn es sich um Normen handelt, die einen bestimmten Mindeststandard festlegen, d.h. die eine bestimmte Qualität oder Leistung fordern, um zu einem Markt zugelassen zu werden. Das gilt für Schutzvorrichtungen, stoffliche Zusammensetzungen, gedeckelte Energieverbräuche, Mindestgrößen bei Feldfrüchten oder auch Mindestlöhnen. Auch die sogenannten „Ökodesign“-Richtlinien der EU fallen darunter. Hier kommt es auf Dauer zu erhöhten Kosten. Sie sind bei jedem Produkt aufs Neue zu erbringen. Intervenierende Normen greifen in die Lebensbedingungen von Unternehmen, Haushalten, öffentlichen Einrichtungen und auch ganzen Staaten ein und verändern ihre Bilanz. Sie können unter Umständen zum Ruin von Unternehmen, Branchen, Regionen führen oder sie von Hilfszahlungen (Subventionen) abhängig machen. Sie können also eine Spirale von „Fordern und Fördern“ eröffnen. Auf jeden Fall wirken sie selektiv. Sie „säubern“ den Markt von bestimmten „unzureichenden“ Produkten und auch Akteuren. Eventuell machen sie Produkte auch so teuer, dass sie für einen Teil der Kunden unerschwinglich werden. Es gibt aber auch den Fall – besonders dort, wo es mehrere Qualitätsklassen gibt – wo die Spitzenqualität eines Produktes „verwässert“ wird, weil die besonderen Spitzennormen für die höhere Qualitätsklasse herabgesetzt werden und sich das besonders gute Produkt nicht mehr auszeichnen kann. Das gilt zum Beispiel, wenn die Anforderungen für Schulnoten herabgesetzt werden (Noteninflation) oder wenn Noten ganz abgeschafft werden. Oder wenn die Anforderungen qualifizierter Ausbildungsgänge herabgesetzt werden. Der Vorgang spielt auch eine Rolle, wenn die Anforderungen, um an einem besonders gut ausgestatteten Sozialsystem eines Landes teilhaben zu können, herabgesetzt werden. Bei intervenierenden Normen geschieht also nicht nur eine Vereinheitlichung (wie bei der Legitimation solcher Normen oft fälschlicherweise behauptet wird), sondern eine qualitative Veränderung im Leistungszusammenhang von Wirtschaft, Privatleben und Staat. Es kommt zu Exklusionen und Inklusionen, zu Veränderungen in der Leistungsbilanz, zu Veränderungen im Sozialgefüge. Diese Normen sind also brisant. Sie stellen erhebliche politische Eingriffe dar und geben demjenigen, der über sie entscheiden kann, eine erhebliche Macht über eine Volkswirtschaft und ein Land gibt.

Eine Zeit lang – insbesondere in den 80er und 90er Jahren – sah es so aus, als wäre die Europäische Union vor allem ein Vereinheitlichungsunternehmen. Ihre normative Kraft wirke also im Sinn des ersten Normentyps. Tatsächlich bestand der Schritt vom gemeinsamen Markt zum „einheitlichen Markt“ (mit der sog. „einheitlichen europäischen Akte“) ganz wesentlich aus Harmonisierungsregeln, die den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapitalien und Arbeitskräften erleichtern sollten. Man kann sogar die ursprüngliche Idee der Währungsunion mit dieser Periode der EU-Entwicklung verbinden, wenn man die Stabilitätskriterien tatsächlich nur als Stabilisierung eines einheitlichen Geldmaßes versteht. Auf jeden Fall kann man konstatieren, dass in dieser Zeit die EU als liberales Projekt auftrat: als Projekt eines größeren Raumes, in dem mehr Bewegungsfreiheit herrschte. Gewiss gab es auch Subventionen und regionale Hilfsprogramme, aber diese wurden als flankierende Maßnahmen verstanden.

Doch hat sich hier etwas ganz Grundlegendes geändert: Inzwischen gründet sich die EU ganz wesentlich auf den zweiten Normentyp. Die EU ist mit einem sozialen und ökologischen Upgrading der Marktbedingungen und der Auflagen für die Gesetzgebung der Mitgliedsstaaten beschäftigt. Die „Ökodesign-Richtlinien“ sind ein Beispiel. Die „Thematischen Strategien“ (z.B. Feinstaub-Richtlinie) und die Verbraucherschutzpolitik gehören ebenso dazu wie die Frauenquote greifen qualitativ in das wirtschaftliche und politische Leben ein. Sie sind viel mehr als bloße „Harmonisierungen“ oder „Vereinheitlichungen“. Die Europäische Union des Jahres 2014 ist daher ein ganz anderes Gebilde als die Union des Jahres 1989. Sie hat eine andere Dynamik. Sie hat die Farbe gewechselt. Diese Veränderung erfolgte jedoch nicht explizit durch die legislativen Institutionen in Europa (die Parlamente der Mitgliedsstaaten), sondern hinter ihrem Rücken: als fast unmerkliche Verschiebung durch einzelne administrative Verordnungen und durch Einzelurteile in Gerichtsverfahren mit EU-weitem Geltungsanspruch.

 

Machtzuwachs ohne Gesetzesbindung: EU-Kommission und Europäischer Gerichtshof

 

Der zweite Band von Dieter Grimms „Die Zukunft der Verfassung“  (erschienen 2012 im Suhrkamp-Verlag) ist ein interessantes Buch. Grimm, der von 1987 bis 1999 Richter am ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts war, beobachtet einen „Prozess der Entstaatlichung“, bei der eine Loslösung des Verfassungsrechts von seiner staatlichen Bezogenheit eine wesentliche Rolle spielt. Als neue Referenzen schieben sich „die Gesellschaft“ und auch „Europa“ (und andere übernationale Organisationsformen) in den Vordergrund. Vor allem die Rolle der EU-Kommission und des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) sieht der Autor kritisch: „Die Verstaatlichung der EU ist keine bloß theoretische Möglichkeit. Viele können sich die Vollendung der Europäischen Integration nur in Form eines europäischen Bundesstaats vorstellen und richten daran auch ihre Reformüberlegungen für die Institutionen aus. Noch wichtiger erscheint aber, dass entscheidende Veränderungen des Integrationsprogramms nicht durch Vertragsänderungen, sondern durch die Auslegung und Anwendung der Verträge durch Kommission und EuGH, also … auf administrativen und judikativen Pfaden erfolgt sind“ (S. 174). Die europäischen Verträge seien durch die Rechtsprechung des EuGH „konstitutionalisiert“ worden, d.h. in Verfassungsrang gehoben worden. Hier sei ein Rechtsraum entstanden, der durch den Gesetzgeber (in Gestalt der Mitgliedsstaaten) nicht mehr verändert werden kann, während der EU-Kommission und dem EuGH auf dem Wege der Interpretation und Umsetzung eine umfassende Gestaltungsmacht zuwachse.

Damit wird eine ganz andere Kritik geübt als in der verbreiteten Klage über ein Defizit an Demokratie und Bürgerbeteiligung in Europa. Es wird konstatiert, dass die Europäische Union in einem außergesetzlichen Modus unterwegs ist. Es hat eine Ausschaltung der Legislative im europäischen Politiksystem in dem Sinn stattgefunden, dass Normen gar nicht auf dem Qualitätsniveau von Gesetzen entworfen, in ihren Folgen beraten und dann verabschiedet werden. Stattdessen kommen Normen mit teilweise erheblichen Folgen im harmlosen Gewand eines Behördenerlasses in Umlauf. Zugleich geschieht in einer so großen Zahl, dass niemand die Übersicht hat und weder Wechselwirkungen noch Gesamtwirkungen der Richtlinien beurteilt werden können. Während dieser wuchernde administrative Politikbetrieb die Legislative gewissermaßen „unterwandert“, wird die Gesetzgebung zugleich von einer Instanz ausgehebelt, die für sich einen höheren Standpunkt und eine höhere Urteilskraft beansprucht: vom Europäischen Gerichtshof. Die Rechtsprechung des EuGH beruht auf Interpretation von allgemeinen Prinzipien, die durch Gesetze weder geleitet noch eingehegt sind. Sie bewegen sich in einem staatsfreien Raum und müssen keine Rücksicht auf die Restriktionen nehmen, die jedes auf ein reales Land bezogene Staatswesen beachten muss. Dass in einem solchen Raum alle möglichen – weltanschaulichen – Positionen unkontrolliert ins Kraut schießen, liegt auf der Hand.

Das Buch von Dieter Grimm hat den großen Vorzug, dass sie diesen wuchernden Politikbetrieb mit den klassischen Maßstäben des Rechtsstaats bewertet. Es ist eine Fundgrube für all diejenigen, die sich nicht mit der Behauptung zufriedengeben wollen, die Europäische Union sei eben ein Gebilde „sui generis“, das mit den Maßstäben der res publica nicht zu fassen sei. Vor allem zeigt das Buch auch eine erhebliche institutionelle Wandlung der EU. Sie ist institutionell ein ganz anderes Gebilde als sie es noch Anfang der 90er Jahre war.

Wenn man nun schaut, welche politischen Trends und Neigungen der Autor durch diese Verschiebung begünstigt sieht, gibt es allerdings eine Überraschung. Denn Grimm vertritt die These, dass die Vormachtstellung von Exekutive und Judikative „zu einem faktischen Übergewicht für Liberalisierungsbestrebungen“ führe. Er behauptet, dass die Umsetzungs- und Interpretationswillkür von EU-Kommission und EuGH in Richtung einer Deregulierung wirken, die alle sozialpolitischen Errungenschaften der Mitgliedsstaaten aufzulösen droht. Damit wird der oben beschriebene Trend zu intervenierenden Normen ignoriert. Die EU-Kommission und der Europäischem Gerichtshof haben seit Ende der 90er Jahre nicht, wie Grimm schreibt, nur die „negative“ Integration gesteigert (durch immer weitergehende Schleifung nationaler Gesetze), sondern sie haben eine Fülle von „positiven“ (d.h. soziale und ökologische Auflagen und Belastungen steigernden) Richtlinien und Urteilen hervorgebracht. Gerade dadurch bekommt die Macht, die das EU-Politiksystem fernab von jeder Legislative ausübt, ihren omnipräsenten und besitzergreifenden Charakter. Dass diese Wendung der Dinge erfolgt ist, ist auch viel logischer als Grimms Erwartung, dass Bürokratien und Gerichte sich mit der Rolle von Adjutanten der Liberalisierung begnügen würden.

Dennoch ist dieser Fehlschluss als Zeitdokument lehrreich. Denn er erinnert uns an eine Zeit, in der man ganz fraglos annehmen konnte, dass der größere Raum der Europäischen Union zu einer Öffnung und Liberalisierung führen würde. An eine Zeit, in der gerade liberale Geister einen ganz natürlichen Hang zu der Devise „mehr Europa!“ hatten. Ja, das war einmal die europäische Idee. Vor diesem Hintergrund wird umso deutlicher, welche Wendung die europäischen Dinge genommen haben. Die Idee „Europa“ wird heute nicht mit Freizügigkeit und Beweglichkeit verbunden, sondern mit einer ungebändigten, ausfransenden Zentralmacht, deren Druck man in vielen Ländern fürchtet.[1]

 

Der Nationalstaat wird zum Freiheitsthema

 

Mit dem Farbwechsel der Europäischen Union wird verständlicher, welcher Wechsel gegenwärtig in Konstellation der politischen Kräfte vor sich geht. Auf der einen Seite stehen die liberalen Parteien, die ursprünglich die EU in besonderer Weise als „ihr“ Projekt ansahen und auch tatsächlich ansehen konnten, nun im Regen. Der Euroliberalismus findet in der realen EU kaum noch Anknüpfungspunkte, aber er mag sich nicht eingestehen, dass die EU kein liberales Projekt mehr ist. So wird er zur hohlen Beschwörung eines großen Ganzen, während dies Ganze täglich mit neuen Auflagen und Hemmnissen zugestellt wird. Doch zugleich mit der Krise der Liberalen ist ein neuer Platz in der politischen Konstellation entstanden, der ausgefüllt werden will. Es ist wichtig, diesen Platz zu beschreiben, bevor man ein Urteil über jene neuen, angeblich „europaskeptischen“ Parteien fällt, die jetzt starken Zulauf erleben. Das Aufkommen dieser Parteien liegt nicht daran, dass die Menschen mit einem Schlage wieder von einem nationalistischen Ressentiment befallen wären. Es ist vielmehr eine Antwort auf die fundamentale Änderung, die das europäische Projekt erfahren hat.

Hilft also eine Rückkehr zu der älteren, liberalen Marschrichtung – zum Beispiel bei den EU-Normen? Das ist sicher ein wichtiges politisches Anliegen, aber es ist nicht das einzige Anliegen, das nach einer politischen Vertretung verlangt. Die neue EU mit ihren omnipräsenten Richtlinien und verdeckten Mächten belastet nicht nur die Freizügigkeit der Menschen, sondern sie löst auch die verantwortlichen Einheiten auf. Sie schwächt den Verantwortungszusammenhang der Mitgliedsstaaten ebenso wie den Zusammenhang der Unternehmen und der privaten, familiären Lebensführung. Deshalb ist die Frage und Suche nach eindeutigen, starken und verantwortungsfähigen „Grundeinheiten“ in Europa überall herauszuhören. Sie steht beim Aufkommen neuer politischer Kräfte ebenso Pate wie der Unwillen über kleinliche Bevormundungen und teure Vorschriften. Deshalb ist die Kampagne, die gegenwärtig gegen den „Rechtspopulismus“ gemacht wird, nicht nur falsch, weil sie Menschen voreilig in eine totalitäre Ecke stellt. Sondern sie ist verheerend, weil sie das wichtige Anliegen der verantwortlichen Einheiten in ein rechtsradikales Licht stellt und damit ein wichtiges Tor zur Zukunft verstellt.

Es gibt also tatsächlich ein eigenständiges konstruktives Anliegen, das in den Erwägungen und Erwartungen der sogenannten Europaparteien nicht vorkommt. Der Platz für eine neuartige politische Kraft, die nicht nur als Protestpartei fungiert, ist da. Es ist deshalb gar nicht so sehr die Frage, ob zum Beispiel in Deutschland die AfD diesen Platz schon ausfüllt. Wichtig ist, ihn überhaupt offen zu halten und diese Möglichkeit einer Alternative nicht schon im Ansatz tabuisieren zu lassen.

 

Gerd Held, 15.10.2014, unveröffentlichtes Manuskript

 

 



[1] Dieter Grimm gehört sicher nicht zu denen, die diese Macht hinzunehmen bereit sind. Seine Sorge gilt dem Fehlen einer institutionellen Einhegung, wie sein Beitrag in der FAZ vom 11.8.2014 zeigt, der unter der Überschrift steht: „Die Stärke der EU liegt in einer klugen Begrenzung“.